Von Karl Kieser

Mitten in ihrer Pubertät hat es begonnen. 

Unmittelbar nachdem ein kleines Brüderchen als Nachzügler geboren wurde, hat sie plötzlich für die Mutter eine starke Bedrohung gefühlt.
Am nächsten Tag ist die Mutter tot. Fruchtwasserembolie, sagen die Ärzte.

Der Vater ist verzweifelt und verstört.
Natürlich kann sie ihm nicht auch noch mit ihrer Vorahnung in den Ohren liegen. Dieses starke Gefühl einer Gefahr, die aber eine andere Person betrifft, war ihr völlig fremd und hatte sie erschreckt. Irgendwann in der Nacht war es plötzlich weg, als hätte sie es nie empfunden.
War es ein Zufall, dass die Mutter tatsächlich in dieser Nacht starb? Hätte sie aufgrund dieser Vorahnung etwas unternehmen müssen? Ist der Tod der Mutter ihre Schuld.
Sie kann mit niemandem darüber reden. 

Ohne zu murren, übernimmt sie einen Großteil der Verantwortung für den Haushalt, dem nun die Mutter fehlt. Auch der kleine Bruder braucht viel Zuwendung. Er kränkelt und entwickelt sich nur langsam. Der Vater versucht verzweifelt, seiner Rolle als Familienoberhaupt gerecht zu werden, ist aber wegen der anhaltenden Trauer um den Verlust der geliebten Gattin oft genug keine Hilfe.
Aus heiterem Himmel überfällt sie eines Tages wieder dieses Gefühl einer großen Gefahr. Diesmal für den kleinen Bruder.
Sie ist sich unsicher, ob sie diesem Gefühl trauen kann. Mit allem, was sie für den Kleinen tut, ist sie nun besonders kritisch. Sie will auf keinen Fall Fehler machen, nicht für ein neues Unglück verantwortlich sein. Doch alle Sorgfalt, mit der sie ihren Pflichten nachkommt, ändert nichts. Das Gefühl der Bedrohung wird übermächtig.
In ihrer Not wendet sie sich schließlich doch an den Vater, obwohl der gerade in Gesellschaft einer Schnapsflasche am Küchentisch vor sich hinbrütet.

Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn der Vater die Bedrängnis seiner Tochter erkannt hätte. Wenn er sich ihr liebevoll zugewendet hätte, oder sogar vorsorglich den Arzt geholt hätte.
In seiner Stimmung, die geprägt ist von Selbstmitleid und Verzweiflung über seine Situation, gelingt ihm das nicht. Seine brüske Ablehnung lässt sie betroffen mit ihren Befürchtungen allein.
Am nächsten Morgen ist der kleine Bruder tot. Plötzlicher Kindstod, lautet die Diagnose.

Der Vater hat nie mit ihr über den Abend vor diesem neuerlichen Unglück gesprochen. Sie hat bald das Gefühl, dass ihre Vorahnungen einer tödlichen Bedrohung etwas von einer schicksalhaften Unabwendbarkeit haben, die sie zwar erfühlen, aber nicht beeinflussen kann. Das ist bitter, aber auch tröstlich. Sie fühlt sich nicht mehr verantwortlich.
Vorsichtige Fragen bei ihren Freundinnen bestätigen, was sie schon befürchtet hat. Mit diesen intensiven Vorahnungen ist sie allein.
Um sich nicht zur Außenseiterin zu machen, schweigt sie darüber zu jedermann. Es belastet sie sehr, wenn dieses Gefühl sie überfällt. Sie ist dann jedes Mal ganz krank vor Sorge, denn sie weiß ja wen das Schicksal bedroht und fühlt sich doch so hilflos. 

Besonders belastend ist es, weil es immer nur nahestehende Personen betrifft.
Den Schlaganfall des Opas, den Unfall der besten Freundin, den tödlichen Sturz des Vaters vom Gerüst, sie hat die Gefahr vorausgefühlt. Immer handelt es sich um plötzliche Ereignisse. Sie sind nicht in allen Fällen tödlich, aber nur Stunden später eintreffend. Es ist immer dasselbe: ein intensives Gefühl der Bedrohung für eine nahestehende Person. Dabei ahnt sie nichts über die Art der Bedrohung, nichts über den Verlauf des Unglücks. Und noch etwas ist immer gleich: das Angstgefühl verschwindet irgendwann schlagartig. Dann weiß sie, jetzt ist es passiert.
Inzwischen hat sie gelernt, damit zu leben. 

Erst nachdem sie ihren späteren Mann kennenlernt, wagt sie es, in einem schwachen Moment, darüber zu reden.
Der junge Mann will sich in seiner Verliebtheit aber nicht mit solch tiefgreifenden Problemen auseinandersetzen. Er hat ganz andere Dinge im Kopf. Das Thema ist ihm unangenehm, verstörend. Er will seiner Liebsten gegenüber aber auch mit weltmännischem Verständnis glänzen und beruhigt sie mit folgender Geschichte:

„Ich glaube, das ist ganz natürlich, Liebling. Mir ist so etwas Ähnliches auch schon passiert. Ich denke zum Beispiel an einen Freund, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe. Wenn der mir dann kurz darauf tatsächlich über den Weg läuft, bin ich auch schon auf den Gedanken gekommen, eine Vorahnung gehabt zu haben. Aber das ist reiner Zufall. Wenn ich den Freund nicht zufällig getroffen hätte, dann hätte ich nach einer Weile auch vergessen, überhaupt an ihn gedacht zu haben. Nur weil die beiden Ereignisse zufällig kurz nacheinander passieren, treten sie aus dem Alltagsgeschehen heraus und man ist geneigt, dem eine tiefere Bedeutung zu geben.“

Dass er damit den Kern des Problems nicht getroffen hat, hat ihm immerhin eingeleuchtet. Seine folgende Erklärung hat sie aber auch nicht wirklich überzeugt.

„Sieh mal, Liebling. Deine seherische Gabe kann doch eigentlich nur ein Gottesgeschenk sein. Ein Geschenk, das du auch für das Wohlergehen unserer Familie nutzen kannst.“

Mit der Geburt ihrer eigenen Tochter scheint alles vorbei zu sein. Es folgen viele ruhige Jahre, in denen sie beinahe ihre Gabe, das Geschenk Gottes, vergisst. In der Familie ist das jedenfalls kein Thema. Der Göttergatte zeigt ohnehin wenig Verständnis für ihre „Spökenkiekerei“.

Die Tochter heiratet nach erfolgreichem Studienabschluss als Bauingenieurin.  Sie folgt ihrem Mann in die gebirgige Alpenregion, 150 Kilometer weit weg. Das junge Paar hat handfeste Pläne. Sie setzen alles daran, ihren Traum vom eigenen Haus wahr werden zu lassen. Einige Jahre wird jeder Urlaub dem großen Ziel geopfert.
Endlich ist es so weit. Das neue Haus wird zum Heim für die jungen Leute. Die Panoramaaussicht ist einfach grandios. Die unverbaubare Lage gestattet einen wunderbaren Blick über das Tal. Alle sind glücklich.

Jetzt soll dieses Kapitel mit einem erholsamen Urlaub für das junge Paar  abgeschlossen werden. Sie hat das selbst als ein Geschenk für die Tochter angeregt. 

In der Nacht vor deren Reise wird sie von einem Albtraum wach. Das Gefühl der Bedrohung ist wieder da. Erschreckend, nach so vielen Jahren der Ruhe. Die Bedrohung betrifft ihre Tochter. Auch der Albtraum hatte etwas mit der Tochter zu tun. Soll sie die Bedrohung ernst nehmen? Ist diese Empfindung vielleicht nur der Nachklang des Albtraumes?
Sie kann nicht mehr schlafen.
Wie oft hat sie befürchtet, dass dieses verhasste Gefühl ihre eigene, unmittelbare Familie betreffen könnte. Jetzt ist es so weit.

Darf sie die Augen davor verschließen? Hoffen auf einen Irrtum? Einfach abwarten?

Nein! Diesmal nicht! Es geht um ihr einziges Kind. Diesmal muss sie etwas unternehmen. Ja, diesmal wird sie kämpfen um das Glück ihrer Familie.
Das Gefühl der Bedrohung wird immer drängender. Das kann nur etwas mit dem bevorstehenden Urlaub zu tun haben. Sie muss diese Reise unter allen Umständen verhindern.
Anrufen? Es ist mitten in der Nacht. Wenn der Schwiegersohn an den Apparat kommt, wird er sie für verrückt halten. Und die Tochter? Sie weiß nichts von dem  „Geschenk Gottes“ an ihre Mutter. Und selbst wenn, würde sie, mit ihrem nüchternen Realismus, nur darüber lächeln.
Sollte sie ihren Mann wecken, der ruhig neben ihr schläft? Auf gar keinen Fall! Der würde sie nur bremsen, ihr gar verbieten, sich einzumischen. Ja, er würde zweifellos versuchen, sie auch mit Gewalt zurückzuhalten.
Wenn sie die Reise und damit das Unglück verhindern will, dann geht das nur persönlich, durch eindringliche Überzeugung. Zur Not wird sie flehen und betteln.

Es hält sie nicht mehr im Bett. Vorsichtig, um ihren Mann nicht zu wecken, steht sie auf, schnappt sich ihre Kleider. In der Küche zieht sie sich hastig an. Sie wird immer unruhiger. Sie muss sich zwingen, wenigstens eine kurze Nachricht auf dem Küchentisch zu hinterlassen. Hoffentlich kommt sie noch rechtzeitig. Die beiden wollen in den frühen Morgenstunden aufbrechen. Von den 150 Kilometern kann sie nur etwa 100 Kilometer auf der Autobahn zurücklegen. Der Rest ist kurvenreiche Landstraße.

Heimlich schleicht sie sich aus dem Haus. Das Garagentor quietscht. Viel zu laut in der nächtlichen Stille. Aber jetzt wird sie sich nicht mehr aufhalten lassen.
Schon bald ist sie auf der Autobahn. 160 Stundenkilometer. So schnell war sie noch nie. Der nächtliche Verkehr ist noch spärlich, lässt dieses Tempo auch zu. Ihr Puls rast. Die Sorge, nicht mehr rechtzeitig zu kommen, macht sie fast wahnsinnig. Dann die Landstraße. Zuerst kurvenreich. Viele kleine Ortschaften. Das kostet Zeit. Zeit die sie nicht hat. Schließlich der lange Aufstieg. Die Serpentine.
Der Druck der Bedrohung wird unerträglich. Panik und Entsetzen treiben sie voran. In jeder Kurve quietschen die Reifen. Sie ist viel zu schnell.
Da, der blaue Kombi auf Gegenkurs. Der Fahrer will ausweichen.
Der Kombi schleudert, durchbricht die Leitplanke, stürzt in die Tiefe. 

Nach der dumpfen Detonation überfällt sie namenloses Grauen, denn der teuflische Druck ihrer Vorahnung ist jäh verschwunden. 

V3