Von Michael Kothe

Er wickelt den Riemen fester um den linken Unterarm und drückt den Arm durch. Gleichzeitig winkelt er den anderen Arm ein wenig an und lockert den Griff der rechten Hand. So wäre der Rückschlag weniger hart. Das ist eine der wenigen Anweisungen, die ihm von seinem Crashkurs im Gedächtnis haftengeblieben sind.

Weil er noch nie gesehen hat, was sie bedroht, nimmt er seine Aufgabe über die Maßen ernst. Von der verantwortungsvollen Durchführung der Wache hängt nicht nur sein Leben ab, sondern auch das seiner Kameraden. Zumindest erzählen sie mir das. Synchron mit dem Stakkato eines hektischen, zuweilen panisch stolpernden Pulses hämmern angsterfüllte Gedanken von innen schmerzhaft gegen seine Schädeldecke. Warum bleiben wir dann nicht einfach im Gebäude? Das ist schließlich eine regelrechte Festung.

Seine Fantasie will nicht nur das Nebulöse durchdringen, von dem ihm seit seiner Ankunft alle erzählen. Meist blieb es bei Andeutungen einer Gefahr. Einzig, dass sie plötzlich aufgetreten und dass sie unerforscht sei, ist eine verlässliche Erkenntnis. Auch diesen realen, greifbar dichten Nebel um ihn herum, der auf kürzeste Entfernung jeden Laut und jeden Blick aufsaugt, als hätte sie nie jemand ausgesandt, müht er sich zu durchdringen. Verbissen versucht er, sich vorzustellen, was darin lauert, denn die optische Hochtechnologie in seinem Helm hilft ihm nicht, auch nur ein einziges Zoll weiter zu blicken als mit bloßem Auge. Obwohl das Lager unmittelbar hinter seinem Rücken liegt und sein Durchmesser keine fünfzehn Schritte misst, scheint es unendlich groß und unendlich fern. Von seinen Kameraden kann er nur einen einzigen sehen, und von diesem auch nur die Stiefel und ein wenig von der Tarnfleckfärbung seines Kampfanzugs.

Er schüttelt sich. Teils vor Kälte und der alles durchdringenden Feuchtigkeit, die salzig schmeckt und modrig riecht. Teils und besonders vor Furcht. Wann kommt es? Kommt es überhaupt? Wen trifft es diesmal? Vor allem: Was zur Hölle ist es? Er weiß, dass sein Kamerad am anderen Ende des Lagers sich die gleichen Sorgen macht, aber das hellt seine Stimmung kein bisschen auf. Sein einziger Trost ist, dass nicht immer diejenigen die ersten Opfer würden, die gerade Wache stünden. Dann bliebe ihnen Zeit für eine schwache, vielleicht dennoch erfolgreiche Gegenwehr. So hatte er gehört. Jedoch hatte er nie jemanden getroffen, der sich erfolgreich verteidigt hätte. Trotz seiner Konzentration auf das Unsichtbare da draußen vor der hüfthohen Mauer reisen seine Gedanken zurück in die jüngste Vergangenheit. Als ob das seine Angst vertreiben könnte!

 

Gleich nach seiner Ankunft sah er sich wie alle Passagiere an der Gepäckausgabe im Flughafengebäude von Militär umstellt, hatte sich aber noch nichts dabei gedacht. Erst, als die Soldaten den Ausgang verwehrten und sie unterschiedlichen Gruppen zuwiesen, wurde ihm mulmig.

»Die beiden Jüngeren hierher! Kampftruppe. Die Frau da und der Alte im Parka zum Service! Was ist Ihr Beruf? Fernfahrer. Ok, Logistik, dort rüber …«

Erst, nachdem alle aufgeteilt und einige nach einer knappen Befragung umverteilt waren, führten die Uniformierten sie hinaus. Er wunderte sich, weshalb sie nur nach Alter und Beruf unterschieden wurden. Mittlerweile hatte er es gelernt: Wer keine systemrelevante Berufserfahrung vorweisen konnte, kam in die Kampftruppe. »Kanonenfutter«, hatte sein Sergeant gebrüllt, als einer die Frage gewagt hatte, wozu sie denn hier dienen sollten. Nach einer Stunde fuhren die LKW mit ihnen durch einen Tunnel in eine hohe, massiv aussehende Mauer ein. Das innere Tor wurde erst geöffnet, nachdem das äußere sich geschlossen hatte. In den Tunnelwänden erspähte er beleuchtete Schlitze. Schießscharten? Und die Schatten, die sich dahinter bewegen, stammen von bewaffneten Wachen? Im Innenhof wurde er zusammen mit den anderen Männern und Frauen beinahe jeden Alters von der vergitterten Ladefläche zu einem klobigen Gebäude geführt. Einkleidung und zwei Wochen Drill erwarteten ihn, bevor man ihn und seine Gruppe nun hierher karrte und hinter die niedrige Mauer ins Niemandsland verbannte.

 

Er zuckt zusammen, als er den Luftzug spürt und sich der Nebel vor ihm in Wirbeln teilt. Das Zucken ist der einzige Reflex, den er sich zugesteht. Er hält sich stocksteif. Dieses Geschöpf will er durch keine Bewegung reizen, es seine Angst nicht riechen lassen. Schwarzes Chitin glänzt, ein Kopf, groß wie sein Oberkörper, schält sich aus dem undurchdringlichen Weiß und senkt sich zu ihm auf Augenhöhe herab, berührt beinah seine Stirn. Ein zackenbewehrtes Maul öffnet sich, warmer Atem hüllt ihn ein, er riecht süß-säuerlich. Verwesung? Verdauung? Für weitere Überlegungen gönnt er sich keine Zeit. Unwillkürlich hebt er das Gewehr, die Mündung zeigt schräg nach oben, sein Finger gleitet zum Abzug. Hat er entsichert? Falls nicht – ausbügeln kann er seinen Fehler nicht mehr. Falls doch – werden die Explosivgeschosse diesen Chitinpanzer durchschlagen oder prallen sie zurück und zerreißen ihn?

Aggressives Grollen lässt ihn innehalten und zerrt ihn in die unwirklich anmutende Realität zurück. Seine Todesangst ebbt ab, als er die Laute nun versteht. Trotzdem kostet es ihn unermessliche Überwindung zu akzeptieren, allem gegenteiligen Anschein zum Trotz einen Verbündeten vor sich zu sehen, einen eingeborenen Scout.

»Wie viele? Aus welcher Richtung?« Der Sprachmodulator, der vor seinem Mund im Helm integriert ist, verwandelt seine gestammelten Fragen in dieses Grummeln, das das Alien seinerseits hört und darauf antwortet.

»Nur zwei. Aber die sind gleich hier.«

Einen einzigen Sprung nur benötigt die Kreatur, um über das Lager hinwegzusetzen. Ihr Schwanz zerschlägt den Wall auf der anderen Seite. Im Nu ist die Gruppe wach.

Auch er, der eben noch mit dem Kundschafter gesprochen hat, dreht sich nach ihm um, nimmt aber nur noch die wirbelnden Schwaden wahr, die sich hinter diesem schwarzen, wie polierten Monstrum vereinen. Erleichtert über das Verschwinden dieser Furcht einflößenden Bestie schließt er einen Moment lang die Augen und saugt gierig die feuchte Luft in seine Lungen, bevor er den Alarmruf ausstößt.

Er nimmt seine Wache wieder auf und wendet sich nach vorn. Erneut stockt ihm der Atem. Zu keiner anderen Bewegung fähig, als den Kopf in den Nacken zu werfen, verliert er das Gleichgewicht und fällt zurück, bis er mit nach hinten überdehntem Rücken zum Sitzen kommt. Der Riemen des Sturmgewehrs – Warum zum Teufel haben sie uns keine Strahlengewehre ausgeteilt? – um seinen Unterarm lockert sich, beide Ellbogen stoßen schmerzhaft auf die Erde, halten seinen vollständigen Fall gerade noch auf.

Die Welt dreht sich auf einmal langsamer. Sein Gehirn arbeitet mit ungeahnter Geschwindigkeit. Wie in Zeitlupe nimmt er die Bewegungen und Einzelheiten auf, die sich normalerweise der Wahrnehmung entziehen. Dass nun auch seitlich von dem Ungeheuer die Nebelwand sachte in Unruhe versetzt wird. Dass das Schwarz über ihm mit fröhlichen blaugrünen Sprenkeln durchsetzt ist. Dass die tausend Facetten der auf ihn herab starrenden Augen von hübschen goldenen Rändern eingefasst sind. Er sieht gelben Schleim von dem Schatten dort oben auf sich herabtropfen. Er dreht den Kopf, blickt dem zähen Fluss nach, der nicht abreißen will. Beobachtet, wie er auf seinem Kampfanzug auftrifft und sich durch den Stoff in seine Schulter ätzt. Der Schmerz kommt später! Er spürt, dass die Nässe in seiner Hose zu warm ist, als dass er sie mit dem Nebel in Verbindung bringen dürfte, der jede Naht und jede Faser durchdringt. Sein Mund öffnet sich zu einem lautlosen Schrei.

In den Augenblicken, bis sich das Maul herabsenkt und die Zahnreihen sich um seinen Kopf und Oberkörper schließen, überfluten heitere Bilder sein Bewusstsein. Erinnerungen an seine letzten glücklichen Momente. Er sieht seine Eltern in der Sonne stehen, sie haben sich gegenseitig einen Arm um die Hüfte gelegt, froh gestimmt schmiegen sie sich aneinander. Mit der freien Hand winken sie ihm fröhlich zu, als er sich auf seinem Weg zum Shuttle zu ihnen umdreht. Nur wenige Schritte noch, dann wird ihn die Luke schlucken, wird ihn die Fähre zum Raumschiff in den Orbit tragen. Dankbar lächelt er zu seinen Eltern zurück. Er weiß: Lange haben sie für dieses Geschenk gespart. Zum Studienabschluss erfüllen sie ihm seinen Kindheitstraum. Ein Ticket für eine exotische Safari auf Saran 1.

 

 

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