Von Raina Bodyk

Frisch geduscht schaufeln sich sieben Männer zwischen jung und alt in der Diakonie das Frühstück rein. Sogar Stinker duftet nach Seife. Im Allgemeinen hält er Wasser für viel zu gefährlich für seine Haut.

„Hej, Pom, wie findest du die Jacke? Hab‘ ich gerade hinten im Lager gekriegt, schön warm für nachts.“

„Nicht schlecht! Habt ihr auch gehört, dass unser Zwerg letzte Nacht wieder geschrien hat?“

Der gibt zu: „Hab‘ schlecht geträumt. Ich hockte mal wieder im Keller, nachdem der dreckige Alte mich windelweich geprügelt hatte. Als eine fette Ratte über mein Gesicht lief, habe ich gebrüllt und wurde davon wach.“

Der Dicke nickt, seine Albträume sind fast die gleichen, nur ist es bei ihm eine Peitsche statt eines Knüppels.

Der Prof schlürft andächtig seinen heißen Kaffee. Köstlich! Ist schon komisch, wie das Leben so spielt. Früher hätte er gar nicht gemerkt, wie herrlich Kaffee duftet.

Früher – das war damals, bevor sich sein Sohn mit achtzehn umgebracht hat. Damit ist er nicht klargekommen. Er funktionierte nur noch mit Alkohol, bis er eben nicht mehr funktionierte. Es folgten die Entlassung, die Scheidung, die Wohnungslosigkeit. Ihm war es egal. Lange lag er jede Nacht wach und fragte sich immer und immer wieder: WARUM? War es seine Schuld?

Inzwischen hat er so etwas wie seinen Frieden gefunden. Die Straße hat ihn frei gemacht, indem sie sein Leben auf das absolut Notwendigste reduziert hat.

Der Prof schaut gut gelaunt in die Runde: „Heut‘ lade ich euch zu einer Portion Pommes ein. Gestern hatte einer die Spendierhosen an und hat mir ganze zwanzig Euro in die Hand gedrückt!“

Die anderen nicken begeistert. Besonders Pom strahlt. Er liebt diese fettigen Kartoffelstäbchen, denen er seinen Spitznamen verdankt.

Er verlässt sich mehr als die anderen auf den Prof. Er hat einen Heidenrespekt vor dessen Klugheit. Pom weiß, dass er selbst nicht besonders schlau ist. Als er arbeitslos wurde und seine Wohnung verlor, weil er die Miete nicht zahlen konnte, war er zum Amt gegangen. Eine Sachbearbeiterin hat ihn da so runtergemacht, dass er sich wie der letzte, wertlose Mensch vorkam und sich für sein Elend noch schämte. Er ist nie mehr hingegangen.

Stinker und Schleicher sind die ältesten der Gruppe. Sie sprechen nie über die Gründe, die sie auf die Straße gestoßen haben. Wenn die Sprache darauf kommt, erstarren ihre Gesichtszüge, der Blick wird hart.

„Gestern trieben sich in der Fußgängerzone Radaubrüder rum. Sie haben mir meine ganzen Einnahmen geklaut und wollten sich prügeln. Schade, dass sie zu dritt waren! Sonst … Den Heinz, der immer vorm Supermarkt rumhängt und schnorrt, sollen sie so zusammengeschlagen haben, dass sie im Krankenhaus nicht wissen, ob sie ihn durchkriegen“, empört sich Casa.

„Hähä! Gib zu, du hattest nur Angst um deine schöne Visage, Casanova!“, lästern die anderen und streichen sich provozierend über die noch nassen Haare.

Casa kam mit dreizehn ins Heim, mit Anfang 20 war er obdachlos, dann anderthalb Jahre im Knast. Bevor er die anderen kennenlernte, hatte er nur Mädchen im Kopf. Sein Name war Programm.

Zum ersten Mal erlebt er nun Freundschaft. Unter Obdachlosen so selten wie Schnee im Sommer. Auf Platte kommen die eigenen Bedürfnisse immer zuerst: Essen und Trinken, Schlafplatz, Tabak, Alkohol. Jeder kämpft für sich allein, um zu überleben. Auch ein geklautes Brot macht für einen Tag satt. Wer vertraut, hat schon verloren. Ein Gang aufs Klo und schon ist der Schlafsack weg oder die Schuhe …

Die sieben halten zusammen und sind stolz darauf. Sie vertrauen einander wirklich.

 

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Nein, nicht schon wieder! Schneewittchen hört schon an der Tür das Gezeter der Betrunkenen. Der Vater, der sie seit ihrer Geburt bewundernd Schneewittchen nennt, weil sie mit ihren schwarzen Haaren, der nach Milch duftenden weißen Haut und den zart roten Lippen wie die Märchenprinzessin aussah, scheint im Suff mal wieder völlig die Beherrschung verloren zu haben. Die Mutter, die Haare ungekämmt vom Kopf abstehend, keift zurück.

Wie oft hat die Sechzehnjährige schon die Mutter in ihrem Erbrochenen liegend gefunden, Selbstmorddrohungen gehört. Einige Male ist sie mit einem Küchenmesser hinter der Tochter hergelaufen, weil sie dachte, die wäre der Teufel, der sie holen wollte.

Der Vater wütet gegen die ganze Welt, die schuld ist an seiner Misere, oder ertrinkt in Selbstmitleid.

Es wird täglich schlimmer. Schneewittchens Gefühle sind ein Chaos aus Wut, Hass und Mitleid. So lange schon fühlt sie sich verantwortlich für die Eltern und versucht, ihnen alles recht zu machen.

Aber es ist hoffnungslos. Sie muss hier raus! Jetzt! Sofort!

 

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Wieder mit Rucksack und Tüten unterwegs, brüllt Schleicher plötzlich: „He, was macht der da?“ und zeigt auf einen gefährlich aussehenden Burschen, der gerade eine junge Frau zu Boden gestoßen hat und höhnisch grinsend mit seinen Stiefeln auf sie eintritt.

„Meinst du, ich nehme dich auf und du kannst dich ohne Gegenleistung bei mir durchschnorren? Nicht mit mir!“, droht der Mann.

„He, Bürschchen! Verpiss dich, aber ganz schnell. Sonst bekommst du es mit uns zu tun. Glaub mir, das würde dir gar nicht gefallen!“, grollt Stinker.

Der Schläger hört die wilde Entschlossenheit in diesen Worten und hat es plötzlich sehr eilig zu verschwinden, aber nicht, ohne seinem Opfer zu drohen: „Ich krieg dich noch, verlass dich drauf. Du zahlst!“

 

„Das ist ja noch ein Mädchen!“ Schockiert starren die Freunde die leblose Gestalt vor ihnen auf der verdreckten Straße an. So jung, so elend. Das tut sogar ihnen weh, obwohl sie weiß Gott abgebrüht sind nach so vielen Jahren auf Platte. „Sie muss zu einem Arzt.“ Alle nicken.

„Nein, keinen Arzt! Ich will nur schnell weg von hier, ehe der Kerl wiederkommt!“, haucht die Kleine schwach.

Die Obdachlosen hören in ihrem Hilferuf eine Verzweiflung, die ist ihnen nur zu bekannt ist. „Okay, Jungs. Nehmen wir sie mit zu uns.“

 

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Als das Mädchen wieder zu sich kommt, liegt sie zusammengekuschelt in einer kratzigen Wolldecke. Sieben neugierige Augenpaare ruhen auf ihr. „Wer seid ihr? Wo bin ich?“

„Du bist an unserem Platz, unter der Rheinbrücke“, erklärt Stinker. „Wie heißt du?“

„Ich wurde früher von meinem Papa immer Schneewittchen genannt.“

Die Männer starren erst sich gegenseitig ungläubig an und dann voll Mitleid die Kleine: Schwarze, strähnige Haare hängen ihr übers Gesicht, die Haut ist leichenblass und blutbefleckt. Die ehemals roten Lippen schimmern bläulich.

Schneewittchen erzählt: „Meine Eltern trinken. Ich habe das einfach nicht mehr ausgehalten und bin weggelaufen.“

„Oh, freut mich, dass du die Kurve gekriegt hast. Sie hätten dich mit in den Abgrund gezogen. Ich kenn mich da aus!“, empört sich der sanftmütige Pom.

„Was war das für ein Kerl, der dich so verdroschen hat?“, forscht Schleicher nach.

„Das war Carlo. Er war erst sehr nett zu mir. Als ich ihm erzählte, dass ich nicht wüsste, wohin, hat er mir angeboten, bei ihm zu wohnen.“

„Du bist doch nicht etwa mitgegangen?“, erkundigt sich der Prof entsetzt.

„Do-och. Er hat mir sein Sofa zum Schlafen angeboten und was zu essen. Er war so freundlich! Aber heute, nach einer Woche, wollte er plötzlich mit mir … Ihr wisst schon! Da bin ich weggerannt. Aber er war schneller. Den Rest habt ihr ja gesehen.“

Casa ist entsetzt: „Der Bastard!. Aber Mädel, wie kannst du nur so vertrauensselig sein?!“

Schneewittchen senkt beschämt den Kopf.

„Kann ich bei euch bleiben? Euer Platz gefällt mir!“

„Okay! Du brauchst ganz dringend jemanden, der auf dich aufpasst!“, stellt der Dicke fest und alle nicken zustimmend.

 

Die Männer organisieren so viele Bananenkartons, Decken und Kissen für sie, dass sie dankbar versichert: „Kein Himmelbett kann weicher und wärmer sein als dieses Bett.“

 

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Wittchen, wie die Freunde sie nennen, ist inzwischen drei Monate bei ihnen. Das Mädchen bringt sie mit ihrer unschuldigen Jugend oft zum Lachen. Vor allem, wenn sie Hausfrau spielt und scheinbar empört die Hände in die Hüften stemmt.

Sie fühlen sich zum ersten Mal wirklich nützlich, fühlen sich wie Eltern oder Brüder verantwortlich für das junge Leben.

Auch sie ist glücklich. Endlich gibt es Menschen, denen ihr Wohlergehen am Herzen liegt.

 

Eines Tages kommen der Zwerg und der Dicke ganz aufgewühlt ins Lager. „Wir haben Carlo gesehen! Der fragt überall rum, ob einer sein Schneewittchen gesehen hat und beschreibt sie ganz genau.“

Die anderen starren die beiden erschreckt, mit Angst in den Augen, an. „Wir müssen Wittchen schützen!“

Der Prof räuspert sich: „Ich wollte schon länger mit euch über sie reden. Es wird Zeit. Wir müssen sie ziehen lassen.“

„Bist du verrückt? Unsern kleinen Sonnenschein?“, erregt sich Pom. Alle nicken.

„Ihr müsst an sie denken. Sie ist wichtig. Sie hat noch alles vor sich. Wir können sie nicht immer schützen. – Aber gut, mit Carlo würden wir fertig.“

„Das will ich doch wohl meinen!“, meint Stinker gewohnt bärbeißig.

„Wisst ihr, ich habe letztens oft an meinen Sohn denken müssen. Er hat alles, sogar sein Leben, weggeworfen. Wittchen soll das nicht tun. Sie soll ihre Chancen nutzen, die wir nicht hatten oder nicht genutzt haben.“

Die Männer werden sehr nachdenklich bei diesen Worten und nicken schließlich zögernd.

 

Wie zu erwarten, geht es bei der Diskussion mit Schneewittchen hoch her. Sie weigert sich dickköpfig, überhaupt zuzuhören. Sie schluchzt bitterlich: „Wollt ihr mich denn nicht mehr haben? Habe ich was falsch gemacht? Ich kann mich ändern!“

„Mädchen, mach es uns doch nicht so schwer. Wir werden dich immer liebhaben. Aber du kannst doch nicht dein Leben lang unter einer Brücke schlafen. Mach es besser als wir! Tu es für uns!“, ermuntert Schleicher die Unglückliche

„Der Prof hat versprochen, er wird eine gute Stelle für dich finden. Er kennt da so Leute …“

Etwas beruhigt lässt Wittchen sich überreden, sich die Pläne ihrer Freunde anzuhören und schließlich, es zu versuchen.

„Aber nur unter einer Bedingung! Ihr dürft mein Bett nicht wegräumen. Ich werde euch ganz oft besuchen und dann hier übernachten und mit euch unter den Sternen träumen.“

 

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