Von Sarina Stützer

Schneewittchen hatte hinter den sieben Bergen für die sieben Zwerge geputzt, gewaschen und gekocht. Und alles, was den sieben Zwergen einfiel, als klar wurde, dass Schneewittchen sich in Gefahr befand, war, dass sie ihre kleinen Zeigefinger erhoben, Ermahnungen erteilten und sie weiterhin jeden Tag allein ließen. Natürlich liebten sie Schneewittchen heiß und innig – wer würde das nicht, wenn er von der Arbeit heimkommen, die Füße hochlegen, ein leckeres Mahl verspeisen und in ein frisch gemachtes Bett fallen konnte. Trotzdem waren ihnen die Goldminen so wichtig, dass nicht einmal ein einziger Zwerg zu Schneewittchens Schutz zu Hause bleiben konnte.

Es kam, wie es kommen musste, Schneewittchen biss in den vergifteten Apfel und fiel um. Und alles, was den sieben Zwergen jetzt einfiel, war, fürchterlich zu heulen, sie in einen gläsernen Sarg zu stecken und mitten im Wald aufzustellen, wo garantiert niemals ein Arzt vorbeikam, höchstens ab und zu mal ein Prinz. So war es dann auch, und der, der vorbeigeritten kam, war nicht einmal besonders helle. Denn er verliebte sich sofort unsterblich in die Leiche im Glassarg, weil er sie so hübsch fand. Abgesehen davon, dass hier nun über die seltsamen Neigungen des Prinzen spekuliert werden kann, fällt außerdem auf, dass er Schneewittchen gar nicht kannte und sich trotzdem in sie verliebte. Vielleicht verliebte er sich, weil er sieben Zwerge um sie weinen sah und sich dachte: „Das wäre wohl eine Frau, um die mich alle beneiden würden, wenn schon mitten im Wald so viele Leute um sie trauern.“ Möglicherweise war der ausschlaggebende Grund auch, dass Schneewittchen einfach nur hübsch war, keine Widerworte gab und ihm nicht sagen konnte, dass sie nichts mit ihm zu tun haben wollte.

Alles dies bleibt jedoch Spekulation, denn da der Prinz der Prinz war, hatte er es nicht nötig, irgendjemandem darüber Rechenschaft zu geben, warum er sich in eine zugegebenermaßen zwar wunderschöne, aber ziemlich tote Frau verliebt hatte. Er überredete die Zwerge, den Sarg zu öffnen, damit er Schneewittchen näher sein konnte. In seiner großen Liebe überkam es ihn spontan, dass er sich hinunterbeugte und ihr einen leidenschaftlichen Kuss gab, bevor die Zwerge ihn daran hindern konnten. So leidenschaftlich küsste der Prinz, dass er an das vergiftete Apfelstück kam, das Schneewittchen noch im Hals steckte, es einsog und plötzlich selbst im Hals stecken hatte. Er richtete sich auf, sah die sieben Zwerge an – und fiel um.

Schneewittchen aber erwachte. Dass die Wirkung des Giftes nur so lange anhielt, wie es im Hals blieb, wusste niemand außer der Stiefmutter, die den Apfel präpariert hatte. Schneewittchen kletterte lebendig und hübsch wie eh und je aus dem Sarg und sah sich um. Sie wunderte sich etwas darüber, dass die Zwerge sie in einem Glassarg mitten im Wald aufgebaut hatten, sagte aber erst einmal nichts dazu. Die Zwerge jubelten vor Freude und erzählten ihr, was passiert war. Sollte Schneewittchen ein leises Bedauern verspürt haben, dass sie die Begegnung mit dem Prinzen verpasst hatte, so verflog das recht schnell, als sie ein wenig nachdachte. Er hatte eine Leiche geküsst? Nun ja.

Schneewittchen und die sieben Zwerge überlegten, was sie tun sollten. Da sie die Wahrheit über den Apfel nicht kannten, glaubten sie, dass es der Kuss war, der Schneewittchen aus dem Tode zurückgeholt hatte. Weder Schneewittchen noch einer der Zwerge waren aber dazu bereit, den toten Prinzen zu küssen, um an seiner Stelle zu sterben. Was sehr klug war, auch wenn sie es nicht wussten, denn der Prinz hatte Schneewittchen so heftig geküsst, dass das Apfelstück mit dem Gift bis in seinen Magen gelangt und er nun tatsächlich tot war. Also legten sie ihn in den Glassarg und begruben ihn mit einer feierlichen Zeremonie.

Die Zwerge wollten nun mit Schneewittchen nach Hause gehen und ein großes Fest für sie geben. Schneewittchen war entsetzt. Sie fühlte sich nach ihrem Todeserlebnis noch sehr matt, und ihr graute vor der vielen Arbeit, die so ein Fest mit sich bringen würde. Denn ihr war schon klar, wer die Nudel- und Kartoffelsalate machen, die Bowle anrühren und hinterher alles wieder aufräumen würde. Sie bat die Zwerge, sich ein paar Tage ins Bett legen und erholen zu dürfen. Jetzt waren die Zwerge entsetzt. Wer kümmerte sich denn dann um das Geschirr? Und um das Abendessen? Und um die Betten?

Schneewittchen glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. Sie sagte den Zwergen, wo sie sich ihr Geschirr, ihr Abendessen und ihre Betten hinstecken sollten. Sie setzte sich auf das Pferd des Prinzen und ließ es laufen, denn wie alle Pferde hatte es auch dieses eilig, zu seinem Stall zurückzukehren. Und hätte es den Weg nicht gefunden, hätte sie zur Not noch den treuen Diener des Prinzen fragen können, der, wie es seine Aufgabe war, nebenherlief und die Zügel des Pferdes hielt.

Als sie ankam, übergab sie das Pferd dem Stallknecht und verlangte die Eltern des Prinzen zu sprechen. So gelangte sie zu König und Königin, die von der wunderschönen Frau sehr angetan waren. Schneewittchen erzählte ihnen, was sich im Wald zugetragen hatte. König und Königin fragten den Diener des Prinzen, ob das alles seine Richtigkeit hatte, weinten ein bisschen um ihren toten Sohn und beschlossen dann, Schneewittchen als Tochter anzunehmen. Sie waren davon überzeugt, dass es der Prinz so gewollt hätte, denn würde er noch leben, hätte er Schneewittchen sicher geheiratet und zu ihrer Schwiegertochter gemacht. So kam es, dass Schneewittchen eines Tages das Königreich erbte.

Als es so weit war, ließ sie als Erstes die sieben Zwerge zu sich bringen. Sie eröffnete ihnen, dass sie nun sieben Jahre für Schneewittchen kochen, putzen, bügeln und Betten machen durften. Die Zwerge waren empört. Wann hätte man je gehört, dass ein Zwerg sich mit solchen Arbeiten abgab – noch dazu für eine Frau! Aber sie konnten gar nichts dagegen tun, denn Schneewittchen war ja nun Königin. Als die sieben Jahre vorbei waren, kehrten sie hinter die sieben Berge zurück und wagten es nie wieder, die Notlage eines Menschenmädchens auszunutzen. Zumindest nicht, solange Schneewittchen Königin war. Da Zwerge deutlich länger leben als Menschen, besteht die Möglichkeit, dass sie irgendwann doch wieder in ihre alte Bequemlichkeit zurückfielen. Aber falls das wirklich geschehen ist, ist das eine andere Geschichte.

Blieb noch die Stiefmutter. Die brauchte sich im Schloss natürlich nicht mehr blicken zu lassen. Schneewittchen hatte zwar jetzt ein Königreich, und das wäre ohne die Begegnung mit dem Prinzen wahrscheinlich nicht passiert. Und den Prinzen hatte sie ja nur getroffen, weil die böse Stiefmutter sie umbringen wollte.

 Schneewittchen hatte gehört, dass es in ähnlich gelagerten Fällen als Strafe üblich war, die Giftmischerin in glühenden Eisenschuhen so lange tanzen zu lassen, bis sie tot umfiel. Das erschien ihr zu grausam. Dieses Auge-um-Auge war nicht so ihr Ding – zumindest nicht, bis die Zwerge sieben Jahre lang für sie geputzt hatten.

Sie erfuhr, dass die Stiefmutter ihren Spiegel vor Wut zerbrochen hatte, als dieser ihr sagte, dass Schneewittchen immer noch schöner war als sie. Schneewittchen beschloss deshalb, die Sache erst mal auf sich beruhen zu lassen und sich später darum zu kümmern.

Die Stiefmutter, die endlich den bekloppten Spiegel los war und nicht mehr täglich vorgehalten bekam, dass es Leute gab, die schöner waren als sie, alterte in Frieden. Und ohne Spiegel bemerkte sie ihre Fältchen und Rünzelchen, die zu Falten und Runzeln wurden, nicht mehr. Es gab Momente, da dachte sie sogar darüber nach, ins Schloss zu gehen und sich bei Schneewittchen zu entschuldigen, aber das traute sie sich dann doch nicht.

Als Greisin lachte sie über die Dummheit ihres Schönheits- und Jugendwahns und trug ihre grauen Haare mit Stolz. Schneewittchen war inzwischen auch deutlich älter geworden und hatte echt Besseres zu tun, als ständig an die böse Stiefmutter zu denken. Im Laufe der Zeit vergaß sie, dass sie eigentlich noch etwas hatte unternehmen wollen.

Und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie alle noch heute glücklich und zufrieden mit sich und der Welt.

 

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