Von Louise Hofmann

Die Gerichtsschreiberin beobachtete wie der Wagen über eine Unebenheit im steinernen Boden holperte und erreichte die Mitte des Saals. Das leise Stöhnen wurde von gläsernem Klirren fast vollständig übertönt. Zwei Männer in der Uniform der gerichtlichen Schutzmänner näherten sich ihm und entfernten vorsichtig das grobe Tuch, in das der Spiegel eingeschlagen war.

Er hatte keinen Rahmen mehr. Die Glasfläche war gesprungen, die dünne Silberschicht darunter zerrissen. Der einst prächtige Spiegel der bösen Königin war in bedauernswerten Zustand. Er wirkte keineswegs wie der Strippenzieher, der er angeblich war.

„Ihr seid angeklagt, der bösen Königin geholfen zu haben, Schneewittchen nach ihrer Flucht zu finden“, sagte ein Vertreter des Königs, der jetzt Schneewittchens Schwiegervater war.

„Das gestehe ich.“

„Zudem sollt Ihr die Verantwortung für ihren Wahn, stets die Schönste sein zu wollen, tragen.“

„Das hatte mit ihrer Vergangenheit zu tun, nicht mit mir.“

Der König schnaubte ausgesprochen unmajestätisch. „Als ob Euch irgendjemand diesen Unfug glauben würde.“

„Ich war ihr Diener! Ich konnte mich ihrem Befehl nicht verweigern!“

„Ihr hättet behaupten können, Schneewittchen nicht zu finden!“

Ein leises, entrüstetes Klirren antwortete ihnen. „Sie war meine Königin! Ich verdanke ihr alles!“

„Vor allem verdankt Ihr ihr diese Anklage wegen mehrfacher Beihilfe zu versuchtem Mord“, erwiderte Schneewittchens Bräutigam.

Der Spiegel antwortete nicht. Er wirkte niedergeschlagen. Die Silberschicht verdunkelte sich und schien unter dem Glas Wellen zu schlagen.

„Ihr solltet niemanden verteidigen, der ein unschuldiges Mädchen grundlos ermorden wollte“, sagte der König.

„Meine Herrin… hatte ihre Gründe“, antwortete der Spiegel leise.

„Gründe!“, rief der Prinz aus. „Nur ihre persönliche Eitelkeit!“

„Es war mehr als das!“, protestierte der Spiegel. Im Gerichtssaal wurde es plötzlich still.

Etwas in der Stimme des Angeklagten erstickte jedes Geräusch. Die Feder der Gerichtsschreiberin verharrte. Sie blickte von der Pergamentrolle auf.

„Meine Herrin… hat schlechte Erfahrungen gemacht.“

„Das entschuldigt ihr Verhalten noch lange nicht“, entgegnete Schneewittchens Schwiegervater.

„Die Geschichte und der Volksmund haben die Braut Eures Sohnes zu einem makellosen Geschöpf gemacht. Wunderschön und die Unschuld in Person.“ Der Spiegel schnaubte abfällig. Die Scherben klirrten. „Sittsam, brav, niemals rebellisch.“

„Das ist sie auch.“ Der Prinz blickte arrogant auf ihn herab.

Der Spiegel seufzte und schwieg einen Moment. „Meine Königin steht hier ebenso vor Gericht wie ich. Erlauben Sie mir deshalb ihre Geschichte darzulegen.“

Der König und sein Sohn verdrehten die Augen. Aber dann gewährte ersterer die Bitte mit einer lässigen, salbungsvollen Handbewegung. „Das wird nichts ändern.“

Die Gerichtsschreiberin selbst war sich da nicht so sicher. Alles beeinflusste alles. Die offizielle Lesung der Causa der „reine fatale“ war, dass sie aus Eitelkeit und Eifersucht versucht hatte, ihre Stieftochter zu ermorden. Dreimal. Doch warum war sie so versessen darauf gewesen die Schönste zu sein? Warum bezog sich dieser Wahn aufs ganze Land? Wieso genügte es nicht, die Schönste im Umkreis von mehreren Meilen zu sein?

„Meine Königin war von großer Schönheit, als sie den Vater Eurer Schwiegertochter ehelichte – nicht nur äußerlich – aber ihr Herz…“ Das Silber hinter dem Glas verdunkelte sich weiter.

„War aus kaltem Stein“, beendete Schneewittchens Bräutigam den Satz.

„Nein. Ich kannte sie länger als Ihr oder Eure Braut, Hoheit. Sie mochte nach außen kühl und erwachsen wirken, doch in ihrem Inneren war sie zutiefst verletzt. Vom Verhalten Eures Schwiegervaters, der sie begehrte, aber nicht liebte, über das aller anderen im Schloss, die sie nicht als neue Königin akzeptierten, bis hin zu Eurer wunderbaren Braut, die sie nicht als Mutterfigur anerkannte, sie nicht an der Seite ihres Vaters akzeptieren konnte. Sie fühlte sich unwillkommen. Dieses Land liebte sie nicht. Dennoch tat sie alles, um seine Wirtschaft voranzubringen und die Situation der einfachen Bevölkerung zu verbessern.“

„Das steht hier nicht zur Debatte.“

„Ich habe meine Königin beinah fünfzehn Jahre vor ihrer Hochzeit mit Schneewittchens Vater gewählt. Sie war noch sehr jung und meiner Meinung nach das schönste Geschöpf auf dieser Erde. Allerdings war das ihrer Umgebung völlig egal. Obwohl adeligen Geblüts wurde sie – abgesehen von einer entsprechenden Erziehung – nicht so behandelt. Niemand erachtete sie als etwas besonderes, sah ihre Schönheit, bis ein verzweifelter Ritter sie entführte. Ihr Vater hatte ihr wohl mal versprochen immer auf sie aufzupassen. Sie sagte einst, in diesen Tagen hätte sie gelernt sich auf niemanden zu verlassen… Niemand kam, um sie zu retten. Stattdessen floh sie aus eigener Kraft. Sie konnte mir nie Details anvertrauen, obwohl sie es versuchte. Sie brach stets in Tränen aus. Die Männer ihres Vaters fanden sie nach einigen Tagen. Bis dahin hatte sie in einer Höhle Schutz gesucht und dort traf sie mich.“ Der Spiegel schien bei der Erinnerung aufzuleuchten. „Sie brauchte jemanden, der ihr zuhörte und ich war da. – Die Männer ihres Vaters verspotteten sie auf dem Heimweg, aber sie nahmen mich mit. Ihre Mutter wollte mich nicht und überließ mich meiner Königin… Ich habe ihren Tränen gelauscht und alles getan, damit sie lächelte. Doch jene, die sich ihre Familie nannten, haben ihr Herz in Stein verwandelt. Ihr Vater hat sie an Schneewittchens Vater verkauft. Sie kam ohne nennenswerte Mitgift an den Hof in der Hoffnung auf menschliche Zuneigung. Aber die wurde ihr verwehrt. Niemand hat ihr je freundliche Gefühle entgegengebracht.“

„Meine Braut war nicht so grausam!“

„Ich weiß nicht, ob das eine Rolle spielt“, erwiderte der Spiegel leise. „Meine Königin hat nie gelernt mit Freundlichkeit umzugehen. Sie hat ihre Schönheit genutzt und sich eingeredet, dies sei alles an ihr, was von irgendeinem Wert ist. Deshalb war sie versessen darauf die Schönste zu sein… die meiste Zeit zumindest.“ Trauer verdunkelte das Glas weiter. „Schneewittchen schien dies zu bedrohen.“

„Ihr hättet sie anlügen können, auch wenn Schneewittchen die Schönere war“, argumentierte der Prinz.

„Nein, denn ich habe ihr bereits kurz nach unserem Treffen versprochen, sie niemals zu belügen. – Ich bin ein Spiegel, kein Mensch. Wir lügen nicht.“ Die Scherben knirschten, als er sich ein wenig drehte, um seine Ankläger anzusehen. „Ich bin sehr froh, dass sie das nicht ertragen muss und hoffe, dass sie in einem anderen Leben die Zuneigung bekommt, die sie braucht.“

„Wusstet Ihr, dass sie vorhatte, Schneewittchen zu töten?“ Der Prinz beugte sich vor.

„Diese Idee hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt und beherrschte sie. Sie hatte das Gefühl sich nur über ihre Schönheit Gehör verschaffen und etwas bewirken zu können, doch macht sie das zu einem schlechten Menschen?“

„Sie hat versucht Schneewittchen umzubringen!“

„Ja, die personifizierte Güte!“ Der Spiegel schnaubte. Diesmal flogen sogar winzige Splitter. „Sie hat meine Herrin gehasst, weil sie sie nicht mit Liebe überschüttet, sie nicht ins Bett gebracht und ihr keine Gute-Nacht-Geschichten erzählt hat; weil sich ihre Welt nicht um ein Kind drehte, das sie mit-geheiratet hatte und alle Zuneigung auf sich zog, während es gleichzeitig jeden gegen sie aufwiegelte.“

„Meine Braut brauchte eine Mutter, keine Konkurrentin!“

„Konkurrentin?“, echote der Spiegel. „Meint Ihr nicht, dass sie allein aufgrund des Altersunterschiedes und der Tatsache, dass meine Herrin verheiratet war, gar nicht konkurrieren konnten?“

„Vielleicht nicht, um das Herz eines Mannes, dafür aber um die Liebe des Volkes.“

„Was hat Eure Braut je getan, um sich diese Liebe zu verdienen? Abgesehen davon hat meine Herrin aus pragmatischen Gründen das Beste für dieses Land gewollt und hat alles versucht, um dies zu erreichen. Eure Braut dagegen hat ihren Vater dazu gebracht, das Gold aus der Staatskasse dafür zu verwenden, ihr neue Kleider schneidern zu lassen anstatt die Infrastruktur zu verbessern oder eine staatliche Armenspeisung aufzubauen.“

„Das ist doch Blödsinn! Die paar Kleider!“, winkte der Prinz ab.

„Ich glaube, die betreffenden Rechnungsbücher liegen dem Gericht vor“, sagte der Spiegel leise.

Der König nickte und presste die Lippen zusammen. „Er hat recht mein Sohn.“

Die Gerichtsschreiberin merkte auf. Sie hatte nicht erwartet, dass der König in dieser Sache irgendetwas zugeben würde.

„Aber ich glaube nicht, dass die Anzahl oder der Preis der Kleider mehrere Mordanschläge rechtfertigen“, setzte der König hinzu.

„Auch nicht, wenn er die Staatskasse geschröpft hätte?“, erwiderte der Spiegel leise. „Schneewittchens Vater war unfähig ihr einen Wunsch abzuschlagen. Meine Herrin hat oft gegen diese Verschwendung protestiert… Erfolglos… Für die Wirtschaft des Reiches und die Staatskasse, wäre es gut gewesen, wenn Schneewittchens Verhalten anders gewesen wäre.“

Der König warf einen Blick auf die Uhr. „Ihr bleibt also dabei, dass Ihr nur Befehle ausgeführt habt?“

„Ja, das tue ich.“

„Habt Ihr sonst noch etwas zu sagen, bevor das Urteil verkündet wird?“

„Meine Königin hat ihre Strafe erhalten und bis zu einem gewissen Grad auch verdient, doch vielleicht fragt Ihr das nächste Mal nach der anderen Seite der Geschichte, anstatt jemanden ohne die Möglichkeit sich zu verteidigen zu verurteilen.“

Der König nickte. Er wirkte tatsächlich nachdenklich. Dann zog er sich mit seinem Sohn und seinen Beratern zurück, um ein Urteil zu fällen.

 

Klirrend und holpernd schoben sie den Wagen wieder aus dem Gerichtssaal. Das Urteil lautete: schuldig im Sinne der Anklage. Wenn man es genau bedachte, hatte der Spiegel nicht einmal versucht sich zu verteidigen. Man würde ihn in ein Gefängnis deportieren, allerdings eines, in dem man ihn zusammensetzte und alles tat, um ihn wieder einsatzfähig zu machen. Schließlich konnte er weltweit alles sehen und es den Menschen zeigen. Er war in gewisser Weise besser als jeder Meisterspion.