Von Karl Kieser

Bernard ist Dekorateur und Tüftler. Schon lange spukt eine Idee in seinem Kopf herum: Wie wäre es, einer Schaufensterpuppe Leben einzuhauchen?

Also, nicht etwa mit einem dauernden Nicken oder Winken, wie beim Wackeldackel oder wie bei der Winke-Katze, sondern durch eine gezielte Bewegung, abgestimmt auf die Betrachter vor der Scheibe. Das müsste doch einen überraschenden Effekt ergeben.

Eines Tages hat er die Möglichkeit, diese Idee zu verwirklichen. Der hohle Innenraum einer weiblichen Puppe bietet viel Platz für die „lebenspendende“ Einrichtung: Servomotoren, Zahnräder und Gestänge für die Kraftübertragung, Batterien und Empfänger für die Fernsteuerung. Bernard verbringt viel Zeit mit ihr und nennt sie liebevoll Eva.

Kopf, Arme und Hände sind zwar beweglich, müssen für seine Zwecke aber nachbearbeitet werden. Mit dem Kopf fängt er an. Es dauert gar nicht so lange, dann kann er den Kopf mit der Fernbedienung drehen. Jetzt ist er natürlich gespannt darauf, wie das Publikum auf den Effekt reagieren wird.
Es ist Sommer, daher bekommt Eva ein verführerisches Sommerkleidchen und einen duftigen Schal um den Hals. Lebensecht geschminkt ist sie einer lebendigen Frau beängstigend ähnlich. Mit den Augen hat  Bernard sich besonders viel Mühe gegeben. Wenn Eva einen direkt ansieht, hat man das Gefühl, dass sie bis auf den Grund der Seele blickt. Ein Meisterwerk!
Sie ist die einzige Puppe in den vielen Schaufenstern des Kaufhauses, die so realistisch wirkt, dass man sie für lebendig halten könnte und ein echter Hingucker.
Evas Kopf dreht er so, dass sie einem Betrachter, der frontal vor ihr steht, über die linke Schulter schaut. Dann legt er sich mit seiner Fernbedienung auf die Lauer. Er wartet auf einen einzelnen jungen Mann. Allzu lange muss er nicht warten, bis sich ein Proband in der richtigen Größe genau vor die hübsche Eva stellt, um dieses ideale Abbild des weiblichen Geschlechts zu bewundern.
Sobald der junge Mann seine Augen tiefer wandern lässt, betätigt Bernard seine Fernbedienung. Der junge Mann blickt wieder auf und direkt in die Augen von Eva. Bernard hinter seinem Guckloch kann sehen, wie seine Testperson zusammenzuckt. Fühlt er sich ertappt? Der junge Mann sieht nun genauer hin. Eva starrt ihm unverwandt in die Augen, mit diesem seltsam tiefgründigen, intensiven Blick.
Nach ein paar Sekunden scheint er sich nicht mehr wohl zu fühlen. Er wendet sich ab und geht weg. Für Bernard das Signal, Evas Kopf wieder in die Ausgangsposition zu drehen.

Der junge Mann ist noch keine zehn Schritte gelaufen. Unschlüssig bleibt er stehen. Schließlich kehrt er um und stellt sich wieder wie vorher vor Eva hin. Aber etwas stimmt nicht. Eva sieht gleichgültig über seine linke Schulter. Er starrt in ihr Gesicht, versucht ihre Augen zu fixieren.
Bernard glaubt zu wissen, was seinem Probanden durch den Kopf geht: Was hat er sich da nur eingebildet? Seine Fantasie muss ihm einen Streich gespielt haben. Das ist doch eine Puppe!
Schließlich lässt er seine Augen wieder genüsslich über Evas Kurven wandern.
Nur um sich zu vergewissern, dass es die eigene Fantasie war, die ihm etwas vorgegaukelt hat, blickt er nach einer Weile wieder auf, erneut direkt in die Augen von Eva.

Bernard erkennt amüsiert, wie seine Testperson ungläubig die Augen aufreißt. Es ist offenkundig, was in seinem Kopf vorgeht: Das gibt’s doch nicht? Ist die Frau etwa echt, oder will ihn jemand veralbern?
Er dreht sich um und sucht die Passanten auf verdächtige Reaktionen ab. Es fällt ihm anscheinend nichts auf. Er dreht sich wieder zurück, um den Schaufenster-Hintergrund genauer unter die Lupe zu nehmen. Erst dann wirft er wieder einen Blick auf die Schaufensterpuppe, aber die Schöne hat sich schon wieder abgewendet.
Er schüttelt heftig den Kopf, als wolle er eine unangenehme Vision loswerden.
Erst als der junge Mann das Kaufhaus betritt, um misstrauisch die Rückseite dieses Schaufensters in Augenschein zu nehmen, verlässt Bernard sicherheitshalber seinen Posten.

Am nächsten Tag beobachtet er zufällig, wie derselbe junge Mann sich wieder Evas Schaufenster nähert. Diesmal hat er einen älteren Gefährten mitgebracht. Der junge Mann zeigt auf Eva und redet aufgeregt auf seinen Begleiter ein.
Das kann Bernard sich nicht entgehen lassen. Er macht sich schnell auf den Weg und stellt sich wie ein zufälliger Passant zu den beiden vor das Schaufenster, die Fernbedienung sendebereit in der Hosentasche.
Der junge Mann sagt gerade: „Sie hat genauso wie jetzt dagestanden, Onkel Heinz. Dann habe ich mir das Fahrgestell angesehen, und als ich wieder hochsah, hatte sie den Kopf gedreht und mir direkt in die Augen gesehen. Ich schwöre!“

Heinz ist skeptisch. Aber er hat anscheinend schon nachgedacht über das Erlebnis seines jungen Freundes, denn das wird deutlich, als er nun antwortet: „Du hast doch einen Knall, Kevin. Vermutlich hat dich jemand vom Kaufhaus auf den Arm genommen. Es kann aber auch sein, dass du dir vorgestellt hast, wie es wäre, wenn das deine Freundin wäre, und was du dann mit ihr anstellen würdest. Dein Unterbewusstsein hat sich dann gegen so abwegige Gedanken gewehrt und der Rest war eine Reaktion deines schlechten Gewissens.“

„Ich bin doch nicht pervers!“, empört sich Kevin. „Und es ist mir doch auch zweimal passiert.“

„Na, dann hast du eben zweimal versucht, sie in Gedanken zu streicheln. Gib‘s nur zu.“

„Na ja, vielleicht. Aber darum geht es doch nicht. Sie hat mich direkt angesehen. Das habe ich mir nicht eingebildet.“

Beide starren gedankenverloren auf Eva. Bernard gibt mit der Fernbedienung in seiner Hosentasche einen kurzen Impuls.

„Da, hast du das gesehen?“, Kevin zeigt aufgeregt auf Evas Gesicht. „Sie hat sich wieder bewegt.“

Heinz hat die kleine Bewegung auch mitbekommen. Er sucht zunächst im Hintergrund des Schaufensters nach einer Erklärung, sieht sich dann um und wendet sich schließlich an den unbeteiligt wirkenden Bernard.

„Verzeihung, haben Sie vielleicht auch gesehen, dass die Schaufensterpuppe sich gerade bewegt hat?“

Bernard schüttelt zögernd den Kopf: „Gerade eben habe ich keine Bewegung gesehen. Aber ehrlich gesagt, ich habe auch schon an meinem Verstand gezweifelt, denn ich glaube, gestern hat sie ihren Kopf direkt zu mir gedreht.“

Kevin nickt eifrig: „Genau, das sage ich doch. Siehst du, Onkel Heinz, der Mann hat es auch gesehen.“

Während dieser kurzen Unterhaltung hat niemand von ihnen Eva im Auge behalten, aber Bernard hat ihren Kopf heimlich so weit drehen lassen, dass sie direkt auf ihn schaut.
Alle drei schauen nun wieder zurück zu Eva, zwei von ihnen stumm vor Verblüffung. Dann sehen sie sich gegenseitig an. Die anfängliche Begeisterung darüber, dass dieses ungewöhnliche Erlebnis auch von anderen geteilt wird, wandelt sich schnell in Misstrauen.
Bernard ist sich darüber im Klaren, dass er sofort etwas unternehmen muss, damit sich das Misstrauen nicht gegen ihn richtet. Mit beiden Händen gestikulierend platzt er schnell heraus: „Sagen Sie mal, haben Sie etwas damit zu tun? Obwohl ich ganz anders stehe als gestern, sieht sie ausgerechnet mir wieder in die Augen. Seien Sie ehrlich, Sie wollen mich auf den Arm nehmen.“

Kevin schüttelt empört den Kopf: „Nie im Leben, ich will doch selber wissen, wer mich hier veralbert. Vielleicht ist sie ja doch lebendig?“
Heinz reagiert unwillig auf Kevins letzte Bemerkung: „Blödsinn Kevin, die kann gar nicht lebendig sein. Die ganze Zeit hat sie nicht ein einziges Mal mit den Augen gezwinkert.“
Dann sieht er Bernard skeptisch an. „Also, wenn Sie es nicht sind, dann kann es eigentlich nur ein Gag des Kaufhauses sein. Es muss auch jemand auf der Lauer liegen und die Bewegungen bewusst steuern.

Alle drei wenden sich wieder Eva zu. Kevin und Heinz haben es fast erwartet, aber Bernard ist wie vom Donner gerührt: Eva hat sich wieder, entsprechend ihrer ursprünglichen Pose, von allen dreien abgewendet.

Version 2