Von Raina Bodyk

Versonnen blickt William aus dem verrußten Fenster. Er liebt diese laute, bunte Stadt: Ihre Gerüche nach gebratenen Fleischstücken, nach süßen Pasteten, das Wiehern der Gäule und das heisere Gebrüll der Marktschreier. Vollgepackte Karren, die vorbei rattern, fahrende Musikanten mit ihrem blechernen Gedudel. Hier herrscht pralles, ohrenbetäubendes, stinkendes, duftendes Leben. Hier sammelt er die Vorbilder für seine Komödien und Dramen. Von den Lasterhaften, Närrischen bis hin zu den Bigotten und Machthungrigen.

*

„Bist du fertig, Julia? Der Vorhang geht in einer Minute auf.“

„Ja, ja, ich komm ja schon. Sag, riechst du auch den köstlichen Braten? Ich hab so Sehnsucht nach Verona. Mal wieder an einer  exquisit gedeckten Tafel zu speisen!“

Der Angesprochene lässt seine Blicke über die Zuschauer schweifen und entdeckt den feisten Kerl, der gerade in das duftende Fleisch beißt, das seiner geliebten Julia so verführerisch in die Nase gestiegen war. Was ist das für ein Leben, das sie führen?! Sich vor diesen furzenden, rülpsenden, stinkenden Zuschauern seiner Seele im Spiel zu entblößen. Sie schmatzen, trinken Bier, spielen Karten. Sie johlen und rufen dazwischen. Es ist zu abscheulich. Wie so oft, hat man gestern wieder einen der unzähligen Taschendiebe ertappt und ihn zur Gaudi aller, an einen Pfahl auf der Bühne angebunden. Die Leute schöpfen ein inniges Vergnügen daraus, ihn zu verspotten und mit Äpfeln und Nüssen zu bewerfen. Niemand interessiert sich für ihrer beider Tragödie. 

Nachdem der verbannte Romeo aus Verona nach Mantua geflohen ist, hat er, Paris, wieder einmal um Julias Hand angehalten, die sie ihm stets verweigert hat. Leider wusste er nicht, dass die Capulets ihre Tochter ohne deren Einverständnis verheiraten wollten. Da ihr Geliebter fort war und der Vater mit ihrer Verstoßung aus dem Elternhaus drohte, hat sie (obwohl sie bereits heimlich seinem Rivalen angetraut war) eingewilligt. Seither leidet Paris. Seine Angebetete verachtet ihn und würdigt ihn keines Blickes. Nichts als Streitereien auf der Bühne.

*

William reibt sich die Augen. Träumt er noch? Wie sind die zwei in seine Schlafstube geraten, wo er gerade seinen mittäglichen Rausch ausschläft? (Das Bier in der ‚Meermaid‘ ist zu köstlich!)

„Warum seid ihr nicht im ‚Blackfriars‘? Die Vorstellung sollte bald losgehen.“

„Wir sind im Theater!“

„Das sehe ich! Macht, dass ihr dorthin kommt!“

„Shakespeare, wir müssen mit dir reden. Dieses elende, erniedrigende Dasein muss ein Ende haben. Du hättest dich für dein Theaterstück mit unserer Hochzeit zufrieden geben sollen, statt unsere Ehetragödie auszuschlachten und uns damit jeden Tag zu demütigen. Jeder Taugenichts darf sich über unser unglückseliges Leben lustig machen, mich verhöhnen, weil ich Julia trotz allem liebe. Sie dagegen wird allseits bewundert für ihre unerschütterliche Liebe zu Romeo. Jeden einzelnen Tag bin ich der Verachtung und dem Hass des gemeinen Volkes ausgesetzt. Ohne mich wäre sie verstoßen worden, angewiesen auf die unwillige Barmherzigkeit von entfernten Verwandten. Niemand würdigt das“.

„Raus hier, ihr Hochstapler, aber flugs! Ich habe die beiden erfunden. ERFUNDEN!“ Der Dichter klopft dabei mit der flachen Hand bedeutungsvoll gegen seine hohe Stirn.

Du hast uns geschaffen, jetzt leben wir. Was glaubst du denn, was mit deinen Geschöpfen geschieht?! Wir rackern uns Tag für Tag ab, zig Vorstellungen überall im Land.“

„Ha! Jetzt hab ich euch! Wie sollte das denn wohl gehen?!“

„Wir leben in einer geistigen Welt. Wir sind überall, wo dein Stück, unser Leben, gespielt wird.“

William guckt ungläubig, aber auch merklich verunsichert. Spricht er gerade wirklich mit Personen, die er erfunden hat?!

„Geh doch einfach ins Theater und sieh nach, ob wir von Beginn an auf der Bühne gestanden haben. Wir treffen uns anschließend in Saint Paul’s.“

*

Der Stückeschreiber betritt die Kathedrale mit einem Ausdruck, als sei ihm der Leibhaftige persönlich begegnet. Das Paar steht tatsächlich in diesem Augenblick wie jeden Nachmittag auf der Bühne! Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugehen! Er schaut sich um, ob man ihn beobachtet, und bekreuzigt sich heimlich. Sicher ist sicher!
Normalerweise liebt er das Tohuwabohu hier. Heute aber hat er keinen Blick für die Händler und Knechte, die den Dom mit ihren Lasten als Durchgang benutzen. Hier finden sich alle: die Säufer, die auf den Bänken ihren Rausch ausschlafen, die Geldverleiher mit ihren betrügerischen Geschäften, die Rechtsverdreher und ihre Kunden. Gewöhnlich findet er es höchst vergnüglich, dass neben all dem Gepolter, Bescheißen, Fluchen in einem Teil des Domes die Orgel spielt und Gottesdienst gefeiert wird.

Endlich erspäht sein suchender Blick in einer ruhigen Ecke, an eine Säule gelehnt, Paris und Julia. Er nähert sich vorsichtig, fast ängstlich, könnte man meinen, den beiden mit unsicher hin und her huschenden Augen.

„Also gut, nehmen wir nur einmal an, ihr seid wirklich die Produkte meiner Fantasie. Nur angenommen! Was wollt ihr, das ich tue?“

„Ganz einfach! Schreib dein Drama um.“

„Waaas? Niemals!“

„Du bist dafür verantwortlich, dass wir beide unsere unsterbliche Sehnsucht nicht leben dürfen. Täglich leide ich darunter, dass Julia meine Liebe nicht erwidert und sie verzehrt sich nach Romeo.“

„Wisst ihr eigentlich, was es mich gekostet hat, dass ihr beide auf der Bühne zusammensein dürft? Ich musste die Höflinge umschmeicheln, vor jedem Dahergelaufenen katzbuckeln. Ich mochte mich vor so viel Heuchelei gar nicht mehr im Spiegel ansehen. Du solltest selbst dein Leben spielen dürfen, Julia. Du dürftest inzwischen wissen, dass auch Frauenrollen von Männern gespielt werden müssen. Die so frommen Pharisäer haben von der Kanzel meine Schamlosigkeit verteufelt und die Hölle beschworen für alle, die sich das ‚Weibsstück‘ im Theater ansehen wollen. Die Pest soll sogar die Strafe für die sündige Schauspielerei sein!“

„Versteh doch, wir ertragen das nicht länger.“

„Ihr habt euch und mich berühmt gemacht. Ihr spielt vor der Königin! Freut es euch denn gar nicht? Nicht zuletzt sichert ihr mir ein fürstliches Auskommen. Ich wäre schön dumm, das alles aufzugeben!. Ich bin euch auch sehr dankbar für alles.“

„Dankbar! Was soll uns das bringen? Du bist es uns schuldig! Hast du kein Herz? Wir können dein Stück zwar nicht ändern. Aber wir könnten zum Beispiel ein ganz harmonisches Paar spielen. Und vorbei wäre es mit deiner schönen Dramatik! Deine Zuschauer würden sich nicht mehr vor Lachen oder Häme auf die Schenkel klopfen.“

„Ihr droht mir?!“

„Wir sind verzweifelt.“

William ist empört. Sie sind seine Geschöpfe! Sie können ihm nicht drohen. Andererseits … ein höllisches Grauen überfällt ihn. Ist es Hexerei? Ist der Teufel hinter ihm her? Ist er verdammt?

„Also gut denn! Erzählt mir genau, was für ein Leben ich euch schreiben soll.“ 

*

2 Monate später

‚Paris und Julia‘ steht auf dem Programm. Gröhlende Zuschauer lümmeln sich auf dem Stroh rings um die Bühne. Feixend und lärmend fordern sie das Erscheinen des berühmten Paares. Pünktlich mit dem dritten Schlag der Kirchenglocke wird der Vorhang aufgezogen. Ein Brett tut kund: ‚Küche in Verona‘. Julia, ein grobes Leinentuch um die Hüften gebunden, rührt auf der fast leeren Bühne emsig in einem dampfenden Kessel. Paris sitzt am schweren Küchentisch, an seinen Beinen hängen übermütig zwei Knaben, dem jungen Mann wie aus dem Gesicht geschnitten. 

„Julia, Liebes, so nimm mir doch mal die Bälger ab.“

„Ich bin beschäftigt! Seit die Köchin uns verlassen hat, versuche ich mein Bestes.“

Paris denkt bekümmert, dass ihr ‚Bestes‘ nicht gerade wohlschmeckend ist. „Verdammt, was für ein Leben! Ich bin es so satt! Dauernd lassen uns die Dienstboten im Stich, weil du dein Temperament nicht zügeln kannst. Die Kinder machen mich nervös! Sie sind so anstrengend und unruhig. Manchmal wäre ich am liebsten tot.“

„Dann stirb doch, du Tölpel!“, höhnt es aus dem Publikum.

„Genau! So was haben wir selbst zu Hause. Wir wollen was anderes sehen.“

Eine weibliche Stimme kreischt: „Was Romantischeres als das hier, mit viel Liebe!“

„Was Blutiges!“

„Nee, was zum Lachen!“

Julia ist wütend, jeden Nachmittag dasselbe Geschwätz. Sie werden mit Abfall beworfen, verlacht, gehänselt. Aus einer plötzlichen Eingebung heraus zieht sie einfach den Vorhang zu und rennt schluchzend von der Bühne. 

„Paris, das halte ich nicht mehr aus Lass uns zu Shakespeare gehen, der soll das Stück noch einmal umschreiben.“

*

William sitzt in seinem Büro und reibt sich zufrieden die Hände. Alles läuft bestens, die Kassen füllen sich. Seine Immobiliengeschäfte tragen reiche Frucht.

„Nicht ihr schon wieder!“, begrüßt er die Besucher wenig begeistert.

„Man beschimpft und verhöhnt uns! Jeden einzelnen Spieltag. Was hast du nur aus uns gemacht? Spießige Langweiler!“ 

„Ich hab getan, was ihr wolltet. Jetzt müsst ihr damit leben. Ihr wünschtet ein normales Dasein, gegenseitige Zuneigung, Kinder, ein elegantes Haus. Wie stellt ihr euch denn ein ‚normales‘ Leben vor? Nur Feste feiern, tanzen, ausgehen, erlesen speisen?“

„Du hast Recht. Wir haben nicht gewusst, wie es sein würde. Du musst aber verstehen, wir sind nur durch deine Verse lebendig. Wenn niemand mehr ins Theater kommt, wird es uns nicht mehr geben.“

„Ich begreife nicht. Ihr steht doch leibhaftig vor mir.“

„Du bist ganz schön schwer von Begriff. Wir leben in deinem Kopf, weil du uns geschaffen hast, bis uns ein Leser herausholt oder ein Theaterbesitzer uns agieren lässt. Dann sind wir da, danach verschwinden wir wieder.“

„In Ordnung, aber dann ist Schluss! Mir kommt da nämlich gerade eine Idee. Paris, es tut mir leid, verlieb dich in eine andere Frau, du wirst gestrichen. Julia, du bekommst deinen Romeo. Bedingung: du stirbst!“

*

So entstand das bis heute immer wieder aufgeführte, berühmte Drama über Romeo und Julia, eine tragische Liebe. Eine einzige Nacht ist ihnen geschenkt, weil ein Brief nicht rechtzeitig eintrifft. Beide geben sich den Tod, weil sie ohne den anderen nicht leben wollen. 

Wenn der geneigte Zuschauer gut aufpasst, erwischt er vielleicht den Moment, in dem die ‚Verstorbene‘ ihrem Liebsten zuflüstert: „Unsere schönste Nacht wird ewig währen. Das hat William gut gemacht!“