Von Michael Voß

„Heute Nachmittag um fünf? Ja, das passt. Bis später!“

Lisa nimmt das Handy vom Ohr und legt auf.

„Harry? Warte nicht mit dem Abendessen auf mich. Bei Gerti hat jemand kurzfristig abgesagt und ich habe den Termin bekommen.“

Harry legt eine Scheibe Gouda auf sein Frühstücksbrötchen.

„Bei der Hellseherin?“, fragt er schmunzelnd.

„Gerti ist keine Hellseherin, sondern ein Medium und Astrologin.“

„Muss man dran glauben, an dies Astrozeugs.“

„Sie hat mir vor Jahren auf die Woche genau gesagt, wann ich dem Mann meines Herzens begegnen werde.“

„Und wann soll das sein?“

„Es war die Woche, als wir beide uns kennengelernt haben.“

„Zufall“, sagt Harry.

„Im Winter hat sie Trixie gewarnt, dass sie in diesem Mai Gefahr läuft, einem Aufschneider aufzusitzen und dass ein alter Freund ihr rechtzeitig die Augen öffnen wird.“

Hm. Harry erinnert sich nur zu gut. Vor drei Wochen hatte er selbst dafür gesorgt, dass Trixie das wahre Gesicht ihres Verehrers zu sehen bekam, woraufhin sie dem Kerl den Laufpass gegeben hatte.

„Vielleicht is´ ja doch was dran“, räumt Harry ein: „Was macht eigentlich so´n Medium? Meditieren?“

„Channeln.“

Harry atmet auf: „Joh, Netzwerktechnik! Sie richtet VPN-Tunnels ein und so, stimmt ´s?“

„Nein, sie spricht mit den Toten“, seufzt Lisa: „Mach dich meinetwegen darüber lustig, aber ich habe das Gefühl, dass mein Opa mir noch was sagen wollte, bevor er starb.“

 

Abends ist Lisa früher zurück als erwartet. Harry gießt ihr einen Tee ein.

„Und, was hat dein Opa gesagt?“, fragt er vorsichtig.

„Nichts“, sagt Lisa und nimmt sich eine Scheibe Brot. „Gerti hat keine Verbindung gekriegt. Aber ich habe dir einen Auftrag mitgebracht. In ihrer Wohnung ist ein Abfluss dicht.“

„Mach´ ich gleich morgen.“

 

Am nächsten Tag parkt Harry den Rohrfrei-Transporter vor einem tristen, in die Jahre gekommenen Mietblock. Er schnappt sich den Werkzeugkoffer und marschiert die Treppe hoch bis in den Vierten und drückt auf die mit „Gerti“ beschriftete Klingel. Eine schmale Enddreißigerin im bunten Sari öffnet.

Ach du liebe Zeit! Das Kind wiegt keine fuffzich Kilo!, denkt Harry erschrocken. 

„Tach, Abflussdienst Kaminski“, sagt er zögernd.

Kohlschwarze, kluge Augen mustern ihn in Windeseile.

„Harry, nicht wahr? Komm ´rein!“

Ihre Stimme ist melodisch, klar und schnell. Harry folgt ihr in die indisch dekorierte Wohnung, wo es intensiv nach Räucherstäbchen duftet. In der blitzsauberen, aufgeräumten Küche bleibt Gerti stehen und deutet auf das Waschbecken, in dem eine Handbreit hoch das trübe Spülwasser steht.

„Meinst du, du bekommst das wieder hin?“, fragt sie.

Wie ein Wasserfall redet die zierliche Frau weiter: „Gestern war wirklich ein ganz übler Tag, Saturn Konjunktion Mond, da fließt nichts mehr. Leute sterben an Gerinnungsstörungen, die Milch wird dick, Herzen verstocken, Aktienkurse gehen runter. Seitdem habe ich keinen Kontakt mehr. Vielleicht muss erst der Abfluss frei sein, damit ich wieder channeln kann.“

Harry versteht nur Bahnhof.

„Möglich“, brummt er.

„Ich wusste, dass du das verstehst. Zwar lässt dein Äußeres weniger auf einen Denker schließen, eher auf einen bodenständigen, pragmatischen Typ. Allein dein breites Kreuz – du hast bestimmt einen Stier-Aszendenten. Aber unbewusst zapfst du die universale Weisheit an, denn deine Sonne muss im achten Haus stehen – sonst würdest du dich nicht Tag für Tag mit der Unterwelt in Verbindung setzen.“

„Äh, ja?“

„Du machst Abflüsse frei, die Verbindung nach unten. Astrologisch ist das dem Pluto  zugeordnet, dem Herrscher der Unterwelt und des achten Hauses.“

„Ich mache mich mal an die Arbeit“, sagt Harry und öffnet den Werkzeugkoffer: „Und meine Hausnummer ist siebzehn, nicht acht.“

Gerti lacht: „Ich spreche vom achten Haus in deinem Horoskop. Nebenbei: Numerologisch passt es auch, denn die Quersumme von siebzehn ist acht.“

Die Arme! So schlau und trotzdem voll auf dem Holzweg!, denkt Harry.

Er öffnet den Spülenunterschrank, demontiert den Siphon und lässt das Wasser in einen Eimer ab, bevor er dem Abflussrohr mit der Spirale zu Leibe rückt. Zehn Minuten später ist alles wieder in Ordnung, gewischt und aufgeräumt.

„Ich wusste es!“, freut sich Gerti: „Dass du es schaffst und dass sie wieder hier sind!“

Harry schaut sich um.

„Äh, wer soll denn hier sein?“

„Na, die Stimmen aus dem Jenseits! Jetzt kann ich wieder channeln!“

„Ja ne, das ist aber nich´ das Jenseits, sondern nur das Fallrohr in diesem alten Haus. Großer Durchmesser und keine Körperschallisolierung. Deswegen hörst´e undeutliche Stimmen un´ Geräusche aus den Wohnungen über und unter dir“, erklärt Harry und nimmt seinen Koffer in die Linke.

Gerti lächelt verständnisvoll.

„Da spricht der praktisch veranlagte Stier-Aszendent ohne Sinn für das Übersinnliche. Macht aber nichts. Vielen, vielen Dank, du hast mich gerettet! Ich bringe dich zur Tür.“

Sie macht einen Schritt und bleibt dann unvermittelt stehen. Ihre Augen flackern kurz, klappen zu. Gerti beginnt heftig und laut zu atmen.

Ach du Sch …! Die kriegt ´nen Anfall!, denkt Harry, zieht das Handy und wählt eins-eins-zwei, während er Gerti im Auge behält, bereit, sie aufzufangen.

„Die Leitstelle der Feuerwehr. Was ist passiert und wo befinden sind sie sich?“, tönt es in seinem Ohr.

Zack!

Gertis Augen stehen wieder offen, ihre Atmung ist normal.

„Ich habe eine Botschaft von Lisas Großvater. Er sagt, ihr sollt sie Mia nennen.“

Harry fällt das Handy aus der Hand.

 

Nach einem Jägermeister und einem Joint aus Gertis Notfallapotheke steht Harry mühselig vom Küchentisch auf. Er wankt zur Spüle, hält seinen Kopf unter den Wasserhahn und dreht auf, kalt.

„Wie fühlst du dich?“, fragt Gerti interessiert-mitfühlend und reicht Harry ein Handtuch.

„Geht so“, ächzt Harry: „Muss nach Hause, jetz´.“

 

Mit weichen Knien parkt Harry den Rohrfrei-Transporter in der Einfahrt und steigt aus. Lisa kommt aus dem Haus, sie strahlt. Harry wirft einen raschen Blick auf ihren Bauch, doch es ist noch nichts zu sehen.

Er ringt sich ein tapferes Lächeln ab und stottert: „Äh, geht´s dir gut, Süße?“

„Aber natürlich! Und jetzt schau doch mal endlich hier, Harry!“, sagt Lisa aufgeregt und hält ihm eine kleine, schwarze Katze mit weißen Pfötchen entgegen: „Die ist mir vorhin zugelaufen. Ist sie nicht niedlich? Wir müssen ihr noch einen Namen geben. Was hältst du von Mia?“

 

V3

 

6232 Zeichen