Von Eva Fischer

Hanna schaut auf das belegte Brötchen, das auf dem Küchentisch des Büros liegt. Obwohl ein Duft von knusprigem, frischem Teig in ihre Nase steigt, hat sie den Appetit verloren.

Was wäre passiert, wenn sie die Bäckerei eine Stunde früher oder später betreten hätte? Dann wäre sie Bea nicht begegnet. 

Sollte sie sich nicht freuen, dass sie zufällig ihre ehemalige Schulfreundin getroffen hat? Über dreißig Jahre ist es her, dass sie sich aus den Augen verloren haben. In Zeiten von Facebook eher ungewöhnlich für eine Freundschaft, die in der fünften Klasse begann und nach dem Abi abrupt endete. Die Erinnerung an dieses Ende ist in Hannas Gedächtnis verwischt, lässt sich nur schwer entziffern wie die Buchstaben, für deren Entschlüsselung sie seit neuestem eine Brille braucht.

Beim Bäcker haben sie sich freundlich und überrascht angeschaut. Das gibt es doch gar nicht! Du hier! Was für ein Zufall! Wir müssen uns unbedingt treffen! Kommst du zu mir oder ich zu dir?

Letzteres war einfach zu klären. Hanna wohnt ganz in der Nähe, auf der Prinzenstraße, während Bea erst seit kurzem wieder in der Stadt ist, in der sie einst gemeinsam das Goethe-Gymnasium besucht haben.

„Also bis Freitag um 19 Uhr bei mir. Ich freue mich schon riesig. Wir haben uns ja so viel zu erzählen“, hört sich Hanna sagen.

Hanna beißt in das Brötchen. Der mit Käse und Gurke vermengte Teig will nicht rutschen, stellt sich sperrig an. Sie packt das Brötchen wieder in die Tüte und nimmt einen großen Schluck Kaffee, um ihre Kehle wieder frei zu bekommen.

 

„Du hast Bea getroffen! Das gibt es doch gar nicht!“

Andy schaut Hanna erstaunt an. Sie glaubt ein Funkeln in seinen Augen zu sehen.

„Dann werde ich mich wohl am Freitag mit Mio treffen, damit ihr euch ausquatschen könnt. Ihr habt euch sicher viel zu erzählen.“ 

Hanna überlegt, ob das stimmt. Was hat sich in den letzten dreißig Jahren so grundlegend in ihrem Leben verändert?

Sie hat geheiratet, hat einen Sohn bekommen, der mittlerweile auch schon das Abi gemacht hat und in einer fremden Stadt studiert. Sie selbst arbeitet in einem Architektenbüro, was ihr Spaß macht. Sie wohnt in einer schönen Altbau-Eigentumswohnung mitten in der Stadt. Alles in allem nichts Spannendes oder Aufregendes. Na ja, vielleicht hat Bea etwas Interessantes zu erzählen. 

 

„So Ladies! Der Champagner steht gekühlt im Eisschrank.“

„Ach Andy! Das gibt es doch gar nicht. Schön, dich wiederzusehen! Du bleibst doch bei uns.“

„Nein Bea, ich bin verabredet. Du wirst dich doch sicher nach dieser langen Zeit mit Hanna ausquatschen wollen.“

Er blinzelt ihr zu.

„Und denk dran, die letzte macht das Licht aus.“

Ein greller Strahl erhellt Hannas Erinnerung.

Richtig. In der Oberstufe haben sie sich öfter zu viert getroffen, über Gott und die Welt diskutiert und die Nacht durchgesoffen mit mehreren billigen Flaschen Rotwein. Für Hanna ging immer um Mitternacht das Licht aus. Da versank sie schlafend in einem Sessel. Auch die Kondition von Beas damaligen Freund Micki ließ nach Mitternacht merklich nach. Lediglich Bea und Andy hielten die Stellung und oft war Bea tatsächlich die letzte und löschte das Licht. 

Oh je, wie werde ich Bea rechtzeitig wieder los?  Warum haben wir uns nicht an einem neutralen Ort getroffen, denkt Hanna. Ihr Lächeln wirkt etwas eingefroren, als sie die Sekt-Gläser für beide füllt.

„Prost, Bea! Nun erzähle mal, wie ist es dir in den letzten dreißig Jahren ergangen!“   

„Ich habe in Australien einen Millionär kennengelernt. Mit ihm und seiner Jacht sind wir über die Weltmeere getuckert.“

Hannas Augen weiten sich.

„Ehrlich?“

„Ach Hanna! Du bist noch immer so herrlich naiv wie vor dreißig Jahren.“

Bea lacht dieses glockenhelle Lachen, um das Hanna sie schon früher beneidet hat. 

„Nein, mein Leben ist eine Aneinanderreihung von mittleren bis großen Katastrophen. Das möchtest du gar nicht so genau wissen.“

Hanna schluckt. Sie wüsste eigentlich sehr gerne, was das strahlende Glück des ehemaligen Klassenstars getrübt hat, dem die Männer scharenweise nachliefen wie einem Rattenfänger, die nie eine Diät machen musste, immer top aussah. Bea sieht immer noch gut aus, berichtigt sich Hanna.

„Komm, reden wir lieber von dir!“, fordert Bea sie auf.

„Du bist also noch immer mit Andy zusammen. Das ist ja richtig süß! Wie läuft es denn mit euch beiden so? Ich meine im Bett?“

Hanna spürt, wie Röte über ihr Gesicht zieht. 

„Ach komm! Hab dich nicht so! Wir sind doch erwachsene Frauen! Mit fast fünfzig sind wir uralt. Da stehen wir doch über den Dingen. Prost!“

Bea trinkt das Glas mit einem Satz leer. 

„Ich kann doch mitreden bei deinem Andy. Was glaubst du, was wir gemacht haben, als du im Sessel gepennt hast? Kommt er immer noch viel zu schnell?“

Bea schenkt sich ein neues Glas Wein ein. Die Champagnerflasche ist schon längst leer. Sie grinst Hanna provozierend an.

„Das hast du aber damals immer geleugnet“, knurrt Hanna.

Sie spürt, wie hektische Flecken ihren Hals und ihren Ausschnitt in Besitz nehmen. Etwas steif erhebt sie sich aus dem Sessel.

„Entschuldigung! Ich muss mal aufs Klo.“

„Klar, entschuldige ich. Sitze ja nicht auf dem Trockenen und du musst wohl dein Make-up erneuern, Süße.“

Hanna spürt ihre Adern anschwellen. Wenn sie etwas nie leiden konnte, dann das herablassende „Süße“.  Sie schaut in den Badezimmerspiegel, nachdem sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser wieder auf Normaltemperatur gebracht hat.

„Verdammt! Dies hier ist mein Zuhause! Ich lasse mich nicht von dir fertig machen, du Bitch!“

Wütend funkelt sie ihr Spiegelbild an. Dann öffnet sie eine Schublade und schluckt mit etwas Wasser die starken koffeinhaltigen Tabletten, die ihr Sohn schon mal für Prüfungen benutzt und offensichtlich vergessen hat. Oder ging es ihm auch um eine Party, auf der er nicht einschlafen wollte? Hanna grinst in sich hinein. Neben dem Zahnputzbecher entdeckt sie ein vertrautes Fläschchen. Ein triumphierendes Lächeln huscht über ihr Gesicht, als sie es in die Jeanstasche steckt. Hoch erhobenen Hauptes kehrt sie zu Bea zurück.

„Auf unsere Vergangenheit!“, ermuntert Hanna ihre Freundin und prostet ihr zu.

„Ach, Süße, lass uns das Thema wechseln“, sagt Bea versöhnlich. „Vorbei ist vorbei, nicht wahr?“ 

„Ja genau!“, lügt Hanna. „Erzähle mal, was du momentan so machst.“

„Ich bin auf der Suche nach einem neuen Job. Meine alte Firma ist insolvent. Sehr schwierig, etwas Neues zu kriegen, wenn du auf die fünfzig zugehst.“

Hanna entdeckt die Fältchen, die sich wie ein Spinnennetz um ihren Mund gelegt haben.

„Ich muss auch mal. Wo sind denn hier die Örtlichkeiten?“ kichert Bea, als ob sie ein Bonmot von sich gegeben hätte.

„Die letzte Türe links“, informiert sie Hanna.

Etwas wackelig macht sie sich auf dem Weg und es dauert eine Weile, bis Bea wieder zurück ist, was Hanna sehr angenehm ist. Sie spürt, wie die Koffeindröhnung allmählich ihre volle Wirkung entfaltet. 

 

Um zwanzig nach zwölf hört Hanna den Haustürschlüssel. Sie hat mittlerweile den Tisch abgeräumt und aufgewaschen. Entspannt spielt sie mit ihrem Handy. 

„Was ist denn hier los?“  Andy schaut ungläubig auf das Sofa.

„Hast du noch auf einen kleinen Fick gehofft wie damals? Tja, die Zeiten ändern sich. Madame ist vor mir eingeschlafen. Ich schlage vor, dass wir jetzt das Licht ausmachen und auch ins Bett gehen.“

Sie drückt ihm einen Kuss auf den Mund und begibt sich ins Schlafzimmer.

„Schatz! Weißt du, wo meine Einschlaftropfen sind?“, hört sie Andy wenig später aus dem Bad rufen.

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