Von Winfried Dittrich

„Mensch, Oliver!“, ruft Arthur in den Telefonhörer. „Das kann doch nicht dein Ernst sein! Mitten in der Nacht!“ Arthur holt tief Luft. „Nein, ich sage Laura nichts … ja, ich weiß – das Baby … Wir regeln das schon.“

„Pssst, Arthur, der Kleine schläft!“, zischt Sara in den Flur der Wohnung, wo Arthur am Telefonschränkchen steht und sich, den Hörer am Ohr, mit dem Kopf an der Wand abstützt. „Was ist denn passiert? Wieso telefonierst du mit Oliver? Ist er nicht im Wohnzimmer? Da brennt doch noch das Licht.“

„Nein!“, ruft Arthur in einer Art flüsterndem Schreien quer durch den Flur. „Ich muss ihn bei der Polizei abholen. Er ist vorhin festgenommen worden.“

„Was?“ Sara steht plötzlich an der Schlafzimmertür und sieht hellwach aus. „Vor einer Stunde war er doch noch hier.“ 

„Ja. Das muss er mir auch erklären.“ Arthur öffnet die Schublade des Telefonschränkchens, nimmt seinen Geldbeutel heraus und kramt darin herum. „Wie viel Bargeld hast du noch? Ich brauche fünfzig Euro für ein Taxi und vierhundert für den Abschleppunternehmer.“

„Ich hab kein Bargeld mehr. Was soll das mit dem Abschleppunternehmer? Warum erzählst du so ein wirres Zeug?“

„Mein Gott, Sara! Lass mich das erst mal regeln hier.“ Arthur geht ins Badezimmer. Ohne das Licht einzuschalten, zieht er eine prall gefüllte, zu einem entsorgungsbereiten Päckchen zusammengeklebte Einmalwindel hinter der gleichzeitig als Wickelkommode dienenden Waschmaschine hervor. Er öffnet die Klebestreifen der Windel und greift hinein. „Geld stinkt nicht“, spricht er mit einem ironischen Unterton vor sich hin, während er das Bündel Geldscheine durchzählt. „Ich muss unsere eiserne Reserve anbrechen.“ Dann legt Arthur einen Teil der Banknoten zurück in die Windel und lässt sie wieder hinter der Waschmaschine verschwinden. „Ruf bloß nicht Laura an!“

„Nein, bloß nicht! Die ist im Frühjahr schon total ausgeflippt, als sie Oliver bei der Polizei abholen musste. Das würde dem Kind nicht gut tun. Und Olli auch nicht …“ Sara schüttelt heftig den Kopf.

Im Hintergrund ist das Knöttern eines Säuglings aus dem Schlafzimmer zu hören. Aus dem Knöttern wird langsam ein Weinen und Brüllen.

„Komm. Ich ruf mir jetzt ein Taxi, und du kümmerst dich um den Scheißer, ok? Geh mal zurück ins Schlafzimmer, der Kleine beruhigt sich nicht.“ Arthur bekleidet sich hastig mit einem T-Shirt und einer Jeans, die er aus einem etwa fünfundsiebzig Zentimeter hohen Wäschehaufen freilegt, der sich neben der Waschmaschine auftürmt. Im Flur streift er sich eine Lederjacke über und greift nach den Schuhen, die er bei schlafendem Kind immer erst im Hausflur anziehen darf.

„Oliver hat ihn vorhin schon komplett mit dem Pastinakenbrei abgefüttert, bevor ich den Kleinen hingelegt habe.“ Das Schreien des Kindes wird lauter. „Wir brauchen jetzt den Schnuller. Vielleicht hilft der ja.“

Arthur zieht die linke Augenbraue hoch. „Abstillen und gleichzeitig mit der Beikost anzufangen, ist vielleicht ein bisschen zu ehrgeizig gewesen. Da hatten Olli und sein Elternratgeber wohl recht.“

„Fang nicht an, zu diskutieren! Wo ist der Schnuller, Arthur?“

„Den wollte Olli – in weiser Voraussicht – vorhin noch abkochen. Also die beiden, die ich gestern gekauft habe. Die müssen in der Küche liegen. – Bis gleich.“ 

Noch bevor Arthur die Wohnungstür hinter sich schließen kann, lässt ihn ein lautes Kreischen seiner Lebensgefährtin erstarren. Arthur hechtet zurück in die Küche. Sie kommt ihm ungewohnt feucht-warm vor. Im großen Küchenfenster kann er, anders als sonst, sein Spiegelbild nicht erkennen; die Scheibe ist vollkommen beschlagen. Vor ihm steht Sara mit dem kleinen Kochtopf in der einen und einem Zettel in der anderen Hand. Auf dem Zettel steht: 

Bin eingenickt – uppsi!
Aber keine Sorge, der Patenonkel regelt das!
Bin gleich wieder da. Nehme Euer großes Gefährt und die Klappleiter aus dem Abstellraum mit. 

Im Topf erkennt Arthur die Überreste von einem blauen und einem grünen Marken-Beruhigungssauger. Beide sind, bis auf das Saugteil, komplett geschmolzen.  

„So ein Idiot. Typisch … Typisch!“

„Was machen wir denn jetzt?“

„Leg den Scheißer doch einfach nochmal an.“

„Nein! Ich habe jetzt diese Abstill-Pillen genommen, meine Brüste tun total weh, und ich will das so schnell wie möglich hinter mich bringen. Da kann ich ihn jetzt nicht wieder anlegen. Das regt doch die Milchproduktion wieder an.“

„Und was ist mit dem Trinksauger von der Babyflasche?“

„Nein. Der ist nur zum Trinken da. Fang jetzt nicht an, zu diskutieren. Einen richtigen Schnuller brauchen wir, Arthur!“

„Wo soll ich denn mitten in der Nacht einen Schnuller auftreiben? Vielleicht nimmt er auch einen Finger von dir. Versuch es mal.“

***

„Hören Sie, da kommt was auf Sie zu! Wir haben Ihren Herrn Schreiber mitten im Stadtwald aufgegriffen. Er hat mit Ihrem Wohnmobil einen Fußweg befahren. Um drei Uhr nachts, an einer Lichtung zwischen Wildschwein- und Rotwildgehege, hat er es abgestellt. Können Sie dazu irgendwelche Angaben machen?“ Der Polizeibeamte blickt auf den Papierbogen, auf dem die Anzeige abgedruckt ist.

„Ehh… Nein. Oliver, also, er ist mein Cousin. Und er war zu Besuch bei uns, heute,  wollte bei uns übernachten. Er wird bald Vater und übt bei uns schon ein bisschen. “

„Ach, ja, was übt er denn?“, fragt der Polizeibeamte kritisch.

„Mein Sohn ist sechs Monate alt und hat heute zum ersten mal Brei bekommen. Und Oliver, also, Herr Schreiber, kam vorbei, um meinen Sohn zu füttern. Er ist der Patenonkel. Es wurde spät und er wollte bei uns bleiben. Busse fahren bei uns nicht mehr um zwei Uhr nachts.“

„Und warum fährt dann ihr Cousin mitten in der Nacht mit Ihrem Wohnmobil ins Naherholungsgebiet? Sind da Drogen im Spiel?“ Der Beamte schüttelt misstrauisch den Kopf.

„Wie bitte? Nein! Wie kommen Sie jetzt auf Drogen? Olli ist nur ein ziemlich verpeilter aber eigentlich vernünftiger Typ. Drogen? – Nein. Er hat uns gestern Abend sogar noch aus seinem Elternratgeber vorgelesen.“ Arthurs Stirn legt sich in Falten.

„Wir haben Herrn Schreiber in der Krone eines Baumes vorgefunden. “

„Auf einem Baum war er?“

„Er ist wohl über das Dach des Wohnmobils an die untersten Äste herangekommen, dann hochgeklettert. Selbstständig kam er aber nicht mehr herunter, weil die Klappleiter, die er oben auf dem Dach aufgestellt hatte, umgekippt war. Wir kontrollieren den Bereich wegen Vandalismus regelmäßig. Eine Streife hat ihn entdeckt.“

„Das verstehe ich nicht. Er wollte eigentlich einen Schnuller besorgen.“ Jetzt schüttelte Arthur ungläubig den Kopf. 

„Aha, das erklärt es.“

„Das erklärt was?“

„Laut Aussage des Kollegen von der Feuerwehr fiel Ihrem Cousin eine Schere aus der Manteltasche, als er in den Rettungskorb der Drehleiter einstieg.“

„Drehleiter? Schere? Was zum Teufel macht er nachts mit einer Schere so weit oben auf einem Baum?“

Den Polizeibeamten überkommt ein breites Grinsen, während er gleichzeitig angeekelt aus seiner Uniform guckt, als er Arthur antwortet.

Einen Moment später lacht Arthur ungläubig auf. Dann wird er still und sein Blick verfinstert sich.

„Wissen Sie was, Herr Kommissar? Richten Sie meinem Cousin aus, dass er hier bei Ihnen bleiben kann. Ich habe ihm nichts mehr zu sagen und gehe jetzt mein Wohnmobil auslösen. Seine Frau Laura rufen Sie bitte morgen früh an. Aber erst, wenn Sie alle anderen Schurken verarztet haben, die da bei Ihnen in der Zelle sitzen!“ 

Als Arthur durch die schwere Tür der Polizeiwache nach draußen tritt, drückt er sein Mobiltelefon ans Ohr und ruft kopfschüttelnd: „Sara, das war mal wieder so’n typischer ‚Olli’. Er bleibt hier … Erinnerst du dich an einen Schnullerbaum im Stadtwald? Ja, von dem die ganzen alten Schnuller herunterhingen. Da müssen wir gestern wohl bei unserem Spaziergang mit Olli und dem Kleinen vorbeigekommen sein … Der Olli kann mich mal…“

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