Von Nicole Leidolph

Ich sitze auf dem schwarzen Klappstuhl. Hier müsste eigentlich mittlerweile eine Mulde sein. Endlose Tage habe ich hier verbracht und dabei auf das kleine Wärmebettchen gestarrt. Wir haben es Aquarium genannt, weil es an allen vier Seiten Plexiglasscheiben hat und, als wäre das nicht schon drastisch genug, einen zusätzlichen Deckel. Es ist für Babys, die möglichst wenig Kontakt mit ihrer Umwelt haben sollen, für geräuschempfindliche oder berührungsempfindliche Neugeborene. Man nennt das Minimal Handling. Unser Baby lag dort. Ein schwerer Herzfehler, der noch schwerere Medikamente erforderlich machte, und die haben wirklich fürchterliche Nebenwirkungen. Nebenwirkungen, durch die ich meinen kleinen Sohn durch eine Scheibe kennenlernen musste und ihn einmal am Tag für maximal eine halbe Stunde auf den Arm nehmen durfte. Winzig war er, 2840 Gramm, mit all seinen Kabeln und der Sauerstoffbrille. Am Anfang hat die Magensonde den Blick auf sein Gesicht versperrt, wir wussten gar nicht richtig, wie er aussah.

Jetzt ist sein Aquarium leer. In diesem Zimmer bin nur noch ich. Es ist mir so merkwürdig vertraut. Vier Wochen waren wir hier. Vier Wochen klingen vielleicht lang, aber in dieser Welt, in der Welt der kranken Kinder, ticken die Uhren anders. Unseren Zimmernachbarn haben wir Neun-Monate-Larry genannt. Larry, weil er sich benimmt wie King Larry, und Neun-Monate, weil er mit seinem neun Monate alten Kind seit – Überraschung – neun Monaten hier ist. Hier im Kinderherzzentrum, in dem Herzen gebaut werden und die Ärzte Götter sind, die Leben schenken. Wir sind plötzlich in einem Club, in dem niemand Mitglied sein will.

Vor der Tür geht es hektisch zu. Ein Baby im Inkubator wird gerade vorbeigeschoben, ein älteres Kind fährt in seinem Bett in Richtung Herzkatheter-Labor, die Schwestern, Pfleger und Ärzte hetzen von Zimmer zu Zimmer. Sie sind gnadenlos unterbesetzt. Wir kennen beinahe jeden von ihnen. Um uns haben sie sich immer gerissen, weil wir wenig Arbeit gemacht haben. Man muss bei diesem stressigen Job pragmatisch sein. Es ist laut dort draußen, nur hier bei mir ist es ruhig. Ich bin so müde, dass ich glaube, nie wieder richtig wach zu werden. Angst zu haben schlaucht. Deshalb habe ich beschlossen, damit aufzuhören. Ich will nicht mehr, ich bin zu egoistisch, ich will glücklich sein. Ich will mein Leben zurück. Ich will nicht mehr auf einen Monitor starren, der mir sagt, wie schnell das Herz meines Kindes schlägt, ob die Sauerstoffsättigung im Blut zu niedrig ist, ob die Atmung aussetzt. Es gibt tatsächlich Eltern von gesunden Kindern, die sich so ein Ding kaufen. Ist es nicht verrückt, dass die Industrie ein Heidengeld damit macht, indem sie Angst und Sorge ausbeutet? So ein Monitor ist derart empfindlich, dass er ständig falschen Alarm meldet. Und dann? Will man sich sein Kind unter den Arm klemmen und jedes Mal in die Notaufnahme hetzen, weil die Sättigung im vermeintlich kritischen Bereich ist? Kein Elternteil, dessen Kind jemals Tag und Nacht überwacht werden musste, würde sich so ein Folterinstrument freiwillig anschaffen. Ich kenne zumindest niemanden und ich kenne viele solcher Eltern. Alle in diesem Krankenhaus.

Die Tür wird geöffnet und eine Schwester schaut herein. Für einen Moment dringt der Lärm zu mir. Wie heißt sie noch? Helga? Barbara? Ich kann mir Namen nicht mehr merken. Aber ich mag sie, denn sie ist ehrlich und gleichzeitig mitfühlend. Und sie hat Babys gern. Sie hat unseren Sohn immer Bübchen genannt.

„Brauchen Sie noch etwas?“

Ich schüttle den Kopf. „Nein, alles in Ordnung.“

Sie nickt und lächelt und schließt die Tür.

Stille. Ich bin wieder alleine. Ein Moment wird mir hier immer im Gedächtnis bleiben, bis in alle Ewigkeit. Es war, als einer der Chirurgen zu mir kam, nachdem er uns die Aufklärung vor der OP gegeben hat. Aufklärungen sind nie schön, aber dieser Mann setzt neue Maßstäbe. Er hat mich gefragt, wieso ich denn so fertig sei, wovor ich denn Angst hätte. Und das, nachdem er gesagt hat, die größte Sorge aller Eltern sei es, dass ihr Kind im OP verstirbt und sie sich nicht verabschieden könnten. Aber hey, das sei in diesen Fällen ausnahmsweise möglich. Denn dann darf man auch „unrein“ in den OP. Allerdings würden die Kinder hier ohnehin nicht sterben, sondern auf der Intensivstation. Beruhigend! Das will man hören, wenn das zwanzig Tage alte Kind am offenen Herzen operiert wird und einem erklärt wird, dass man dafür das Brustbein brechen müsse. Für die Herz-Lungen-Maschine benötigt man bei Babys übrigens immer Transfusionen, denn sie haben in etwa nur so viel Blut wie in eine Coladose passt. Interessanter Fakt, nicht wahr? Man lernt hier viel. Vieles, was ich nie wissen wollte. Ganz ehrlich, das Herz habe ich schon in der Schule nicht verstanden. Ich kann den Defekt meines Babys mit spannenden, medizinischen Fachbegriffen beschreiben und für einen Laien klingt es sicherlich beeindruckend, aber ich weiß nicht wirklich, was ich da erzähle. Wenn mir jemand etwas erklärt, vergesse ich es im nächsten Moment.

Die Tür öffnet sich erneut. Mein Mann kommt herein. „Hast du dich verabschiedet?“

Ich nicke und fühle mich dabei zentnerschwer.

„Gut, denn das Auto ist gepackt und ich sehe keinen Grund, hier länger zu bleiben.“ Er nimmt meine Hand und zieht mich hoch. „Komm, wir fahren nach Hause.“

Ich folge ihm zur Tür, vorbei an dem leeren Platz, an dem ein zweites Aquarium stand. Dave ist vor zwei Tagen gestorben. Er war drei Wochen älter als unser Baby. Es kam ganz unerwartet, alles war gut, er sollte eigentlich nächste Woche entlassen werden.

„Wo ist der Kinderwagen?“, frage ich. „Hast du ihn etwa alleine stehen lassen?“

„Das ist ein Krankenhaus.“ Er schüttelt lächelnd den Kopf. „Sie haben ihm dreimal das Leben gerettet. Sie würden es auch ein viertes Mal tun.“

Als wolle er mich beruhigen, macht er einen Schritt um die Ecke und zieht den grauen Kinderwagen heran. Darin liegt unser Baby, immer noch winzig, aber jetzt mit rosigen Wangen. Was ein repariertes Herz alles bewirkt. Ich kann es immer noch kaum fassen. Wir fahren tatsächlich nach Hause. Mit einem letzten Blick zurück greife ich nach dem Lichtschalter. Tschüss, lebensrettende Hölle. Ich werde dich nicht vermissen. Das Licht geht aus und ich schließe die Tür. Das Leben fängt für uns an.

 

Anmerkung:

 

Ich habe lange überlegt, ob ich diese Geschichte veröffentlichen soll. Das Baby ist mein Sohn. Er ist heute 21 Monate alt und man würde nie vermuten, dass ihm eine Herzklappe fehlt und ein Stent seine Lungenschlagader erweitert. Er hat das große Glück, „nur“ einen Herzfehler zu haben und keine kognitiven Beeinträchtigungen oder Probleme mit anderen Organen. Hätten wir nicht bereits vor der Geburt Bescheid gewusst, sähe das jetzt sehr wahrscheinlich anders aus. Natürlich müssen wir trotzdem regelmäßig zum Kardiologen, zum Herzkatheter und ihm stehen noch mindestens zwei OPs am offenen Herzen bevor. Das sind die einzigen Situationen, in denen mir klar wird, dass er „etwas hat“, denn wie die meisten chronischen Krankheiten sind auch Herzfehler nach außen hin unsichtbar.

 

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