Von Theres Pötzsch

Karldergroße triumphierte, als er sich auf den Heimweg machte. Das Gefühl, fürs Erste verschont geblieben zu sein, stimmte ihn dankbar und seltsam heiter. Mit schnellen Schritten ging er durch die menschenleeren Straßen, am liebsten wäre er gerannt, um die angestaute Energie herauszulassen. 

Er war verhört worden. Schroff hatten die Polizisten ihn angewiesen mitzukommen. Jedes Gegenwort, jede Weigerung hätte zu einer gewaltsamen Festnahme geführt, also war er folgsam in den Wagen eingestiegen. Bei der anschließenden Vernehmung musste er genau schildern, was vorgefallen war. Immer wieder stellten sie die gleichen Fragen. War er oft in dem Club? Wer hatte wen zuerst angerempelt? Sie gaben ihm das Gefühl, unmündig zu sein, wie jemand, der sich einfach nicht benehmen will, trotzdem riss er sich zusammen. Er spielte glaubhaft den Reumütigen und sie ließen ihn schließlich mit einer jovialen Bemerkung gehen.

Als er Zuhause ankam, war er geradezu gut gelaunt und er freute sich umso mehr, als Hanna aus dem Hauseingang auf ihn zukam, zitternd und mit den Händen in den Hosentaschen. 

„Hey Hanna, du musst stundenlang gewartet haben.“

„Eigentlich wollte ich zum Präsidium kommen, aber ich hatte Angst, dass wir uns verpassen. War’s schlimm?“

„Shit, mein Akku war wieder leer, oder? Es ist alles gut, ich war ganz kleinlaut.“ Er lachte.

„Und du? Wirst du vorgeladen?“, fragte er sie.

„Das weiß ich nicht. Sie haben nur meine Personalien aufgenommen, weil ich dabei war.“

„Es wird schon werden, lass uns reingehen.“

 

„Ich sollte dich aufwärmen“, sagte er in der Wohnung. Er zog Hanna auf das Sofa und küsste sie leidenschaftlich. Hanna löste sich aus seiner Umarmung und fasste ihm an die Wange.

„Autsch, lass das.“

Er zog ihre Hand weg. Sein linker Wangenknochen schmerzte, bestimmt war sein Gesicht an der Stelle angeschwollen.

„Karli, willst du nicht erzählen wie es war?“

„Nicht jetzt.“

Er begann sein Hemd aufzuknöpfen. Hanna sah ihm verständnislos zu.

 „Was heute passiert ist …“, begann sie.

„War halb so wild. Ich habe jetzt große Lust auf dich“, unterbrach er sie. Wieder versuchte er, Hanna zu küssen, aber sie drehte sich weg. 

„Ich kann jetzt nicht …“ 

Karldergroße ließ von ihr ab. Er wurde sich bewusst, wie lächerlich er in dem Unterhemd aussehen musste. Ärgerlich zog er sich wieder das Hemd über und stand auf.

„Dann übernachte doch wenigstens hier, du hast noch einen weiten Weg“, sagte er, ohne sie anzusehen.

„Ich will auf der Couch schlafen.“

„Natürlich, die Dame …“

Er holte eine Decke aus dem Schlafzimmer und drückte sie ihr unsanft in die Arme.

„Warum bist du hergekommen, wenn du eigentlich gar nicht bei mir sein willst?“

„Ich habe zu dir gehalten, obwohl du voll daneben warst, und habe noch stundenlang in der Kälte auf dich gewartet! Schon vergessen?“ 

Hanna hatte die Augen zu Schlitzen verengt, vor Wut oder um die ersten Tränen zu bändigen. Karldergroße ließ sich neben ihr auf das Sofa fallen. Eine Müdigkeit überfiel ihn, als hätte er nächtelang nicht geschlafen.

„Irgendwie hat das eine zum anderen geführt … Keine Ahnung. Es tut mir leid.“

Hanna ließ die Schultern hängen und sah auf ihre Fußspitzen.

„Bleib hier, bitte. Ich gehe jetzt schlafen.“ 

Zerstreut wankte er in das Schlafzimmer, fiel in sein Bett und schlief noch angezogen darin ein. 

 

Nach einem kurzen, oberflächlichen Schlaf voller hektischer Träume wachte er auf, weil Hemd und Hose unangenehm drückten. An den letzten Traum konnte er sich noch erinnern: Er hatte seinen Gegner fest umklammert, zusammen waren sie über den Boden gerollt. Sie wurden gewaltsam getrennt, jemand packte ihm am Nacken und warf ihn auf die Straße. Er war jetzt ganz allein und rannte durch menschenleere Straßen, er rannte ohne ersichtlichen Grund. Plötzlich sah er sich selbst rennen, von hinten, aus der Sicht seines Verfolgers. Jemand schrie mehrmals „Karli!“, und „Karldergroße!“. Selbst im Traum konnte er die Stimme sofort zuordnen. Es war Hannas Stimme.

Er zwang sich aufzustehen und sich bis auf die Unterhose auszuziehen. Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Er war sich nicht sicher, ob Hanna gegangen oder geblieben war und ging leise in das Zimmer. Hanna atmete geräuschvoll und unruhig. Sie regte sich auf dem Sofa, als er näher trat.

„Karl, ich fühl mich nicht gut“, sagte sie heiser. Er schaltete die Stehlampe ein. Hanna war sehr blass, die Haare klebten ihr auf der Stirn.

„Was hast du denn?“

Hanna antwortete nicht und er griff besorgt nach ihren Händen, die in die Decke krallten, sie waren kalt und feucht. Sie keuchte.

„Ich hole dir etwas zu trinken.“

Karldergroße brachte ihr ein Glas Wasser, sie trank aber nur einen Schluck. Sie atmete immer noch schwer.

„Du musst dich beruhigen, sonst kannst du ohnmächtig werden“, sagte Karldergroße und kniete sich vor das Sofa.

„Als die Polizei dich mitgenommen hat, habe ich mich schon komisch gefühlt“, sagte Hanna leise.

„Kribbeln deine Arme und Beine?“

„Ja, und meine Hände sind taub. Was ist das?“

„Nichts Schlimmes, ich kenne das. Du musst einfach ruhig atmen, dann wird es schnell besser.“

Er streichelte ihren Kopf, bis ihr Atem nach einer Weile gleichmäßiger ging. 

„Kannst du dich aufsetzen?“, fragte er.

Hanna kippte bei dem Versuch zur Seite weg, versicherte aber, dass es ihr besser ginge. Karldergroße hievte sie mit einiger Mühe hoch, gemessen an ihrer Körpergröße war Hanna erstaunlich schwer, und trug sie in sein Bett. 

„Meine Prinzessin“, sagte er ächzend und ließ sich gleich neben sie fallen. 

„Karldergroße“, sagte Hanna und lächelte schwach.

„Das war eine Panikattacke. Du schläfst zu wenig in letzter Zeit, das ist ungesund. Du musst dich mal wieder ausschlafen, dann geht’s dir besser.“

Hanna nickte mit geschlossenen Augen. Durch die geöffnete Tür schien das Licht der Stehlampe aus dem Wohnzimmer. Er stöhnte.

„Ich kann nicht schlafen, wenn Licht hereinscheint.“

„Mach es eben aus“, murmelte Hanna mit leidvollem Ton.

Karldergroße stand zu schnell auf, ihm wurde leicht schwindelig. Leise fluchend ging er ins Wohnzimmer, knipste die Lampe aus und kam zurück ins Schlafzimmer. Er kroch zurück in das Bett, schlang seine Arme um Hanna und drückte die Nase in ihre Locken. Diesmal konnte er nicht so leicht einschlafen. Er hatte schon wieder Lust, aber da war jetzt nichts zu machen. Lange lauschte er Hannas Atemzügen, die nun langsam und tief waren. 

 

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