Von Michael Kothe

Heiß ist es und trocken. Das Mädchen greift den Krug vom Brunnenrand und hebt ihn auf das zum Kranz gewundene Tuch auf seinem Kopf. Noch kann es das Gefäß nicht wie die Älteren freihändig auf dem Kopf tragen, abwechselnd hält es die Henkel mit je einer Hand. Aufrecht geht es über die rissige Erde auf die Hütte zu. Vor der Matte, die den Eingang verschließt, zerstößt seine Mutter Getreide zu Mehl, aus dem sie später Fladen backen wird. Einen Moment hält sie in der Bewegung inne und lächelt dem Mädchen zu.

Hart hatte mich das fragende Rufen von draußen aus dieser Kindheitserinnerung gerissen. Als sie auf meine Antwort hin begannen, zu mir vorzudringen, war es nur folgerichtig gewesen, die Kerze anzuzünden. Ein Ziel sollte sie ihnen weisen und sie erkennen lassen, wie weit sie vorangekommen waren.

Wäre es besser gewesen, wenn ich nicht geantwortet hätte? Wären sie dann wieder gegangen? Trotz der durchdringenden Lautstärke hatten Ihre Fragen hoffnungsleer geklungen, und erst meine Antwort ermunterte sie anzufangen. Mein kurzes Rufen war unüberlegt gewesen, dem Überlebensdrang geschuldet, der jedem Wesen innewohnt. Obwohl ich mich doch entschieden hatte, mein Schicksal anzunehmen!

Tränen rinnen neben meinen Nasenflügeln hinab, als ich mir deutlich mache, was ich damit in Gang gesetzt habe.

Sachte lege ich mich wieder hin, den Rücken ihnen zugewandt, und schlinge meinen freien Arm schützend um Lena. Seit Stunden rührt sie sich nicht mehr, hat aufgehört zu wimmern. Steif ist ihr kleiner Körper, ihre Haut fühlt sich klamm an. Vergeblich will ich sie davor bewahren, dass sie bald jemand aus der Dunkelheit hebt, nur, damit sie kurze Zeit später in eine andere, ewige Dunkelheit versenkt würde.

Lena. Magdalena … Seltsam, dass meine Gedanken in diese Richtung wandern. Martin war Christ, ich bin getauft, und unseren Kindern haben wir biblische Namen gegeben. Geholfen hat uns das nicht unter diesen Menschen, in dieser Zeit, in dieser Kultur. Maria Magdalena, Maria aus Magdala. Im Lauf der Jahrhunderte hat sich Magdalena zum eigenen Namen entwickelt, und an Magdala, an den Ursprung, denkt – wie auch an meine eigene ferne Heimat – niemand mehr. Nurmehr Lena.

Und mein Josef, der einzige, den im Dorf niemand jemals Sepp gerufen hat wie all die anderen Josefs? Ausgerechnet er, der feinfühlige, verletzliche Junge? 

»Mama, was ist ein Bastard?«

Geweint hat er nicht, als er mir die Frage stellte. Er wusste nicht.

Fahrig griffen meine Finger in sein Kraushaar, streichelten dann tätschelnd seine Wange.

»Ein Bastard ist ein Mischlingskind. Das sagt man, wenn man jemanden oder seine Eltern nicht leiden mag. Es ist ein Schimpfwort.« Hätte ich das antworten sollen, ihm die Wahrheit sagen?

»Das sagen die Leute, wenn sie auf jemanden neidisch sind, weil sie nicht sein können wie er.« 

Seine Unsicherheit war verflogen. Seine Augen strahlten, als er zu dem Holzpferdchen griff, das sein Vater noch für ihn geschnitzt hatte. 

Martin brachte uns ins Dorf, als er in der Stadt seine Arbeit verloren hatte. Sein Elternhaus hatte jahrelang leer gestanden, doch war es uns bald eine Heimstatt geworden. Heimat nie, dafür sorgten schon die Menschen. Sobald sie Martins oder meiner ansichtig wurden, verstummte ihr Gespräch, als habe jemand einen Schalter umgelegt. Einen Lidschlag lang hoben sie die Köpfe, verfolgten uns mit ihren Blicken. Doch gleich steckten sie die Häupter noch enger zusammen, und ein Tuscheln begann.

Martin, warum hast du uns verlassen? Haben sie dich mürbe gemacht? Bist du deswegen zu der anderen gezogen? In die Stadt zurück? Leise seufze ich. Gedankenverloren streiche ich Lena übers Haar. Denkst du wenigstens ab und zu an uns? Aber vielleicht hattest du Recht, denn eine glückliche Zukunft im Dorf wäre uns nie vergönnt gewesen. Nur wurde der Spießrutenlauf schlimmer, seit du fort bist.

Eines Tages schließlich fasste ich Josef und Lena bei der Hand.

Die Kerze flackert. Ich schüttle den Kopf, will diese Erinnerung abwerfen. Mache mir klar, dass die Kerze still steht. Unbeweglich. Es ist ihr Schein, der flackert. Tanzende Schatten malt er an die Wand. Grau in Grau, doch deutlich. Zeigt Menschen, die drohend Fäuste heben, Menschen, die prügeln. Seit Martin fort ist, hatten sie uns im Dorf beschimpft und geschnitten, angegriffen jedoch nie. Nur waren wir die einzigen, die nirgends anschreiben durften. Und Josef hatte in der Schule eine Bank für sich allein, ganz hinten unter der Weltkarte, die für jede Kultur und jede Religion eine andere Farbe zeigte. Die Schattenmenschen prügeln. Was werden die Männer machen, die uns bald erreichen? Sicherlich bringen sie uns ins Dorf zurück – und dann? Mir krampft sich der Magen zusammen bei dem Gedanken. Ich will nicht von hier weg. Nicht jetzt und nie mehr. Warum haben sie uns überhaupt gesucht?

So weit oberhalb des Dorfes ist das Leben rau, sind die Nächte kalt und feucht. Sie beginnen früh, weil die Bergwand der Hütte gegenüber die Sonne beizeiten aussperrt aus dem engen Tal. Einsam haben wir uns nie gefühlt, wir hatten uns. Ohnehin waren wir immer unter uns gewesen, schon im Dorf aus der Gemeinschaft ausgestoßen. Die Hütte habe ich gemütlich gemacht. Martins Großvater hat sie gezimmert als Wetterschutz, wenn er zum Ziegenmelken oder zum Holzfällen hier hochgestiegen war und die häufigen Regenfälle ihn über Nacht in den Bergen festsetzten. Nach und nach schleppte ich einiges an Hausrat herauf. Nachts, wenn mich niemand sah. Bis das Haus abbrannte. Angezündet, damit ich nicht noch mehr retten konnte. Beim ersten Ausräumen zog ich unsere beiden Ziegen hinter mir her. Den Käse tauschte ich einmal in der Woche gegen Brot. Sonst bot uns der Wald alles, was wir zu essen brauchten. So machten wir unser Leben erträglich, wir fühlten uns freier als im Dorf. Morsch und zugig war die Hütte anfangs gewesen, doch Josef hatte Moos in die Ritzen gestopft. Banal und doch so wirksam!

Josef. Vor Tagen habe ich ihn ans hintere Ende getragen. Dort stößt die Hütte an den Fels. Sie ist in den Überhang hinein gebaut, in die natürliche Wehr gegen Wind und Wetter. Dort ist es am kühlsten. Dort hält sich sein kleiner Körper am längsten. Doch nun, da sie sich uns nähern, schleppe ich mich zu ihm und nehme ihn behutsam auf. Schlaff hängen Arme und Beine herunter. Sein Kopf ist zur Seite gedreht, ich fühle ihn schaukeln, als ich meinen Jungen nach vorn trage. Sanft lege ich ihn aufs Bett mit etwas Abstand zu seiner Schwester. Gerade so weit, dass ich dazwischen passe.

Als ich mich aufs Fußende knie, um mich zu meinen Kindern zu legen, knarrt das Bettgestell. So, als ob auch es mich nicht ertragen könne. Es ist so alt wie die Hütte, war Ewigkeiten lang den Einflüssen dieser derben Landschaft ausgesetzt – wie die Menschen unten im Tal.

Von draußen höre ich Rufe. Sie gelten nicht mir, nicht uns. Die Männer rufen sich gegenseitig etwas zu, das ich nicht verstehen kann. Alles klingt dumpf unter den Steinen. Doch das Stöhnen erkenne ich, wenn wieder einer einen Brocken zur Seite wuchtet. Hart klingt es, wenn der über die anderen hinweg kullert, die sie schon abgetragen haben. Lange wird es nicht mehr dauern, bis sie sich durch die Gerölllawine zu uns durchgearbeitet haben. Sollte ich mich freuen?

Ich richte mich wieder auf. Bis sie kommen, will ich mit meinen Kindern die letzten Minuten im schützenden Dunkel der Erinnerung allein sein. Mich zwischen sie legen, sie in meinen Armen halten, eins auf jeder Seite. Kraftlos schlurfe ich zum Tisch, auf dem die Kerze brennt. Wenn ich die Kuppen von Daumen und Zeigefinger an meiner Zunge befeuchte und sie schnell um den Docht zusammendrücke, spüre ich keinen Schmerz.

 

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