Von Angelika Brox

Wenn ich morgens meine Wohnkugel verlasse, schaue ich jedes Mal gerne zu, wie die zweite Sonne am Horizont von Glieseria aufgeht. In meiner Kindheit stellte ich mir vor, dass die eine Sonne versuchte, die andere einzuholen. Doch das Schicksal der beiden war es, für alle Zeiten getrennt ihre Bahnen zu ziehen. Ihre Sehnsucht nacheinander wurde manchmal so stark, dass der Himmel rosa-orange zu glühen begann.

Inzwischen bin ich erwachsen geworden und denke mir keine Märchen mehr aus. Heute beschäftigt mich vielmehr die Sehnsucht nach meiner Herzensfreundin. Deshalb rufe ich nun meinen neuen Zweisitzer aus dem Unterstand, steige ein, lasse mich genussvoll in den superbequemen Flexformsitz fallen und gebe den Befehl: „Zu Tilia!“

Ich liebe das leichte Vibrieren, wenn der Gleiter aufsteigt. Geräuschlos schwebt er über die Ansiedlung silberner Wohnkugeln hinweg und sinkt schließlich vor einer von ihnen zu Boden.

Als ich aussteige, tritt Tilia auch schon zur Tür heraus. Offensichtlich hat sie bereits auf mich gewartet. Wie immer sieht sie wunderschön aus mit ihren filigranen, in vielen Grüntönen schimmernden Schuppen und den großen, gelben Augen, die nun vor Freude aufleuchten. 

„Sei gegrüßt, Lacer!“, sagt sie und ich antworte: „Sei du auch gegrüßt, mein Goldauge!“

Wir tauschen einen zärtlichen Nasenkuss, dann frage ich: „Hast du Lust auf einen Ausflug ans Meer?“

„Eigentlich sehr gern, aber es heißt doch, dass wir Energie sparen müssen.“

„Ich habe genug Vorrat“, beruhige ich sie und zeige auf die kleine gläserne Kiste im Stauraum, in der noch ausreichend rote Würfel gestapelt liegen. „Außerdem fliegen die anderen auch ständig herum. Warum sollen wir die Einzigen sein, die verzichten? Was würde das nützen?“

„Das ist auch wieder wahr. Na gut. Heute scheinen die Sonnen so herrlich, da machen wir uns lieber einen schönen Tag, statt uns zu sorgen.“

Wir nehmen nebeneinander auf den Flexformern Platz und ich befehle: „Ans Meer!“

In einer eleganten Kurve steigt unser Fluggerät auf und nimmt Kurs in Richtung Küste. Wir schauen auf die Siedlung hinunter. Freunde und Freundinnen, die zu Fuß unterwegs sind, winken uns zu und wir winken zurück. Dann beginnen die Felder, auf denen Käfer, Heuschrecken und Raupen gezüchtet werden. Ich lasse den Gleiter höher fliegen, damit Tilia nicht sieht, wie bleich und krank die Grünhalme aussehen. Seit unsere Nahrung immer knapper wird, gibt es auch immer weniger Kinder auf Glieseria. Ich möchte Tilia nicht die Stimmung verderben.

Doch schon deutet sie nach unten. „In früheren Umlaufzeiten wuchsen die Grünhalme viel kräftiger und die Blüten waren viel größer. Das kommt bestimmt von den Dämpfen, welche die Rotwürfel bei der Krafterzeugung freisetzen.“

Tröstend sage ich: „Unsere Wissenschaftler suchen ja bereits fieberhaft nach neuen Energiequellen. Bald haben wir wieder gesunde Luft und ausreichend Nahrung.“

„Hoffentlich finden sie schnell etwas“, meint Tilia und seufzt. Ich drücke ihre Hand und sie lehnt den Kopf an meine Schulter.

Mittlerweile überqueren wir das Abbaugebiet für Rotwürfel, eine riesige schwarze Fläche, die von hässlichen Kratern durchlöchert wird. Scharen von Grablingen fördern mühsam die Würfel zutage, die wir für unseren Energiebedarf dringend benötigen. Da sie immer knapper werden, müssen die Grablinge immer tiefer buddeln. Eine Arbeit, die nicht ungefährlich ist. Das weiß Tilia natürlich genauso gut wie ich. Um nicht unnötig ihr Gemüt zu beschweren, erhöhe ich die Geschwindigkeit, damit wir die Kraterlandschaft rasch hinter uns lassen.

Endlich kommt das Meer in Sicht. Die Sonnen streuen helle Lichtflecken auf die tiefblauen Wellen. Ich stelle den Antrieb auf Stillstand und schalte den Schaukelmodus ein. Tilia schmiegt sich an mich. So habe ich mir diesen Tag gewünscht! Nachdem wir eine Weile sanft schaukelnd die Aussicht genossen haben, landen wir am Ufer, steigen aus, ich hänge mir den Proviantbeutel über die Schulter und wir spazieren den Strand entlang. Von Zeit zu Zeit bleiben wir stehen und tauschen Nasenküsse. Im Schatten eines Felsens setzen wir uns in den Sand. Ich öffne den Beutel und hole den Proviant hervor. Gemeinsam knabbern wir knusprige Trockenkäfer und schauen dabei aufs Wasser. Ich bin wunschlos glücklich und könnte ewig hier sitzenbleiben, doch irgendwann meint Tilia: „Wir sollten nun nach Hause fliegen, sonst werden wir noch vermisst.“

Arm in Arm gehen wir zum Gleiter zurück.

Als ich starten will, leuchtet eine lila Kontrolllampe auf. Keine Energie mehr, wie ärgerlich! Ich steige aus, öffne die Klappe an der Seitenwand  und ziehe die abgebrannten, schwarz-braun verfärbten Würfel hervor. Ekelhaft! In hohem Bogen schleudere ich sie ins Wasser.

„Oh“, ruft Tilia erschrocken, „wir dürfen doch keine Abfälle ins Meer werfen!“

Das stimmt zwar, doch andererseits sieht man den Müll dann wenigstens nicht mehr.

Also beruhige ich Tilia: „Sobald unsere Forscher eine neue Energiequelle gefunden haben, ist das sowieso kein Problem mehr.“

Aus der Glaskiste hinter den Sitzen nehme ich eine Batterie Rotwürfel, schiebe sie in das Seitenfach des Gleiters, schließe die Klappe und dann können wir endlich losfliegen.

Wieder schweben wir über die Kraterlandschaft mit den schwer schuftenden Grablingen und anschließend über die Felder mit den schwächelnden Grünhalmen. Plötzlich gibt es hinter uns einen furchtbaren Knall, der mir fast die Ohren zerreißt. Eine mächtige Druckwelle lässt den Gleiter heftig schwanken. Panik schießt heiß durch meinen Körper. Hastig schalte ich auf Handsteuerung und kann in letzter Sekunde einen Absturz verhindern.

Ich schaue zurück. Über der Unglücksstelle breitet sich eine dunkle Wolke aus. Mit weit aufgerissenen Augen schreit Tilia: „Bloß weg hier! Die Förderanlage ist explodiert!“

„Zum Hauptplatz!“, keuche ich.

Unterwegs sehe ich immer neue Erdspalten aufreißen, aus denen giftiger Rauch entweicht. Von allen Seiten nähern sich mehr und mehr Gleiter, die in dieselbe Richtung streben wie wir. In der Gegenrichtung eilen Rettungsflieger zu den Rotwürfelminen. 

Wenig später landen wir am Rande des Hauptplatzes. Viele Glieserianer sind schon versammelt. Aufgeregt reden sie durcheinander, schütteln fassungslos die Köpfe, halten sich aneinander fest oder umarmen sich angstvoll selbst, als würden sie frieren.

Der Älteste besteigt ein Podium, schaltet die Übertragungsmonitore ein und bittet um Ruhe. Mit mühsam beherrschter Stimme spricht er: „Liebe Gemeinschaft von Glieseria, die Katastrophe trat früher ein als wir erwarteten und schlimmer als befürchtet. Binnen Kurzem wird unsere Heimat unbewohnbar sein.“

Tilia presst die Hände vor den Mund. Ich drücke sie an mich, spüre, wie sie bebt.

„Möglicherweise gibt es eine Rettung“, fährt der Älteste fort. „Wie ihr wisst, konnten wir vor einiger Zeit Signale aus dem All auffangen. Unseren Wissenschaftlern gelang es, einen Teil der Botschaft zu entschlüsseln. Sie enthält Grüße von Lebensformen eines fernen Gestirns, die uns kennenlernen möchten. Die Absender geben die Koordinaten ihres Heimatsterns bekannt und beschreiben ihn als wunderschönen blauen Planeten voll grüner Gewächse und verschiedenster Biowesen. Dorthin wollen wir nun aufbrechen. Ich bitte euch, sämtliche Vorräte einzusammeln und euch zum Raumhafen zu begeben. Sobald die überlebenden Grablinge auf die Krankenstation verbracht wurden, werden wir abheben.“

Es folgt ein großes Durcheinander, Gerenne und Rufen. Tilia und ich helfen unseren Eltern und den Nachbarn, ihr wichtigstes Hab und Gut einzupacken und zum Raumhafen zu schaffen. Allmählich bricht die Dämmerung herein. Große Rotwürfel-Lampen beleuchten den Startplatz.

Eines nach dem anderen steigen die Sternenschiffe auf.

Gemeinsam mit einigen Familien, deren Kinder vor Schreck verstummt sind, betreten wir die Eingangsschleuse des letzten Sternenschiffes  und lassen uns in seinen Bauch hinauftragen. Nachdem alle an Bord gekommen sind, wird die Schleuse geschlossen. Wir stehen eng gedrängt an den Fenstern und schauen hinaus.  Die Augen der meisten schimmern feucht. Tilia hebt die Hand zum Abschied und schluchzt: „Leb wohl, mein liebes Glieseria!“ Jetzt kann auch ich meine Tränen nicht mehr zurückhalten.

Mein Herz schmerzt, ich halte Tilia fest im Arm und denke: „Hoffentlich gehen die fremden Lebensformen mit ihrem blauen Planeten besser um als wir mit unserem, sodass er noch bewohnbar ist, wenn wir eintreffen.“

Das Sternenschiff hebt ab und zusammen mit den anderen schaue ich zu, wie Glieseria allmählich kleiner wird und nach und nach die Lichter erlöschen.

 

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