Von Hans-Günter Falter

„Sie hat es ja nicht böse gemeint. Nein, im Gegenteil, … wollte mir eine Freude machen, eine ganz besondere Überraschung, ein doppeltes Geschenk sozusagen. Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern gewesen.“
Er hatte ganz verklärte Augen bei dem Gedanken an diese Erinnerung aus seinen Kindertagen.
„Wer hätte denn wissen können, was daraus einmal wird. Ich hatte jedenfalls keine Ahnung.“ Gedankenverloren starrte er eine kurze Weile aus dem großen Fenster. Draußen spielten Kinder, zwei Jungs, in einem Sandkasten. Die beiden waren wohl 4 oder 5 Jahre alt, so wie er damals, als er das Geschenk bekam, an das er sich nun gerade erinnerte. Vielleicht ist ihm diese Erinnerung auch nur wieder in den Sinn gekommen, weil er diesen beiden beim Spielen zuschaute. So wird es wohl gewesen sein, ist aber auch gar nicht wichtig.
„Ist aber auch gar nicht wichtig“, sagte er jetzt, „Sie hat es ja nicht böse gemeint“.

Er war jeden Donnerstag zwischen 15 und 15.50 Uhr hier und er saß immer auf diesem Platz, nie auf einem anderen, obwohl es noch zwei weitere Sessel gab. Aber er ist ein ziemliches Gewohnheitstier. Kann sich nicht sonderlich gut festlegen und hält sich an den wenigen Entscheidungen, die er trifft, klammernd fest. Sie geben ihm Sicherheit.

Von hier konnte er nicht nur direkt in den Garten schauen, sondern, wenn er den Kopf etwas drehte, auch das Bild an der Wand links neben ihm sehen.
Auf diesem großen Schwarz-Weiß-Foto war ein windschiefer, knorriger Baum abgebildet, daneben eine Frau, die durch ihre Körperhaltung den Baum imitierte und ebenfalls schief stand. Der Baum wirkte dadurch noch dynamischer. Er erweckte den Eindruck, dass er sich jeden Moment bewegen könnte. Dass er auf eine Bewegung der Frau reagieren würde, oder vielleicht würde auch die Frau, umgekehrt, auf eine Bewegung des Baumes reagieren?
Die Darstellung war voll innerer Kraft und dabei doch nur ein Foto. Ganz statisch, … nichts würde sich hier bewegen, soviel war ihm klar.

„Ich war begeistert, weil die beiden Teile in meinen Lieblingsfarben waren, eins rot, das andere blau. Sie hatte es mit viel Bedacht ausgesucht. Aber es war natürlich auch kein Geheimnis. Also das mit meinen Lieblingsfarben, meine ich jetzt.“
Er wendete seinen Blick noch einmal Richtung Fenster und schaute hinaus. Der eine Junge im Sandkasten trug eine rote Hose, der andere eine blaue. Er erschrak.
„Sie hat mir damals eine rote und eine blaue Hose zum Geburtstag geschenkt“, fuhr er etwas irritiert fort, „meine Lieblingsfarben, aber das sagte ich ja schon. Ich hatte mich sehr darüber gefreut, daran kann ich mich noch gut erinnern, obwohl es schon so lange her ist und ich noch klein war.
Es ist, im Moment, die älteste Erinnerung an solch eine Begebenheit, obwohl es vorher mit Sicherheit schon ähnliche Situationen gab, die aber irgendwo im Dunkel meiner Kindheit verschollen sind.
Später, als ich älter wurde, lieferte die Zeit genügend weitere Beispiele, die mir in den letzten Monaten bewusst wurden und die Augen geöffnet haben.“
In sich gekehrt hielt er eine Weile inne und rief sich offenbar ein paar dieser Situationen in sein Gedächtnis zurück.
„Es war nicht ihre Absicht, mich zu verletzen, Sie hat mich doch geliebt, … Sie liebt mich immer noch, ist doch meine Mutter. Nein, Sie hat es nicht böse gemeint. Es ist einfach ihre Art, … ganz normal für Sie.“

Er schaute wieder auf das Bild, es schien ihm, als habe sich der Baum und auch die Frau etwas aufgerichtet. Ja, er war sich sogar sicher, versuchte den Gedanken aber aus seinem Kopf zu verdrängen und sich zu konzentrieren.

„Meine Großmutter und andere Verwandte waren auch bei meiner Geburtstagsfeier dabei. Ich erinnere mich besonders an Großmutter.
Sie nahm mich an die Hand und sagte: „Komm wir gehen in dein Zimmer, dann kannst du die Hosen gleich mal anprobieren“. Ich war ganz freudig aufgeregt und hatte zuerst die rote …, dann die blaue … anprobiert“.
Er machte eine kleine Pause und versuchte sich zu entspannen, bevor er weitersprach: „Jedenfalls hatten mir beide gut gepasst. Die blaue Hose hatte ich anbehalten, um sie voller Stolz meiner Mutter vorzuführen.“
Er stockte. Musste alle Kraft zusammennehmen, um sich zu beherrschen. Der Kopf brummte wie das Innere eines stampfenden Schiffsdiesels. Sein Blick fiel auf das Bild an der Wand. Der Baum und die Frau hatten sich auf die andere Seite geneigt. Er versuchte das zu ignorieren, wollte den Fokus wieder auf sein Kindheitserlebnis richten.
Um sich zu konzentrieren guckte er aus dem Fenster. Im Sandkasten saßen jetzt zwei erwachsene Männer und spielten, genau wie zuvor die beiden Kinder. Sie hatten Hosen in den gleichen Farben an, wie zuvor die Kinder, einer eine rote und einer eine blaue. Die beiden winkten ihm zu. In den Händen hielten sie dabei abgeschnittene Rosen und Tulpen, Chrysanthemen und Nelken …

Er wendete den Blick erschrocken ab.

„Ich habe meiner Mutter also ganz stolz die blaue Hose vorgeführt. Sie hat mich nur angesehen und gesagt: Die rote Hose gefällt dir wohl nicht?“

Er brach in Tränen aus.
„Ich konnte es ihr nie recht machen. Was wäre denn gewesen, wenn ich die rote Hose angehabt hätte? Warum habe ich damals bloß nicht die rote Hose ausgewählt? Dann wäre alles gut gewesen.“
Die letzen Worte presste er schluchzend hervor. Die beiden Männer aus dem Sandkasten schauten ihn an, standen auf und kamen durch die geschlossene Fensterscheibe auf ihn zu.
Er wollte aufstehen, schaffte es aber nicht. Der Baum und die Frau schaukelten in rhythmischen, synchronen Bewegungen immer wieder langsam von links nach rechts, von rechts nach links, und zurück. Von einem Rand des Bildes zum anderen.
Er erkannte jetzt, dass die Frau auf dem Bild seine Mutter war und während sie sich zusammen mit dem Baum hin und her wiegte, sagte sie lächelnd zu ihm: „Ich habe es doch nicht böse gemeint“.

Er war nicht mehr imstande zu denken. Die beiden Männer aus dem Sandkasten standen nun vor ihm, packten ihn unter den Armen und führten ihn aus dem Raum. Seine Mutter stieg aus dem Bild, folgte ihm und sagte immer wieder: „Ich habe es doch nicht böse gemeint. Es waren doch deine Lieblingsfarben“.
An mehr kann er sich nicht erinnern.

*

Sie war zufrieden mit diesem Werk, eine runde Geschichte. Aufgeschrieben in weniger als einer Stunde, so wie fast jede Woche.

Als ihr vor zwei Jahren die Stelle als Psychologin, hier in der forensischen Abteilung für schuldunfähige Straftäter angeboten wurde, hatte sie lange gezögert, wollte es nicht ausschließlich mit schwerst gestörten, psychisch erkrankten Menschen zu tun haben, so kurz vor der Rente.

Er war damals ihr erster Patient hier, kam jeden Donnerstag zwischen 15 und 15.50 Uhr zu Therapiesitzungen und entfaltete jedes Mal eine andere faszinierende Geschichte vor ihr. Seit zwei Jahren, mit einigen wenigen Ausnahmen, jede Woche. Er bekam donnerstags immer ihren letzten Gesprächstermin. Aber sie ging danach nicht nach Hause, sondern schrieb alles auf, was er in das Aufnahmegerät hinein offenbarte.

Seine Vorgeschichte blieb lange im Dunkeln. Klar war nur, dass er eines Tages blutbesudelt von Nachbarn im Garten angetroffen wurde. Auf dem Terrassentisch lagen, ordentlich drapiert, abgeschnittene Rosen und Tulpen, Chrysanthemen und Nelken … und der abgetrennte Kopf seiner Mutter.
In den polizeilichen Vernehmungen erklärte er immer wieder: „Ich habe nur die Blumen abgeschnitten und gerettet, sie schaukelten so sehr im Wind, sonst wären sie abgebrochen. Ich wollte meiner Mutter eine Freude machen. Wo ist sie eigentlich?“

Bis heute ist ihm nicht klar, dass seine Mutter tot ist, dass er sie getötet hat. Sie lebt in seiner Phantasie weiter und davon erzählt er seiner Psychologin jeden Donnerstag zwischen 15 und 15.50 Uhr.
Und die fiebert diesen Stunden jedesmal regelrecht entgegen, muss ja einen hoch dotierten Autorenvertrag erfüllen, der ihr mittlerweile mehr Geld einbringt als ihre Psychologenstelle.
Nur zu gerne würde sie etwas unter ihrem eigenen Namen veröffentlichen, ihr Pseudonym, hinter dem sie sich verbirgt, endlich ablegen. Aber damit würde alles auffliegen, der ganze Betrug. Ohne ihren Patienten konnte sie nichts schreiben, hatte keinerlei verwertbare Ideen. Sie brauchte ihn als Inspirationsquelle, als Erzähler, jeden Donnerstag zwischen 15 und 15.50 Uhr.
Wenn er nicht mehr da ist, ist auch ihre künstlerische Karriere und Anerkennung jäh am Ende, unwiederbringlich.

Das war ihr schon seit langem klar. Niemand sonst kann Geschichten erzählen, so wie er.
„Nächste Woche ist mein letztes Gespräch mit ihm, bevor ich in den Ruhestand gehe“, sagte sie leise zu sich selbst. „Der einzige Ausweg wäre vielleicht, … einen sinnlosen Mord an jemandem zu begehen, der für mich sehr wichtig ist, um mich damit selbst zu inspirieren.
Vielleicht am nächsten Donnerstag, zwischen 15 und 15.50 Uhr?“ Sie freute sich über diese Idee, die erste selbst inspirierte Idee, und sie spürte, dass sie endlich auf einem eigenen Weg war. Sie löschte das Licht und verließ die Praxis.

 

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