Von Andreas Schröter

Ich gebe gelegentlich Schreibworkshops, um mein Lehrer-Gehalt etwas aufzubessern. Neulich hatte ich einen Teilnehmer, der keine eigene Geschichte schreiben wollte – er meinte, dazu fehlen ihm schlicht Willen und Talent –, aber er habe im Nachlass seines verschwundenen Onkels Heiko Böhmer etwas gefunden, das er mir gerne einmal zeigen wolle. Hier ist es:   

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Das Tagebuch

Von Heiko Böhmer

Sie kennen ja meinen berühmten Großvater Rudolf Böhmer, der kurz nach dem Krieg erster Bürgermeister von Kleinleuthausen wurde. Später schaffte er es sogar in den Bundestag, wo seine Karriere in den 60er-Jahren wegen des bekannten Skandals, in dem man ihm vorwarf, er würde über Leichen gehen, jäh endete.

Was aber viele nicht wissen, ist, dass er einen kleinen Bruder hatte, Helmut, der seit 1929 vermisst wird. Dieses Drama wurde in unserer Familie immer totgeschwiegen, und bis zu mir ist es erst vor einigen Jahren gedrungen, weil Tante Amelie ein Plappermaul ist – besonders nach dem dritten Likörchen.

Ich hätte dem auch keine besondere Bedeutung beigemessen – zu lange her –, wenn ich nicht vor drei Monaten das Haus geerbt hätte, in dem damals die Brüder mit ihren Eltern, meinen Urgroßeltern, gelebt hatten. Es stand leer und war stark renovierungsbedürftig, um es mal vorsichtig auszudrücken. Anne, meine Frau, und ich wollten es so schnell wie möglich verkaufen. Allein für das Grundstück würden wir sicher noch etwas Geld bekommen. Vorher schmissen wir alles raus, was nicht niet- und nagelfest war, wie man so sagt. Dazu hatten wir einen großen Container vors Haus stellen lassen.

Auf dem Dachboden ganz hinten in einer Ecke und tief im Staub vergraben fand ich ein Tagebuch, das ganz augenscheinlich besagtem Helmut Böhmer gehörte, wie der Name auf dem Pappdeckel bewies, jenem mysteriösen und totgeschwiegenen Familienmitglied. Das Tagebuch wanderte nicht in den Container, und nach getaner Arbeit begann ich darin zu lesen. Das war nicht ganz einfach, weil es in einer Sütterlin-Handschrift geschrieben war. Aber nach einigen Seiten gewöhnte ich mich daran:

  1. Januar 1929:

Ich bin jetzt neun Jahre alt und habe mir vorgenommen, im neuen Jahr Tagebuch zu führen. Wir haben gestern Silvester gefeiert und ich durfte ein halbes Glas Erdbeerbowle trinken. Hat mir nicht geschmeckt. Rudolf hat mich ausgelacht. Das fand ich gemein. Ich habe versucht, nicht zu weinen.

  1. Januar 1929:
  2. Januar 1929:

Jetzt habe ich ein neues Tagebuch, und schon am zweiten Tag habe ich nichts mehr reingeschrieben. Ich erlebe ja auch nicht viel. Die Eltern arbeiten wieder, und ich bin meist allein im Haus, weil Rudolf sich mit seinen Freunden Klaus und „Siggi“ (Siegfried) trifft. Mir ist langweilig. Wenn sie mich doch mal mitnehmen würden! Aber Rudolf sagt: „Was sollen wir mit Babys?“

  1. Januar 1929:
  2. Januar 1929:
  3. Januar 1929:

Heute nichts Besonderes erlebt.

  1. Januar 1929:

Nun es war nicht gerade der neue Stephen King, der sich mir hier darbot. Ich blätterte per Daumenkino weiter. Es folgten viele leere Seiten und ein paar nichtssagende Notizen. Manche konnte ich nicht entziffern. Erst im April wurden die Einträge häufiger.

  1. April 1929:

Rudolf hat mir heute eine spannende Geschichte erzählt. Siggi, Klaus und er haben sich den alten Schuppen hinter der Bahnlinie angesehen. Niemand weiß so ganz genau, wem der eigentlich gehört. Papa hat jedenfalls gesagt, wir sollen da nicht spielen. Denn dazu müssten wird die Gleise überqueren. Und das ist gefährlich. „Papa sagt, wir sollen da nicht spielen“, sagte ich deshalb auch zu Rudolf. Er lachte nur, gab mir eine Kopfnuss, die sehr weh tat, und sagte: „Das ist mir klar, dass Du Schisser da nicht hingehst.“ Man kann den Schuppen sogar von unserem Dachboden aus sehen. Ich schätze, dass er vielleicht 200 oder 300 Meter entfernt ist.

  1. April 1929:
  2. April 1929:

Rudolf wirkte gestern ein bisschen verunsichert, auch wenn er versuchte, es durch viel Getue und Geschrei zu verbergen. Aber ich kenne ja meinen Bruder. Abends in unserem Zimmer, als schon das Licht aus war, – wir haben leider nur ein gemeinsames Zimmer – erzählte er mir, was ihn so erschreckt hatte: „Wir waren heute wieder an der Hütte. Da drin ist es ganz gemütlich mit Tisch, Stühlen und einem alten Sofa. So, als hätte mal einer drin gelebt. Aber das Beste ist, dass es dort sogar elektrischen Strom und eine Lampe gibt. Überleg mal, viele Leute haben das nicht mal in ihren Häusern. Und da hat jemand Strom in einer Hütte. Wir blieben ziemlich lange da, und als wir gingen, war es schon dunkel. Wir räumten alles weg, löschten das Licht und zogen die Schuppentür hinter uns zu. Fast sofort, als wir das getan hatten, setzte innen ein Kreischen und Geheul ein, das ganz schrecklich klang. Es hörte sich außerdem so an, als würde jemand mit langen Nägeln an der Türinnenseite kratzen.“ Ich hatte Schwierigkeiten einzuschlafen.

  1. April 1929:

Rudolf wirkt wie ausgewechselt. Keine Spur mehr von seiner Unsicherheit am Tag vorher. Er gibt mir weiterhin Knuffe unter dem Tisch, wenn die Eltern es nicht sehen, und sagt, auf gar keinen Fall dürfe ich mit ihm, Klaus und Siggi zum Mitspielen kommen.

  1. April 1929:
  2. April 1929:
  3. April 1929:
  4. April 1929:
  5. April 1929:

Rudolf hat offenbar seine Meinung geändert. Er meinte gestern, unter gewissen Voraussetzungen dürfe ich vielleicht doch mit ihm und seinen Freunden zum Spielen kommen. Sie hätten in den vergangenen Tagen eine Mutprobe in dem alten Schuppen gemacht. Vor dem Nach-Hause-Gehen musste einer im Schuppen bleiben, das Licht ausschalten und bis drei zählen. Erst dann durfte er raus zu den anderen. Er selbst, Siggi und Klaus hätten die Mutprobe bestanden. Nun sei ich an der Reihe. Wenn ich sie ebenfalls bestehen würde, dürfte ich vielleicht demnächst öfter mit ihnen spielen. Allerdings müsste ich bis vier zählen. Ich wollte so unbedingt mit den großen Jungs spielen.

  1. April 1929:
  2. April 1929:
  3. April 1929:
  4. April 1929:
  5. April 1929:

Ich blätterte mit meiner Daumenkinomethode das Buch weiter bis nach hinten durch. Aber Helmut hatte nichts mehr geschrieben. Das passte zu seinem Verschwinden im Jahr 1929.

Ich beschloss, Tante Amelie noch einmal aufzusuchen, die inzwischen 90 Jahre alt war und in einem Pflegeheim lebte, aber noch einigermaßen klar im Kopf war. Sie schob ihre geistige Fitness auf die Liköre, die sie immer noch zu sich nahm. Ja, soweit sie wisse, sagte sie, sei Helmut Ende April 1929 verschwunden und zum großen Kummer seiner Eltern nie wieder aufgetaucht. Aber sie wisse das alles ja nur aus zweiter Hand. Auch wenn man es nicht glauben könne, aber 1929 sei selbst vor ihrer Zeit gewesen. Auch Rudolf habe damals angeblich gesagt, er wisse nicht, was mit seinem Bruder geschehen sei. Er sei ja schließlich nicht die Helmuts Amme. Das habe nie jemand hinterfragt, schließlich war allgemein bekannt, dass er sich nicht sonderlich um seinen Bruder scherte.

Rudolf Böhmer selbst kann ich nicht mehr fragen. Er ist seit 20 Jahren tot.

Irgendwo hatte Helmut geschrieben, man könne den Schuppen vom Dachboden aus sehen. Ich stieg erneut hinauf und spähte durch die einzige kleine Dachluke. Es war kein besonders guter Tag für die Fernsicht. Ein leichter Dunst hing über der Gegend. Aber nachdem ich mich etwas umgeschaut hatte, konnte ich wirklich die Gleise der alten Bahnlinie ausmachen. Vor einiger Zeit war sie stillgelegt worden. Ich versuchte, dahinter etwas zu erkennen. Und tatsächlich ragte etwa 50 Meter weiter etwas aus dem Gebüsch, das das Dach einer alten Hütte sein konnte. Meine Neugier war geweckt. Ich beschloss, dem Schuppen einen Besuch abzustatten.

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Soweit die Geschichte meines Workshopteilnehmers. Sie war irgendwie unfertig, was ich fast ein wenig schade fand. Was war denn nun mit dieser ominösen Hütte? Ich wartete in den nächsten Wochen auf den Mann, aber er tauchte nicht mehr auf. Aber nun ist auch meine Neugier geweckt. Ich habe bei Google Earth und in alten Karten von Kleinleuthausen recherchiert und bin mir nun fast sicher, den Standort der Hütte hinter der alten Bahnlinie gefunden zu haben. Ich werde mich heute Nachmittag dort einmal umsehen.

P.S.: Editorischer Nachtrag Schreiblust-Verlag: Der Workshop von Andreas Schröter fällt bis auf Weiteres aus, weil der Dozent spurlos verschwunden ist. 

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