Von Renate Müller

Ein permanentes, grummelndes Dröhnen liegt in der Luft. Aber da, wo er steht, ist es still. Und leer.

Gustav wäre nicht erstaunt, wenn gleich ein trockener Busch über den Weg weht und dazu Ennio Morricone erklingt.

Gustav sucht das Haus, sucht die Straße, findet sich kaum zurecht.  Es riecht modrig, muffig. Im Sonnenlicht sieht er den Staub, den seine Schritte aufwirbeln.

Es ist Mittag und er vermisst den Schlag der Kirchenglocken.

Der Gang zwischen den Schuttbergen, die einmal das Dorf waren, in dem er aufwuchs, ist wie eine Reise in die Vergangenheit. Fast erwartet er, dass gleich seine Schulfreunde auf ihren Fahrrädern um die Ecke kommen, dass seine Mutter ihn zum Essen ruft, dass Paula lachend auf ihn zu rennt, um dann Hand in Hand mit ihm zur alten Mühle zu laufen.

Während er durch das Dorf oder das, was davon übrig ist, geht, legen sich vor seinen Augen zwei Filme übereinander. Bilder von heute überdeckt von den früheren Ansichten des Dorfs, seiner Häuser und seiner Bewohner.

Statt der Häuser nur noch Schutt und Steinhaufen. Auf einem der Geröllberge steht oben, wie ein Gipfelkreuz, eine kaputte Kloschüssel. Daneben Spülkasten und Rohre. Ein paar Meter weiter weht an einem Mauerstück ein Tapetenrest schlapp im Wind.

Ein einziges Haus steht noch. Die Bäckerei. Wieder legt sich der Schwarzweißfilm seiner Erinnerungen über den gegenwärtigen Anblick. Er sieht Licht im Laden, riecht den satten Duft von Hefeteig, hört die Klingel der Ladentür. Fast meint er, Paula hinter der Theke zu sehen, ihre Zottelfrisur, ihre Zahnspange.

Aber da ist tatsächlich eine Bewegung. Doch nicht im Laden. Was er sieht ist eine Spiegelung in der Fensterscheibe.

Gustav dreht sich um. Gegenüber steht eine Frau. Klein, mit wilder, grauer Mähne, schlank. Sie trägt eine enge Jeans und grobe, schwere Stiefel. Sie hat die Hände in die Hüften gestemmt. Ihre Blicke scheinen ihn töten zu wollen.

„Verschwinden Sie. Reicht es noch nicht? Hauen Sie ab!” Sie klingt wie ein Rottweiler, der gleich zubeißt.

Sie meint ihn. Was hat er ihr getan?

Die Frau wedelt mit den Armen. „Machen Sie, dass Sie wegkommen. Lassen Sie uns endlich in Ruhe.”

Er geht einen Schritt auf sie zu, sie erinnert ihn an, an… Er kann es nicht glauben.

Sie kommt jetzt ihrerseits etwas näher und kneift die Augen zusammen: „Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?”

Sie stolpert über ein Loch im Boden. Sie schwankt und Gustav fängt sie auf, bevor sie stürzt.

„Was fällt Ihnen ein?” Es fehlt nicht viel und sie schlägt nach ihm. Ihr Zorn ist eher noch größer geworden, weil sie ihn nicht einordnen kann.

„Paula?” Gustav flüstert ihren Namen nur, als habe er Angst, ihn laut auszusprechen.

„Wer zum Teufel sind Sie?” blafft sie ihn erneut an und japst dann nach Luft. „Gustav?” und nochmal „Gustav?”

Der hält sie immer noch und jetzt lacht er laut und zieht sie ganz fest in seine Arme.

„Paula. Paula Simon”, murmelt er in ihre Haare.

Sie scheint jedoch nicht ganz so erfreut, ihn zu sehen. Ihr Zorn kehrt zurück und sie schubst ihn von sich: „Wo kommst du her? Was willst du hier? Und wann verschwindest du wieder?”

Eine Katze huscht vorbei, ein maunzendes Junges im Maul. Paula hat den gleichen Fluchtinstinkt im Blick wie die Katze.

Statt auf ihre Frage einzugehen, meint Gustav: „Hat sich ja ganz schön verändert alles hier.”

Paulas Blick flackert: „Bist du dafür gekommen? Für deine blöden Bemerkungen?”

Er ignoriert ihre Provokation: „Seit wann sieht es hier so aus, Paula? Die Mühle, die Schule, das Krankenhaus, alles weg. Keine einzige Mauer steht mehr.”

Gustav blickt sich um und schaut dann Paula in die Augen: „Sogar die Kirche, Paula, sogar die Kirche.”

Seine Worte fachen ihren Zorn wieder an: „Ja, sogar die Kirche. Die würden auch den Kölner Dom wegbaggern, wenn sie keiner aufhält.”

„Die?”, fragt Gustav

„Die von der Kohle. Denen hier alles gehört. Wo warst du eigentlich die letzten Jahre? Auf dem Mond?”

„Fast“, antwortet er, „ich war überall und nirgends. Ich bin erst seit zwei Wochen wieder hier in Deutschland.”

„Wie lang warst du fort, Gustav?”, fragt Paula etwas versöhnlicher.

„Ich habe die Jahre nicht gezählt, Paula. Aber mehr als 30 waren es sicher. Ich bin seither nicht einmal wieder hier gewesen.”

Schweigen dehnt sich aus.

Gustav meint die Tür der Bäckerei zu hören, die er täglich mehrmals zum Klingeln brachte. Immer mit einer Ausrede, um Paula zu sehen, die ihren Eltern beim Verkauf zur Hand gehen musste.

Paula riecht das nasse Stroh im Hühnerstall, wo sie jeden Morgen Gustav beim Einsammeln der Eier half, damit er pünktlich mit ihr zur Schule gehen konnte.

„Weißt du noch …”, sagen beide gleichzeitig und wissen genau, woran der andere denkt.

 

Doch plötzlich ein Heidenlärm. Ein Krachen, Poltern, Scheppern, Klirren, Rasseln.

Paula und Gustav fahren herum. Hinter der Bäckerei steht auf einmal ein großer Bagger. Wie ist der hierhergekommen, ohne dass sie es bemerkt haben?

Der Bagger hebt die Abbruchgreifer und lässt sie hungrig in die hintere Wand der Bäckerei beißen.

Paula schreit, als hätte der Schlag sie getroffen.

„Was geht hier vor?” Gustavs Stimme ist bei dem Lärm kaum zu hören.

Die hintere Mauer des Bäckerhauses, Paulas Elternhaus, bricht zusammen. Staub legt sich über ihre Gesichter. Gustav hält Paula fest im Arm, ihr knicken die Beine weg.

Außer ihnen und dem Baggerfahrer ist niemand zu sehen. Gustav ruft: „So halten Sie doch ein! Was tun Sie bloß?” Doch der Mann auf dem Führersitz des großen Geräts kann ihn nicht hören.

Paula tobt und haut um sich, windet sich aus Gustavs Armen. Sie läuft zum Bagger, stellt sich der Schaufel in den Weg.

„Hau ab”, ruft sie und ihre Stimme überschlägt sich. Tränen ziehen Spuren über ihr staubbedecktes Gesicht.

Gustav will sie fortziehen, aber sie schlägt seine Hand weg. Wie eine Furie kämpft sie, hebt die Faust gegen den Bagger. Als wolle ein Kaninchen einen Elefanten vertreiben.

„Das ist mein Haus”, schluchzt sie, „das dürft ihr nicht.” Der Mann im Führerhaus des Baggers scheint sie nicht zu bemerken. Oder er will sie nicht sehen.

Gustav schreit: „Paula, pass auf!”, als der Greifer ein weiteres Mal an der Hauswand nagt. Erneut wirbelt eine Staubwolke auf. Als sie sich langsam legt, erkennt Gustav Blut an Paulas Stirn. Ein Stein hat sie getroffen. Sie merkt es nicht.

Die großen Scheiben des Bäckerladens zerbersten, Scherben fliegen umher. Gustav schützt Paula mit seinem Körper, doch wieder stößt sie ihn weg.

„Paula, sei doch vernünftig”, sagt er.

Da wendet sich ihr Zorn gegen ihn: „Ich geh hier nicht weg. Wenn du Angst hast, geh doch. Hau doch wieder ab. Ich lass nicht zu, dass sie mein Haus zerstören. Sie haben dazu kein Recht.” Ihre Stimme versagt und sie stampft wütend mit dem Fuß auf.

Ein neuer heftiger Schlag und die zweite Mauer ist endgültig eingestürzt.

Gustav weiß nicht, was er tun soll und blickt sich um.

Da hat er eine Idee. „Komm mit”, ruft er Paula zu und tritt ganz nah an die Vorderfront der ehemaligen Bäckerei heran. Der Bagger arbeitet ununterbrochen weiter, der Fahrer scheint von all dem um ihn herum keine Notiz zu nehmen. Gustav fragt sich, was in diesem Mann wohl vorgehen mag.

„Ich geh hier nicht weg”, antwortet Paula.

„Sollst du auch nicht. Komm her zu mir”, ruft Gustav. Er klettert durch die zerborstenen Fenster. In diesem Moment fällt eine weitere Mauer des Hauses in sich zusammen.

Gustav zieht Paula zu sich heran, so dass er hinter und sie vor der Wand steht. Er nimmt sie ganz fest in die Arme, drückt sie an sich. Dann spricht er ihr ins Ohr: „Wenn er jetzt weiter machen will, muss er uns erst trennen.”

Über den Köpfen von Gustav und Paula, im Rahmen der früheren Ladentür, schaukelt ein Schild, wie von Kinderhand gebastelt, darauf in großer Schrift das Wort „Heimat”.

Gustav blickt über seine Schulter. Der Abbruchbagger hat innegehalten, eine Raubkatze vor dem entscheidenden Angriff. Der Mann am Steuer sieht zu ihnen hinüber, schiebt seine Mütze nach hinten. Jetzt nimmt er ein Handy und hält es sich ans Ohr.

Was wird er jetzt tun? Was sollen sie jetzt tun?

„Was sollen wir jetzt tun?”, fragt Paula. Ihr Gesicht ist verwüstet von Schmutz und Tränen, ihre Haare sind weiß vom Staub, ihre Augen gerötet.

Der Baggerfahrer hat den Motor abgestellt, telefoniert noch.

„Was geht hier vor, Paula?”

Sie erklärt ihm in kurzen Worten: „Ich habe mich geweigert, mein Elternhaus zu verkaufen. Ich bin die letzte, die hier noch lebt. Drüben, am anderen Ende des Dorfs. Da haben sie noch nicht alles abgerissen. Alle ziehen weg, haben die Entschädigung genommen und im neuen Dorf gebaut. Ich nicht. Ich wollte hierbleiben, nicht nachgeben.”

Gustav lächelt: „Im Nachgeben warst du noch nie gut.”

Sie spricht weiter: „Mein Sohn ist auch weg, erst vor ein paar Tagen. So wie seine Frau und die Kinder. Er sagte, es habe alles keinen Sinn mehr. Er gibt genauso auf wie alle. Er hat die Sachen aus dem Haus meiner Eltern mitgenommen. Was für ein Glück. Niemand hat uns gewarnt, dass sie heute kommen.” Paulas Tränen fließen.

Da springt der Bagger wieder an. Paula und Gustav zucken zusammen, klammern sich aneinander.

„Wir bleiben hier”, ruft Gustav über den Lärm hinweg und weiß selbst nicht genau, an wen er seine Worte richtet.

„Sieh doch”, sagt Paula, die mit dem Gesicht zum Bagger steht, „sieh doch!”.

Gustav dreht sich um.

Der Mann in der Fahrerkabine des Baggers grüßt mit der Hand an der Mütze. Dann wendet er den Bagger und rumpelt langsam davon.

Paulas Beine versagen den Dienst. Sie rutscht an der Mauer, an der letzten Mauer entlang und setzt sich auf die Erde. Gustav kann es nicht glauben: „Er haut ab. Paula, er fährt weg, schau doch.”

Paula nickt, schluchzt laut. Auch Gustavs Beine zittern jetzt, er hält sich fest, um nicht zu fallen.

Er klettert zu Paula hinüber, setzt sich neben sie in den Staub, legt den Arm um ihre Schulter.

„Danke”, sagt Paula und sieht ihn an.

„Ja.” Er schüttelt den Kopf. „Nur genützt hat es nichts. Paula, er wird wiederkommen.”

„Ich weiß“, antwortet sie, „erst kommt der kleine Heimatfresser. Danach, danach kommt der große Heimatfresser.“

 

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