Von Monika Heil

»Ich mache jetzt Feierabend, Jürgen. Mir reicht´s für heute.«

»Und ich versuche noch, mit dem interessierten Investor in Detroit zu telefonieren.«

»Bringt doch nichts. Morgen um elf ist Deadline. Du weißt das. Ich weiß das und morgen weiß es die ganze Welt.«

»So schnell gebe ich nicht auf. Ich hab´ da noch eine Idee.«

»Lass es. Der Vertrag mit der Vermögensgesellschaft steht. Alles wasserdicht und von mir geprüft. Sobald der Chef unterschrieben hat, lacht uns eine satte Abfindung und dann heißt es: neues Spiel, neues Glück.« Selbstgefällig blickte der Jüngere den Älteren an.

»Wie kann ein Mensch nur so abgebrüht sein, Holger. Es geht hier nicht um unseren Vorteil, es geht um die Arbeitsplätze von mehr als 30 Mitarbeitern.«

»Die federt unser Sozialstaat ab. Also, finde dich endlich damit ab. Mach Feierabend. Und, denk dran, der Letzte macht das Licht aus.«

»Deinen Sarkasmus kannst du dir sparen.«

Das ironische Lachen hing noch im Zimmer, als der Justiziar das Büro des Finanzchefs schon verlassen hatte.

»Deadline! Meine Buchhalterseele nennt das Reißleine. Es ist zum Haare raufen«, murmelte Jürgen Wellmann und fuhr mit einer Hand über seine Glatze. »Nix mehr da.« Ein trauriges Grinsen nistete sich in seine Mundwinkel. Dabei hätte er nicht sagen können, ob er den fehlenden Haarschopf oder die nicht mehr vorhandenen Finanzreserven meinte.

Er stand auf und ging hinüber zur kleinen Kaffeeküche. Doch seine super tüchtige Mitarbeiterin Lotta hatte die Maschine bereits gereinigt. Dann eben nicht. Er öffnete die Kühlschranktür, fand zwei Flaschen Sekt und sofort fiel ihm ein, dass morgen auch Lottas Geburtstag war. Mist. »Kann ich ihr ´herzlichen Glückwunsch` sagen, wenn drei Stunden später das Damoklesschwert `Betriebsversammlung` über uns schwebt?« Trotzig schüttelte er den Kopf, nahm eine der beiden Flaschen an sich und ging zurück in sein Büro. »Prost, alter Junge«, monologisierte er kurz darauf weiter. »Du hast doch immer wieder was gefunden, um den Laden finanziell zu retten. Nun streng´ dich nochmal an. Nicht für den Jungen. Der ist genau so geldgierig und ohne jegliches Mitgefühl wie Franke. Dem alten Herrn Peters – Gott hab´ihn selig – bist du das schuldig.« Wild tippte er in die Tastatur seines Computers, telefonierte um die halbe Welt. Irgendwann gab er erschöpft und resigniert auf.

Jürgen Wellmann war achtundfünfzig. Wenn die Firma den Bach runterging, war das sein berufliches Ende. Seit der Gründung vor fast achtundzwanzig Jahren hatten der verstorbene Inhaber und er die Firma zur Blüte gebracht und gehalten. Sein Sohn brauchte nur drei Jahre, um das Unternehmen zu ruinieren. Nein, nein, und nochmal nein. Was gestern noch Zukunft war, durfte morgen nicht Vergangenheit sein. Das hatten die vielen fleißigen Arbeiterinnen nicht verdient.

 

Dr. Holger Franke lief die Treppen hinunter zur Tiefgarage. Nur sein Cabrio und die alte Kiste von Hannes Jarreis, dem Haustechniker, standen noch dort. Der sollte auch längst zu Hause bei seiner jungen Frau und den Kindern sein, überlegte Holger flüchtig und startete seinen Wagen. Er dachte an morgen um elf und beschloss, den ereignisreichen Tag mit einem Whiskey im ´Fährhaus` zu beenden. Für ihn war diese Betriebsversammlung kein Drama. Mit achtunddreißig sah er überhaupt kein Problem. Die ersten Gespräche für einen neuen lukrativen Job liefen bereits. »Das Leben ist Veränderung«, murmelte er.

 

Hannes Jarreis saß seit Stunden allein in seiner Werkstatt. Ein Geruch nach Ausweglosigkeit lag in der Luft. Wütend trommelte er immer wieder auf die Platte der Werkbank. Angst schnürte ihm die Kehle zu. Seine Gedanken drehten sich im Kreis. Unaufhörlich, ohne Ergebnis. Am liebsten würde ich den ganzen Laden hier in die Luft sprengen. Wenn der Chef morgen die Belegschaft zusammenruft, ist alles aus. Warum habe ich nur das Gespräch letzte Woche mitbekommen? Nichts geschieht ohne Sinn, sagt Lydia immer. Lydia. Sie und die Kinder sind abgesichert. Die Lebensversicherung ist hoch. Das war ich ihr schuldig, als sie mit dreißig mich alten Knacker heiratete. Und ich? Mit fünfundfünfzig finde ich keinen neuen Job. Soll ich? Er sah sich wieder im Büro des Justiziars, der eine moderne Lichtinstallation eingebaut haben wollte. Er werkelte gerade in einer nicht sofort einsehbaren Ecke des Raumes, als die Herren Wellmann und Franke in ein Gespräch vertieft hereinkamen und es sich in der Besucherecke bequem machten. »Lohnt ja eigentlich nicht mehr, wenn demnächst hier alle Lichter ausgehen«, hatte Dr. Franke Herrn Wellmann zugeflüstert. Und dann hatte der aalglatte Herr Doktor die finstere Zukunft des Unternehmens zusammengefasst, als spräche er von einem Glücksfall. Ihn, den Techniker, beachtete er dabei so wenig wie den Gummibaum in der Zimmerecke. »Klar, die VVG wird das Unternehmen schließen, die Maschinen und damit die Arbeitsplätze nach Rumänien verlagern. Ich denke, das Gebäude wird abgerissen und das Grundstück an eine Immobiliengesellschaft weiterveräußert werden. Gregor Peters kann seine Villa behalten und von dem Verkauf des Unternehmens gut leben. Das Management wird…« Herr Wellmann hatte wohl plötzlich Hannes entdeckt und gehüstelt. Der versuchte, völlig unbeteiligt seine Arbeit zu vollenden. Abrupt hatte Dr. Franke mitten im Satz aufgehört zu reden und Hannes angeblafft: »Brauchen Sie noch lange? Wir sind hier in einer wichtigen Besprechung.«

»Noch fünf Minuten«, hatte er betont locker geantwortet, obwohl ihm fast der Atem stockte. »Gut, dann gehen wir zwei noch schnell einen Kaffee trinken, oder Jürgen?« Und damit waren die beiden Herren aus dem Büro verschwunden.

In fliegender Eile hatte Hannes seine Arbeit beendet, den Werkzeugkoffer geschnappt und fast fluchtartig das Zimmer verlassen. Die Informationen nahm er mit und konnte seither keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Ständig schob er immer neue Gedankenklötze hin und her. Noch hatte er mit niemanden darüber gesprochen.

Er kannte jede der dreißig Mitarbeiterinnen persönlich und mit Namen. Die flatterhafte Susanne, die zwei Kinder von zwei Vätern hatte, die nette Eleonor, Susannes Mutter, die schon mit vierzig Jahren Witwe geworden war. Amira, Iranerin – oder Irakerin? – die einen faulenzenden Ehemann und fünf Kinder ernährte, und, und, und. Was soll aus all diesen Menschen werden?, fragte er sich immer und immer wieder.

»Unser Meister Jarreis kann alles«, hatte der Senior-Chef ihn gelobt, als man sein fünfundzwanzigjähriges Jubiläum feierte. Ja das stimmt. Ich habe es immer wieder geschafft, technisch alles zu pflegen und selbst die schon in die Jahre gekommenen Strick- und Wirkmaschinen in ständigem Einsatz zu halten. Technisch und handwerklich macht mir so schnell keiner was vor. Doch ich kann auch anders, kann den ganzen Laden in die Luft fliegen lassen. Ich weiß, wie ich es anstellen muss. Seine Wut steigerte sich von Tag zu Tag. Wenn ich es tue, muss ich vorher den Verrat unseres Chefs und des feinen Herrn Rechtsverdrehers publik machen. Und der kann seine wasserdichten Verträge dann als Klopapier verwenden.

Hannes Jarreis holte seinen Laptop aus dem Garderobenraum und schrieb und schrieb. Endlich hielt er inne, sah sich noch einmal in seiner Werkstatt um, schloss die Augen, öffnete sie wieder und drückte auf „senden“. Plötzlich war er ganz ruhig.

 

Die Detonation war so laut, dass man sie bis ins Stadtzentrum hörte,

wo Dr. Franke gerade seinen ersten Whiskey an die Lippen setzte,

wo Lotta Böckmann gerade vor ihrem Schlafzimmerschrank stand und überlegte, welches Kleid sie morgen zu ihrem Geburtstag tragen wollte,

wo Lydia Jarreis gerade die Spätnachrichten im Fernsehen verfolgte und sich fragte, warum Hannes nicht längst zu Hause war,

wo Gregor Peters an den richtigen Formulierungen für seine Rede morgen in der Betriebsversammlung feilte,

wo der Journalist Roger Heller die vor ihm liegende Pressemitteilung in den passenden Text für das Tageblatt morgen umformulierte.

Gehen in der Strickwarenfabrik Peters bald die Lichter aus? stand als Überschrift bereits fest.

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