Von Renate Oberrisser

Für Marc†

 

Um die Bedeutung dieses Zitates für mich verstehen zu können, müssen wir das Rad der Zeit ein paar Jahre zurückdrehen. 

 

Ich war noch nicht ganz trocken hinter den Ohren und mir steckten ein paar Nachwehen einer vorzeigbaren Karriere inadäquater Mutproben in den Knochen. Mein alter Herr drohte mich zu enterben und nie wieder ein Wort mit mir zu wechseln, sollte ich  keinen anständigen Lebensweg einschlagen.  Er hielt es sogar für angebracht, sozial prägende Erziehungsmaßnahmen zu setzen. Und so durfte ich, aus  mehr oder weniger freiwilligen Stücken, einen Teil meiner Freizeit in einem Heim für körperlich beeinträchtigte Menschen verbringen. Zur damaligen Zeit bedurfte es noch keines umfangreichen Aufnahmeprozederes. Dank der guten Beziehungen meines Erzeugers, wurde meine Eignung für allerlei Hilfstätigkeiten rasch festgestellt und meine kostenlose Mitarbeit dankbar angenommen. Die Zeit in diesem Diakoniewerk läuterte mich grundlegend und in einem jugendlichen Alter zu einem einfühlsameren Menschen.

 

Voller Elan und frisch motiviert den beruflichen Werdegang seines resozialisierten Sohnes nun in eine akademische Laufbahn lenken zu müssen, nötigte mich mein Vater eine höhere Schulausbildung zu absolvieren. Auf weitere finanzielle Unterstützung meines Lebensunterhaltes angewiesen, da ich keinen hochdotierten Job vorweisen konnte, gab ich seinem Drängen nach.  Aber ich entschied mich gegen die Familientradition Anwalt zu werden. Ein Medizinstudium hätte den Wünschen meines Vater auch noch entsprochen. Mein Interesse für Psychologie und Soziologie kanzelte er im ersten Moment als modernen Spleen ab.  Er billigte meine Wahl jedoch nach einem Machtwort seitens meiner Mutter. 

 

Um ihm die Ernsthaftigkeit meines Ausbildungswunsches zu verdeutlichen, engagierte ich mich neben dem Studium in der Krisenintervention beim Rettungsdienst. Bei verschiedenen Einsätzen wurde ich hier schon mit dem Thema Sterben konfrontiert. Aber dieses eine ERSTE Mal entsprach es nicht der chronologischen Erwartung eines Menschenlebens. Wie sich später herausstellen sollte, war dies in mehrfacher Hinsicht ein für mein weiteres Leben prägendes Ereignis. 

 

„Hallo Simon! Hast du am Samstag Zeit? Es wäre sehr wichtig!“ Mit diesen Worten überfiel mich ein paar Tage später eine junge Kollegin aus der Runde der Rettungssanitäter, die bei jenem nächtlichen Einsatz ebenfalls zugegen gewesen war. 

Zur großen Belustigung aller Umstehenden, wie ich befürchtete, zu meinem Glück fiel es jedoch niemanden wirklich auf, begann ich, der eloquente Vorzeigestudent, zu stottern: „ja, ja, na… natürlich, Lene, für dich immer.“ Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Was war nur los mit mir?

„Du musst mich unbedingt begleiten. Ich darf dir leider nicht sagen, was und wo. Nur soviel: zieh etwas dezentes an. Schwarze Jeans und ein Hemd. Ich hol dich dann um 8:00 Uhr hier am Standort ab.“ Und schon war sie verschwunden, bevor ich auch noch eine, für mich längst überfällige, spontane Einladung zu einem Automatenkaffee hätte loswerden können.  

 

Nach einer endlosen Nacht stand ich am Samstag von einem Bein auf das andere wippend, wartend vor der Tür der Dienststelle. Allerlei war mir während meiner Schlaflosigkeit durch den Kopf gegangen. Wohin wollte Lene mich so geheimnisvoll entführen? Das Rätsel sollte sich ja bald aufklären, denn schon kam sie mit ihrem gelben Käfer angeflitzt und ließ mich einsteigen. Auf der Rückbank lag eine einzelne, von einer Schleife gehaltene weiße Rose mit rosa Blütenrand.

 

Die Fahrt ins Grüne hätte an diesem sich langsam wärmenden, herrlichen Herbsttag bedeutend länger sein können, ging es mir durch den Kopf, als wir am Rand eines kleinen Dorfes auf einen Parkplatz einbogen. Lene suchte, von der Vielzahl eintreffender Autos überrascht nach einem freien Platz für ihr Gefährt. 

„Du wirst gleich wissen, worum es geht“, quittierte sie meinen fragenden Blick und wir schlossen uns dem Strom der Anderen an.

 

Den hellen Saal, den wir nach einem kurzen Fußweg erreichten, schmückten ein schlichtes schwarzes Kreuz und weiße Kerzen. In der Mitte stand erhöht eine weiße Urne, umgeben von einem aus  weißen Callas gewundenen Kranz. Daneben das Bild eines jungen Burschen. Zwischen dunkel gekleideten Menschen hob sich eine schlanke Gestalt mit weißblondem schulterlangem Haar hervor. Das Gesicht dieser zierlichen Person  war hinter einer dunklen Brille verborgen. Ich glaubte dennoch, die Frau als jene von besagtem nächtlichen Einsatz zu erkennen. Sie nickte mir, mich ebenfalls wiedererkennend zu und ergriff, wie Halt suchend ein Taschentuch, dass ihr jemand reichte. Leise begann Musik zu spielen und die verhalten flüsternden Stimmen verstummten.

 

Als diese schlanke Person vor trat und einen Schritt neben der Urne stehen blieb, bildeten die Menschen  einen  Halbkreis um sie. Sich dem Bild zudrehend schluckte sie noch einmal und im nächsten Moment schien es, als hielte die Welt den Atem an:

 

Damals, der Sommer, in jenem Jahr! 

Es fing doch gut an. Plötzlich warst du da! 

Wie ein Sonnenstrahl am frühen Morgen. So klein und so zart. 

Der Deckel öffnete sich weit. 

Bereit leere Seiten zu zeigen, um auf ihnen Gutes zu schreiben und zu gestalten. 

Ein  Lebensbuch, von dieser Art, ich wünschte, würde für dich bereitgehalten. 

 

Auf wackeligen Beinen, durch den Garten du strolchtest. 

Eine Blume. Ein Schmetterling. Ein Ball. 

Wie ausgelassen du mit des Nachbarn Hund herum tolltest. 

Dein Lachen! Ein silbriger Klang, wie Piccoloflöten, von Engeln geblasen. 

Welch Freude du, geschenkt mir hast. 

Ach, so wunderschön, dich morgens aufwachen zu sehen. 

Traum, ewig könntest du noch weiter gehen. 

 

Die Jahre, sie vergingen und heran wuchs ein junger Mensch. 

Klug und beliebt und auch schön anzusehen.  

Die Welt dir offen stand, eigene Wege zu beschreiten. 

Tatkräftig und voller Wissbegier, wolltest du dein Dasein ausgestalten. 

Doch irgendetwas entwickelte sich suboptimal, wurde dir zur Seelenqual.

 

Darum ließest du von Schattenwesen dich verleiten, abzutauchen in das Dämmerlicht. 

In gutem Glauben, zu halten ein Gegengewicht. 

Dies ist, fürwahr, ein Widerspruch in sich.  

Der Zwang, wie ein Schutzschild dir erschien. 

Manches wird langsam mir sonnenklar. 

Familie ist ein Ort des Haltes. 

Er geht verloren, wenn Unvorhersehbares des Lebens Bahn verschiebt.

 

Meine Hand, ich wollte sie dir doch reichen. 

Gesehen hast du es bedauerlicherweise nicht. 

Finsternis! Über dich herein sie brach. 

Hinfort gespült, alle Hoffnung barst. 

Was ist nur geschehen? Ich kann es nicht verstehen. 

Warum ausgerechnet du warst ausersehen, diesen steinigen Pfad zu gehen. 

 

Dein Erdenleben einer Raupe glich, die sich mit der Zeit verpuppte. 

In ihrem Kokon wachsend, sich einengenden Fesseln entschuppte. 

Um dann, über das Firmament zu ziehen, 

wie eine Sternschnuppe, ‚gen das Himmelreich.

 

Hier bin ich nun und wache über dich. 

So sollte der Lauf der Dinge nie sein. 

Zerplatzter Traum, fällt mir dazu nur ein. 

Eine Träne, die läuft mir über das Gesicht. 

Meine Hand, fängt sie auf. 

Ein Sonnenstrahl sich spiegelt darin. 

Er wärmt sie zu einem luftigen Hauch. 

Ach wäre es doch dein Atem auch. 

 

Nach mir, keiner wird mehr stehen hier, 

wo Wege sollten noch weiter gehen. 

So wird enden einst mein Lebensbrevier: 

mein Kind, unvergessen bleibst, auf ewig, du mir.

 

Tränen liefen ihr über das Gesicht, doch unbeirrt beendete sie ihre Abschiedsworte. Dann drehte sie sich um, die rote Rose in ihrer Hand fiel zu Boden und sie verließ verzweifelt schluchzend den Raum. Stille Andacht und Anteilnahme vereinte die Trauergemeinde.

 

Einer wird der Letzte sein. 

Der macht das Licht dann aus und schließt den Deckel zu. 

Wünscht: „Gute Nacht, euch allen!“, und, „schlaft in seliger Ruh!“  

 

Dies fügte ich ihren Worten im Geiste hinzu und dachte an all jene, denen es schon ähnlich ergangen war und diejenigen, die zukünftig noch Ähnliches durchleben müssen. Und in diesem Moment stand für mich fest, einen Teil meines Leben und Wissens denen zu widmen, die Trost und Halt benötigen in schweren Zeiten. Mir wurde klar, dass ich mein Ausbildungsziel in Richtung Jugendpsychologie spezifizieren würde. Ebenso würde ich den Bereich Sterbe- und Trauerbegleitung in meine zukünftige Tätigkeit integrieren wollen. Und es wurde mir so richtig bewusst, wie gut ich es mit meinem Leben getroffen hatte, welche Möglichkeiten mir offen standen und welche vielfältige Unterstützung ich bisher erfahren hatte. 

 

„Warum hast du mich hierher mitgenommen, Lene?“, fragte ich auf dem Weg zurück zum Auto. „Und warum durfte ich nicht wissen, wohin es geht?“

„Ava ist eine sehr gute Freundin meiner Tante und sie wollte eine Verabschiedung im kleinen Kreise. Darum wusste ich von diesem Termin. Es hat niemand damit gerechnet, dass es sich so herumspricht und dass so viele kommen würden. Leider fällt es vielen erst ein, dass es diesen einen  Menschen gibt, wenn es zu spät ist. Mehr Aufmerksamkeit und Achtsamkeit im Leben hätte vielleicht vieles verhindern können. Und Ava wollte sich bei dir bedanken, da du ihr an jenem Abend eine so große Stütze warst. Sie möchte auch, dass du mit uns bei ihr am Tisch sitzt.“

 

Im Laufe des Nachmittags unterhielt ich mich noch ausgiebig mit Ava und wir spürten tiefe Vertrautheit. Abendfüllende Gespräche und Diskussionen mit ihr gibt es auch heute noch zahlreiche und ich bin ihr sehr dankbar für ihre direkte Art mich mit der Nase auf Offensichtliches hinzustoßen. Wahrscheinlich würde ich noch immer auf dem passenden Moment warten, um Lene auf einen Drink einzuladen. So aber sind wir inzwischen mit unseren drei Kindern und Ava zu einer etwas anderen Art von Patchwork Familie zusammengewachsen.

 

Und wenn ich Ava heute frage: „Wie geht es dir?“ Ist ihre  Antwortet nicht mehr wie anfangs, sie wird lernen müssen damit umzugehen. Irgendwie wird es schon gehen. 

„Ich habe gelernt damit umzugehen. Danke, Simon“, antwortet sie jetzt mit ihrem für sie eigenen scheuen Lächeln, wissend was ich mit meiner Frage meine. Und die Traurigkeit in ihren Augen verschwindet immer öfter und immer länger, aber nie mehr für immer.

 

Nihil in terra sine causa fit

Nichts auf Erden geschieht ohne Grund (nach Hiob 5,6 VUL)

 

Version 2