Von Torsten Schmandt

Ziemlich genau um 16:51Uhr  lebten auf der Erde – keine Ahnung – sagen wir:  x Menschen, und in der nächsten Sekunde waren x-1 davon tot. Hörten einfach auf zu atmen, fielen auf der Stelle um, rasten mit Autos in Leitplanken oder in andere Autos, soffen ab, sackten beim Vögeln zusammen, wer gerade bei einer Beerdigung war, plumpste schwubs mit ins Grab. Alles, was man sich nur vorstellen kann. Aber wem erzähl ich das? 

Ich selbst lag zu dem Zeitpunkt gerade an einem Strand der italienischen Riviera, nahe Portofino. Angestrengt versuchte ich auf das Gemurmel des nahezu lächerlich blauen ligurischen Meers zu lauschen, was bei dem Geschrei und Geplapper von etwa eine Billion Badegästen ziemlich kompliziert war. Und mit einem Schlag war das Geschrei und Geplapper weg. Wie abgeschnitten. Als hätte jemand das Radio ausgeschaltet. Ich hob den Kopf und guckte auf die Uhr: 16:51, als könnte die Uhrzeit Bestätigung darüber geben, dass es mit rechten Dingen zuging, wenn eine Billion Badegäste wie auf Kommando das Maul halten. Dann erst guckte ich mich um. Die meisten Leute lagen ja schon vorher rum auf ihren Liegetüchern und unter Sonnenschirmen. Aber nun hatte sich das allgemeine Rumliegen um eine Nuance verändert. Etwa wie bei einem hübschen Gesicht: wenn sich die Gesichtszüge nur um ein Weniges zueinander verschieben, wird plötzlich eine Fratze daraus. Die Hauptveränderung war natürlich, dass jetzt alle lagen. Alle. Na gut, bis auf einen, den ich gerade noch beim Umfallen erwischte. Auf der Straße, die hinter der Promenade entlangführte, krachte es ein paar Mal. 

Ich blieb liegen und wartete darauf, dass ich Sirenen hören würde, von Rettungswagen, Polizeiautos, Feuerwehr. Das ganze Programm. Aber nichts geschah. Einfach gar nichts. Irgendwann stand ich auf und guckte mir die Bescherung genauer an. Alle waren tot. Daran hatte ich bald keinen Zweifel mehr. Verdammt schaurig war das und beängstigend. Aber traurig war ich deswegen in dem Moment eigentlich nicht, nein, kann ich nicht behaupten. Wahrscheinlich stand ich unter Schock und der hatte alles, was in mir an Empfindungen und Regungen möglich gewesen wäre, eingefroren. Schockgefrostet war ich. 

Auf jeden Fall erfreute mich, schockgefrostet wie ich war, die Stille sogar. Ich kannte diese ganzen Leute schließlich nicht. Ehrlich gesagt waren die mir ziemlich egal – Scheißtouris, wie man gerne mal sagt, wenn man kurzzeitig ignoriert, dass man selber einer ist. Zu dem Zeitpunkt wusste ich ja noch nicht, dass alle, einfach alle Menschen weltweit tot waren, gekillt, hinüber, über den Jordan, abgenippelt, verschieden, eingeschlafen, von uns gegangen… von mir, von mir gegangen. Aber um ehrlich zu sein, ist das vermutlich nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte ist: Ich bin ein ausgewachsener Misanthrop, wobei das noch einigermaßen kultiviert klingt. ‚Menschenhasser‘ trifft es wohl besser. Wie auch immer.

Ich schlenderte rüber zur Strandbar und genehmigte mir einen Gin und sofort noch einen hinterher,  als ich plötzlich ein Plätschern und Tropfen vom Wasser her hörte. Ich guckte über die Schulter und sah eine Frau aus den Wellen steigen. Dachte ich zumindest, dass das eine Frau wäre, und mir war es peinlich, dass sie mich beim Klauen erwischte. Aber dann dachte ich: Die weiß ja nicht, dass ich nicht bezahlen wollte. Zugegeben, ziemlich überflüssiger Gedankenquatsch angesichts der Situation, in der ich mich befand. Aber das sind nun mal die Gehirnreflexe, die man ein Leben lang antrainiert hat. 

Obwohl sie nackt war, beschlichen mich bei näherer Betrachtung Zweifel, ob es sich tatsächlich um eine Frau handelte. Ja, sie hatte Titten, ziemliche Riesendinger sogar, aber wenn sie die Arme hängen ließ, reichten die fast bis auf den Boden (also die Arme, meine ich), und dann: wie sie sich bewegte – als wäre sie mit dem Konzept der Schwerkraft nicht sonderlich vertraut. Und warum sage ich ‚nackt‘? Ihr ganzer Körper war mit Schlamm und irgendwelchem Geschlinge bedeckt, in den Haaren hingen Blätter und Zweige. Als sie näher herangekommen war, konnte man auch einiges Getier auf ihr rumkrabbeln sehen: Krebse, Käfer, Würmer. Wenn ich nicht so schockgefrostet gewesen wäre, hätte mich jetzt die blanke Panik gepeitscht. 

„Wir werden mal ein Wörtchen miteinander reden“, gurgelte sie. Ich wünschte, ich könnte das Wort ‚sagen‘ benutzen. Aber wenn sie den Mund aufmachte, war es solch ein Glucksen, Blubbern und Spratzeln, dass ich sie kaum verstand. Sie setzte sich auf den Barhocker neben mir und angelte sich von da aus eine Flasche aus dem Regal, was noch einmal ein neues Licht auf die Reichweite ihrer Arme warf. Mit den Zähnen riss sie den Schraubverschluss von der Flasche und spuckte ihn über die Theke, wo er ohne Aufprallgeräusch niederging, was in meiner Vorstellung das ungute Bild entstehen ließ, sie habe mit dem Deckel den toten Barmann getroffen, – na ja, als wäre das jetzt nicht auch egal.

„Ich weiß nicht, was passiert ist. Plötzlich sind alle tot umgefallen.“ Ich hörte mich an, als müsste ich mich rechtfertigen. Aber für was? Dafür, dass ich noch lebte?

„Hab euch das Licht ausgeknipst“, antwortete sie, nachdem sie einen kräftigen Schluck aus der Flasche genommen hatte, „endlich ausgeknipst. Hätt ich viel früher machen sollen. Ihr geht mir schon lange sowas von auf’n Sack.“

„Entschuldigen Sie, wen meinen Sie?“ Anstatt zu antworten stieß sie mir den Ellenbogen in die Rippen.

„Halt’s Maul! Dass ihr Menschen nie das Maul halten könnt. Aber jetzt ist endlich Schluss, finito, aus die Maus. Sagt ‚Sie‘ zu mir, der Idiot. Für wen hältst du mich eigentlich?“ Ich zuckte mit den Schultern und nippte, um Zeit zu gewinnen, an meinem Gin.

„Eigentlich würde ich sagen: Ich halte Sie für Mutter Natur, aber…“ Ich brach mit dem peinlichen Gefühl ab, auf eine rhetorische Frage geantwortet zu haben. Sie fing an zu blubbern und zu gluckern, dass ich Angst bekam, gleich würde ihr etwas Ekliges aus Ohren, Nase und Mund fließen, bis mir klar wurde, dass es ihre Art war zu lachen. 

„Mutter Natur… du bist echt eine Granate… nicht zu fassen.“ Und im nächsten Moment war sie wieder toternst und stierte mir in die Augen.

„Genau die bin ich, Mutter Natur. Und Mutter Natur hat verdammtnochmal die Nase voll von euch. Dass ihr alles in die Grütze kloppen müsst, capice?“ Mit der flachen Hand schlug sie mir gegen die Stirn, dass ich fast rückwärts vom Hocker fiel. Sie umschlang mich mit einem ihrer Tentakelarme.

„Hübsch hiergeblieben, Bübchen. Bin noch nicht fertig mit dir.“ 

„Warum lebe ich dann noch?“, fragte ich und biss mir sogleich auf die Zunge. Wahrhaftig, dass wir Menschen aber auch nie das Maul halten können! Sie hob die Flasche und ließ den Inhalt ins aufgesperrte Maul gluckern.

„Bist doch nur einer“, antwortete sie, als die Flasche leer war, „und ni-ni-nirgendwo eine Pussi, in die du deinen Lümmel reinstecken könntest, um einen Neustart hinzulegen, capice?“ Ich duckte mich, sodass der Hieb diesmal  über den Scheitel rutschte und ein paar Haare ausriss.

„Was? Ich… ich bin der einzige, der noch lebt? Ich meine wirklich der einzige auf der ganzen Welt?“

„Bla bla bla, kann einfach nicht die Fresse halten“, murmelte sie, während sie sich die nächste Flasche aus dem Regal fischte. Ich goss mir ebenfalls noch einen ein und eine Weile schwiegen wir.

„Warum ausgerechnet ich?“, traute ich mich irgendwann zu fragen.

„Was für eine dämliche Frage. Dämlich und beschränkt. Als würde nicht jeder andere auch die Frage stellen.“ 

„Wenn jeder die Frage stellen würde, dann ich natürlich ebenso. Also kein Grund, unfreundlich zu werden.“ Der Gin machte mich allmählich aufmüpfig.

„Weil ihr nun mal alle dämlich seid“, antwortete Mutter Natur, „dämlich und in jeder Hinsicht scheiße. Und nun hab ich euch die Lampen ausgeknipst.“ Ich wiegte zweifelnd den Kopf.

„Dann lassen Sie mich so fragen: Wozu haben Sie überhaupt jemanden übrig gelassen? Warum nicht alle Lampen ausgeknipst?“ Sie hatte hinter meinem Rücken ausgeholt und ließ die Hand auf meine Schulter krachen.

„Kann es einfach nicht lassen, der Schlaumeier, muss immer noch eine Klugscheißerei rauslassen. Genau das ist die Scheiße mit euch. Oder war die Scheiße. Jetzt ist es ja vorbei, finito, aus die Maus.“ Nach ein paar Schlucken aus der Flasche antwortete sie trotzdem:

„Ich brauch doch einen Chronisten, einen Kronzeugen, wenn du so willst.“

„Wozu brauchen Sie den?“

„Wer gibt mir sonst so possierliche Namen wie ‚Mutter Natur‘. Zugegeben, ohne euch wäre es vielleicht ein bisschen langweilig auf Dauer.“ Zuerst dachte ich mir nichts dabei. Aber dann wurde ich stutzig.

“Auf Dauer, ich meine, was ist denn bei Ihnen eine Dauer? Sie berechnen die Zeit wohl eher in Jahrhunderten als in Jahren, könnte ich mir vorstellen.” 

“Und?”

“Na ja, bei solcher Maßeinheit bin ich ja quasi morgen schon tot, wenn Sie verstehen, was ich meine.”

“Klar verstehe ich, was du meinst”, antwortete sie. “Ich kapier sogar so ziemlich alles, was man nicht von allen Anwesenden behaupten kann.”

“Ich wollte darauf hinaus…”, fing ich an.

“Halt’s Maul, ich weiß, worauf du hinaus willst. Was meinst du denn? Wenn ich euch allen auf einen Schlag das Licht ausknipsen kann, dann kann ich doch wohl einem einzigen von euch eine Portion ewiges Leben einbrocken, denkst du nicht?” Es dauerte einen Moment, bis ich die Botschaft verarbeitet hatte.

„Moment, Sie wollen sagen…“ Mir blieb die Luft weg.

„Was?“

„Wollen sagen, dass ich ewig leben werde?“

„Pfiffiges Bürschchen.“ Mutter Natur hing über dem Tresen, als wäre sie besoffen oder einfach nur müde. Schließlich rappelte sie sich auf und rutschte vom Barhocker.

„Wir sehen uns“, sagte sie und stiefelte davon in Richtung Straße. Dann drehte sie sich noch einmal um und schrie:

„Am Marktplatz findest du ein Schreibwarengeschäft. Die haben Papier und Stifte und alles. Sei ein braver Chronist, mein Kleiner.“ 

Du kannst mich mal, dachte ich, hab mich dann aber – wie man sieht – doch auf den Weg gemacht. Vielleicht hat sie recht: Wir können einfach das Maul nicht halten.