Von Agnes Decker

Der Abend ist schon weit fortgeschritten,  wie immer, wenn ich diese CD in das Abspielgerät schiebe. Mit geröteten Gesichtern stehen sie da, eng an eng, die Arme um die Schultern der neben ihnen Stehenden gelegt oder untergehakt, schwanken gemeinsam hin und her, wie ein Körper, links, rechts, links, rechts. Ein bunt kostümierter, schunkelnder Schwarm, in manchem Auge Tränen der Rührung und Selbstverliebtheit, verloren in Musik, Trunkenheit und Nähe. So sind sie, die Kölner, voller Liebe zu ihrer Stadt und zu sich selber, voller Melancholie und Herzschmerz.

Manche haben Stunden auf Einlass gewartet, trotz der Eiseskälte. Nie ist die Chance so groß, jemanden kennenzulernen und sei es auch nur für eine Nacht oder Session. Erst morgens um sechs werden die Musik aus- und das Licht angehen. Ramponiert  sehen sie dann aus, die Übriggebliebenen, die immer noch hoffen. Erschöpft und betrunken stehen sie im grellen Licht, die Restschminke in den Falten ihrer müden Gesichter. Die, die trotz aller Mühe und Kreativität bei der Kostümwahl, alleine nach Hause gehen werden, falls sie nicht beim allerletzten Kölsch noch jemanden abschleppen, der auch nicht alleine bleiben möchte oder zu betrunken ist, um sich zu wehren.

Meine Frau singt laut mit, während sie ein Bier nach dem anderen zapft. Ich begleite sie mit einem leisen Pfeifen. Alle Texte kann sie auswendig. Ihre schöne, klare Stimme schwebt über denen der  anderen und gibt sogar den Grölern und Brüllern das Gefühl, singen zu können.

 

Das alles kommt mir vor, als wäre es lange her, dabei ist gerade ein halbes Jahr vergangen. Jetzt, in diesem Moment erscheint es mir unwirklich, wie ein Traum, der, wenn die Erinnerung sich daran heften will, weggesogen wird, Stück für Stück. 

Wenn ich mich umschaue, ist nichts mehr bunt und lebendig. Im Gegenteil. Alles wirkt tot, so, als hätte es mit sich abgeschlossen, würde nicht mehr gebraucht. Was ja auch so ist, seit dem Frühjahr. Der gottverdammte Lockdown traf uns mitten in der Renovierungsphase, mit der wir, wie immer, unmittelbar nach Karneval begonnen hatten, und die wir beendeten ohne zu wissen, ob und wann es weitergehen würde. 

Was haben wir nicht alles versucht, als es endlich wieder losging. Das „Ricky“  ist groß genug, vor allem durch den angrenzenden Saal,  um die Gäste sicher unterbringen zu können, mit dem nötigen Abstand und den üblichen Regeln. Aber das hat die Kosten nicht gedeckt. Der regelmäßige Schwof hat gefehlt, die Musiksessions, die Kleinkunstveranstaltungen.

Haben es trotzdem versucht, solange es erlaubt war. An warmen Tagen noch Tische und Bänke auf den Bürgersteig, ganz nahe an die Hauswand gestellt. Das erforderte  viel Körpereinsatz und Lauferei für das wenige Personal, das wir nicht in Kurzarbeit geschickt hatten. Gerechnet hat es sich nie. Es war nur besser, als ganz zu schließen. 

Wie viele Abende haben wir damit verbracht, sie und ich, am Tresen stehend, rechnend, grübelnd, um jedes Mal wortlos unseren gemeinsamen Traum zu begraben. Wissend, dass wir nicht wieder öffnen könnten, wenn wir einmal noch einmal schließen müssten.

Ich streiche gerade  sanft mit der Hand über das abgewetzte, glatte Holz der Theke, als ich ihren Blick spüre. Hatte gar nicht bemerkt, dass ich laut vor mich hin gepfiffen habe, war so versunken in der Vergangenheit, in die ich wieder zurückkehre, in Gedanken, immer wieder.  Ich drehe mich um und schaue direkt in ihre Augen. Sie senkt sofort die Lider, so, als solle ich nicht mehr sehen, als ohnehin schon. 

Wir haben nie viel miteinander geredet. Hatten wenig Zeit, allein miteinander zu sein. Aber gespürt haben wir uns immer, gewusst, was der andere fühlt und denkt. So hat unsere Liebe angefangen. Und so ist sie immer noch, nach all den Jahren.

Ich weiß noch wie es war, als ich sie das erste Mal sah, in ihrem Dirndl, die wilden, rotbraunen Locken in Zöpfen gebändigt, die ihr bis zur Brust reichten. Etwas unsicher hatte sie da gestanden, in dem karnevalistischen Getümmel, mit dem Rücken an die Wand gelehnt und ihrem kleinen, verlegenen Lächeln.  Ich wusste gleich, das ist die Frau, mit der ich mein Leben verbringen werde, hatte überhaupt keine Zweifel. Ich schaute sie an und sie mich und mir war klar, dass sie genauso fühlt wie ich. Das mag kitschig klingen, aber so war es. Wir sind aufeinander zu gegangen und haben uns nie mehr getrennt, mit wenigen Ausnahmen, etwa für die Zeit der Berufstätigkeit, und das später ja dann auch nicht mehr. 

Damals haben wir die ganze Nacht lang getanzt, Wange an Wange, Körper an Körper. Sie erzählte mir, dass sie gerade erst nach Köln gezogen und oft alleine sei, nur die Leute kenne, mit denen sie arbeite. Ab jetzt nicht mehr, hatte ich geantwortet, ab jetzt bist du nie mehr allein. Und so ist es geblieben, bis heute. 

Gerade schaut sie mich wieder an, spürt, dass ich mit meinen Gedanken bei ihr bin. Ich würde sie gerne in den Arm nehmen, weiß aber, dass sie das im Moment nicht ertragen könnte. Weinen würde sie, ihre Haltung verlieren, die sie mit ihrer ganzen Kraft mühsam bewahrt hat, in diesen langen Monaten.

Und jetzt ist es soweit, jetzt geht nichts mehr. Meine Frau ist schon vorgegangen. Erträgt es nicht, mir beim Abschied nehmen zuzuschauen. 

Ich sehe sie durch die offene Tür. Sie steht mitten auf dem kleinen Platz, dreht mir den Rücken zu. Ihre Schultern hängen, so als ob sie etwas auf ihnen tragen würde, was zu schwer für sie ist, viel zu schwer, für sie, diese taffe Frau, die schon viele Krisen gemeinsam mit mir gemeistert hat. Immer ein aufmunterndes Wort, ein Lächeln. 

Ich strecke meine Hand aus, lege sie auf den Lichtschalter. Spüre, wie sie zittert. Muss mich zusammenreißen. Kalt wird mir, eiskalt, als das Licht ausgeht. 

Meine Frau dreht sich um. Schaut mich an. Und dann erklingt ihre schöne klare Stimme, schwingt sich in die Höhe, bis sie den ganzen Platz ausfüllt. Sie singt das Lied, das wir immer zum Schluss gespielt hatten, wenn die Menschen müde und erschöpft vom Tanzen und Flirten, an der Theke das letzte Bier orderten. 

Dann kommt eine Männerstimme dazu, und die einer Frau, und es werden immer mehr. Die Fenster der Häuser, rund um den kleinen Platz vor unserer Kneipe, sind aufgegangen, an jedem stehen Menschen, alleine oder mit der ganzen Familie und singen, ein großer, wunderbarer Chor. Singen, wie sie schon im ersten Lockdown gesungen haben, jeden Abend um die gleiche Zeit, um sich und anderen Mut zu machen, wie Kinder, die singen, wenn sie in den Keller gehen. Singen das Lied, das eigentlich von einer anderen Kultkneipe handelt, das wir einfach umgedichtet haben. Aber nur die erste Zeile. Der Rest ist geblieben, die Zeile vom Gardisten, der seine Schritte noch weiß, vom dicke Pitter, der größten Glocke im Dom, die verlässlich schlägt und die vom Speimanes, der Figur, die von der Regenrinne aus auf die Straße spuckt und davon, dass alles gut ist, solange das alles funktioniert und die Lichter in der Kultkneipe noch brennen. Milljö heißt sie, eine dieser jungen Kölner Bands, von der dieses Lied stammt, und die einem mit ihren Mundarttexten und Melodien die Melancholie in die Seele stanzen.

„Jo, sulang stirv der Kölsche nit us.**“ Die letzten Töne verklingen. Jetzt ist es ganz still. Murat ist vor seinen Grillimbiss getreten. Mit der flachen Hand wischt er sich über die Augen. Sein Blick ist auf meine Frau gerichtet, auf Ricky, nach der wir unser Lokal benannten, damals, als wir unseren Traum wahr machten. 

Ach Murat, bester Freund. Wie oft bin ich zu ihm geflüchtet, wenn der fette Jupp mal wieder seinen verkappten Fremdenhass losließ.

 „Jeder Jeck kann mitfiere, mir sin doch so jet von tolerant, mir Kölsche***“, rief der dann betrunken durchs Lokal. Aber mit jedem Jeck meinte er nicht wirklich jeden. Er hatte da schon eine ganz spezielle Einteilung, wer dafür in Frage kommt und mit dieser Meinung hat er auch nicht hinter dem Berg gehalten. Nicht getraut habe ich mich, ihn vor die Tür zu setzen, ist er doch in den Vorstandsetagen vieler Vereine zuhause, die bei uns Jubiläen, Weihnachten, Geburtstage feiern.

„Zuerst kommt Fressen und dann Moral“, zitierte Murat dann gerne, während er das herrlich duftende Fleisch vom Grillspieß schabte, und fügte hinzu, wohl um mich zu trösten. „Mache ich auch so mit manche Muslime, Faust in Tasche“.

Mein Schuldgefühl und meine Wut konnte er mir damit nicht nehmen. War immer ein linker Rebell, die Faust eher nach oben gereckt, als in der Tasche.  

„Komm, arkadaş”, was türkisch ist und Freund heißt, sagte Murat dann und stellte  eine Flasche auf den Tresen seiner Imbissbude. „Trinken wir Raki, vergessen Ärger, trinken wir mehr Raki, vergessen wir Sorgen, tanzen wir, singen wir.“  

Und jetzt stehen wir da, Murat und ich,  jeder auf seiner Seite des Platzes, auf dem meine Ricky ganz alleine mittendrin steht. Ihr Körper hat sich aufgerichtet, so als seien die Mühe und Sorgen der letzten Monate abgefallen. Die Liebe, die ich für sie empfinde, trifft mich mit einer Wucht, die mir den Atem nimmt, gepaart mit einer unendlichen Trauer, dass ich ihr diesen Moment nicht ersparen konnte.

Auch die Menschen an den Fenstern schauen, so wie Murat und ich, gebannt auf Ricky. Ich streiche noch einmal mit der Hand über das Holz der wuchtigen Eichentür, bevor ich sie abschließe, und das, ebenso wie das Holz der Theke, warm ist und lebendig. Dann überquere ich den Platz, drehe unserem Traum den Rücken zu.

„Komm“, sagt meine Frau, als ich neben sie trete. „Ja“, sage ich und nehme ihre Hand. Sie geht ganz nah neben mir, ich kann ihre Wärme spüren. Als wir gerade in die Nebenstraße einbiegen wollen, die zu dem Parkplatz führt, auf dem unser Auto steht, brandet hinter uns Applaus auf. 

Wir gehen weiter, engumschlungen, drehen uns nicht um. 

„Et kütt, wie et kütt****“, flüstert Ricky mir ins Ohr, in ihrem liebenswerten, schiefen Kölsch mit dem bayrischen Akzent.

 

*Solange die Lichter noch brennen 

**Ja, solange stirbt der Kölner nicht aus 

*** Jeder Narr kann mitfeiern, wir sind doch so was von tolerant, wir Kölner. 

****Es kommt, wie es kommt

Version 3