Von S.M. Syrch
Es war ein Tag wie jeder andere, wir haben gelacht und getobt. Wir liefen durch den Garten, hinten hinaus durch das Tor, weiter durch das lila Mohnblumenfeld und hinauf auf den nahen Hügel. Und dann plötzlich bist du zusammengebrochen.
Es kam so plötzlich, unvorhersehbar, dass ich mir keine Gedanken darüber machen konnte, ob dies etwas Schlimmes zu bedeuten hatte. Aber dieser eine Moment, nur ein Wimpernschlag, länger hat es nicht gedauert, hatte mein Leben verändert. Dieser eine Augenblick zog mir den Boden unter den Füßen weg.
Hirntumor, war das fatale Ergebnis der Untersuchung im Spital. Unheilbar, zu weit fortgeschritten, waren das wirklich Schlagworte, die mir in Erinnerung geblieben sind, oder habe ich es mir nur eingebildet?
Traum und Realität schienen zu verschwimmen, ich konnte es einfach nicht mehr unterscheiden. Die folgenden Monate verflogen. Wie sehr habe ich jeden Abend um einen weiteren Tag gebetet, doch vergebens. Sollte es einen Gott geben, hier oben, der über uns wacht, dann frage ich mich, warum hast du bei uns weggeschaut, wo warst du?
700 Tage ist es nun her, endlos quälende Stunden ohne dich, triste freudlose Wochen, verdammt einsame Monate.
Es fällt mir schwer, wieder Mut zu fassen und mein Leben weiterzuleben. Wie ein grauer Schleier überzieht es alles, als wandle ich im Nebel vergeblich auf der Suche nach dem Ausweg, nach einem Zeichen, dass mir wieder Hoffnung schenkt. Und dann durchzuckt mich dieser eine Gedanken – es gibt Dinge, die sollen einfach nicht passieren: Flüsse, die kein Wasser führen, Schnee im Sommer und Kinder, die vor ihren Eltern sterben.
Es muss doch zumindest diese eine Regel geben, als Ergänzung zu den 10 Geboten, gemeißelt in Stein und jeder ist verpflichtet sich daran zu halten, wie im Himmel, so auch auf Erden.
Und dann gibt es doch Minuten, an denen ich lache, mich über die kleinsten Dinge freue, wie einen Regenbogen, eine Entenfamilie in unserem Teich oder die warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Doch gleich darauf verfalle ich in ein tiefes Loch, Schuldgefühle überkommen mich und ziehen mich noch weiter hinab. Welches Recht habe ich, mich noch an etwas zu erfreuen, wenn dir jemand, ein überirdischer Richter, alles Recht genommen hat.
Ich schwanke zwischen himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt, und finde für mein rastloses Herz keinen Mittelweg. Schwer klopfend schlägt es jede Sekunde tapfer weiter, so als wolle es mir sagen, deine Zeit ist noch nicht gekommen. Und dennoch sehne ich nichts so sehr herbei, wie mein erlösendes Ende.
Der Gedanke, dass du vorausgegangen bist, tröstet mich, wenngleich es schwer zu verkraften ist. Wäre da nicht diese Kraft, wie eine unsichtbare Hand, die mich jeden Tag mehr dorthin zieht. Sie drängt mich an einen Ort, wo noch kein Lebender war, und dennoch, alle Daseinsmüden lechzen danach, voller Gier versuchen sie ES zu erreichen. Weder Raum noch Zeit spielen dort eine Rolle, es ist mehr ein Gefühl, fest umschlungen voller Zufriedenheit, entflohen der beengenden irdischen Hülle.
Wäre ich nicht so feig, ich wäre dir schon längst gefolgt, doch wer sagt mir, dass wir uns wiedersehen werden?
So sitze ich jeden Tag an deinem Grab, erzähle dir immer wieder die gleichen Geschichten, langweile dich sicherlich damit, doch es beruhigt mich mit dir zu sprechen. Ich zupfe einige verwelkte Blätter der Strauchrose ab, mehr mechanisch als bewusst und erfreue mich an ihrem Duft. Die flachen Blütenschalen erinnern an ein Puppenteeservice, so zart und zerbrechlich wirken sie, trotz ihres üppigen Wachstums. Fast bis zum Boden reicht die Blütenpracht und es scheint, als wollen die Rosettenblüten die lila Halme der Mohnblumen umschmeicheln, welche zu ihren Füssen wachsen. Rosa, deine Lieblingsfarbe, denke ich, während ich meine Nase in den vollen Blüten vergrabe. Ein intensiver Duft nach historischen Rosen umhüllt mich, ein Hauch von Vanille mit Nuancen von Pfeffer und Weihrauch vermischen sich und bringen mich an einen Ort und einen Zeitpunkt zurück, den ich mit aller Gewalt versuche zu vergessen.
Du warst schon im Krankenhaus, es war mehr ein Hospiz, doch das sagte ich dir nie, auch wenn du es wahrscheinlich schon längst gewusst hast. Du sahst mich an, traurig und leer war dein Blick. Ich wusste, es war Zeit Abschied zu nehmen, doch ich verdrängte diese Gewissheit so sehr, dass es mir wie ein böser Traum vorkam.
Meine letzten Worte an dich, waren nicht etwa „ich liebe dich“ oder „wir sehen uns morgen“, es waren banale und im Nachhinein betrachtet so sinnlose Worte, „soll ich das Licht abschalten?“.
Du hast nur genickt, trüb war dein Blick, aber ich schöpfte Hoffnung, dass es dir bald wieder besser gehen würde. Und du hast geantwortet, „ja bitte, der Letzte soll das Licht abdrehen.“
In lieber Erinnerung an Polly…