Von Helmut Blepp

Sie hatten nur noch ihren Tod feststellen können. Jetzt stand Muller an ihrem Bett, betrachtete das zerstörte Gesicht, das notdürftig von Blut gereinigt war und verlor sich in nutzlosen Erinnerungen. Nach einigen Minuten räusperte sich der Uniformierte in seinem Rücken. Er drehte sich zu ihm um und nickte. Beide verließen den Behandlungsraum. 

„Würden Sie bitte morgen gegen zehn aufs Revier kommen. Wir haben noch einige Fragen.“ 

Muller nickte stumm.

 

Vor der Klinik wuchs sich seine Unruhe zu einer kurzen, aber heftigen Panikattacke aus. Ich muss etwas unternehmen, dachte er, und zwar bevor die Polizei herausfindet, dass ich zum Zeitpunkt des Unfalls gar nicht in meinem Stadtbüro war.

 

Er wählte eine Kurzwahlnummer. Beck, sein Syndikus, meldete sich sofort. 

„Ich brauche einen guten Anwalt.“ 

„Bitte, bleiben Sie in der Leitung, Mister Muller“, bat Beck, ohne Fragen zu stellen, und Muller hörte, dass er den Hörer beiseitelegte und mit seinem zweiten Apparat telefonierte. Dann nahm er den Hörer wieder auf und sagte: „Ich habe einen Termin bei Uno Satirev für Sie vereinbart.  Er hat beste Referenzen und erwartet Sie heute um fünfzehn Uhr in seiner Kanzlei. Ich sende Ihnen Kontaktdaten und Adresse per SMS.“ 

 

Es war ein imposantes Hochhaus mit einer spiegelverglasten Fassade. Muller stieg aus und schaute daran hoch. Mindestens vierzig Etagen, schätzte er. Eilig betrat er das Foyer und wendete sich zum Empfang. 

„Mister Satirev erwartet Sie, Sir“, bestätigte die junge Frau. „Bitte, nehmen Sie Aufzug `H´. Der Liftboy bringt Sie nach oben.“ 

Ein Liftboy, dachte Muller. Versnobter Laden! 

Er ging durch die Halle zu den Aufzügen. Sobald er vor dem mit der Aufschrift `H´ stehen blieb, glitt die Tür automatisch zur Seite. Er trat in die Kabine, und tatsächlich begrüßte in dort ein schmächtiger kleiner Mann in roter Livree mit goldenen Litzen sowie einem ebenso aus der Zeit gefallenen Käppi. Allerdings war der `Boy´ mindestens siebzig und die wässrig blauen Augen in dem runzeligen Gesicht wirkten trübe. 

„Dreizehnter Stock“, brummte Muller, ohne den Gruß zu erwidern und drehte sich in Richtung Tür. 

Nichts geschah. 

Ungehalten wandte sich Muller zu dem Liftboy um, der ihn ratlos anschaute. „Hören Sie schwer“, polterte er. „Ich sagte, in den Dreizehnten!“ 

„Aber, Sir, in diesem Gebäude gibt es keine dreizehnte Etage.“ 

„Quatsch!“ 

Muller richtete den Blick auf die Leiste mit den Wahltasten. Erstaunt stellte er fest, dass es stimmte. Auf die ins Metall geätzte `12´ folgte die `14´. Wohl ein Spleen des Erbauers, vermutete Muller. Er hatte das auch schon von Hotels gehört. Dummer Aberglaube! 

„Gut, dann fahren Sie mich eben in den Vierzehnten. Wenn ich dort die Kanzlei von Satirev nicht finde, gehe ich die Treppe hinunter in den Zwölften.“ 

Der Liftboy tat wie geheißen. Mit einem leisen Summen setzte sich die Kabine in Bewegung. Schnell sprangen die Lichter auf der Wahlleiste von Zahl zu Zahl. Bald war es die `10´, dann die `11´, … und dann gab es ein heftiges Rütteln, begleitet von einem metallischen Kreischen. Der Aufzug hatte angehalten. 

Begünstigt durch die Enge der Kabine hatten sich die beiden Männer auf den Beinen halten können. Jetzt standen sie sich gegenüber, die Beine gespreizt, die Arme ausgebreitet, die Hände an die Wand gepresst. Sie lauschten auf weitere Geräusche, warteten auf einen nächsten Ruck, auf den Absturz der Kabine. Aber es blieb ruhig. Stillstand. 

„Verdammt! Ich muss hier raus“, stieß Muller hervor. „Tun Sie gefälligst was!“ 

Verunsichert öffnete der kleine Mann eine Klappe über dem Tastenfeld, hinter der ein Telefon lag. Er nahm es heraus, hantierte daran, doch als er es aktivieren wollte, reagierte es nicht. Nach mehreren Versuchen gab er auf. 

„Der Akku ist wohl leer“, stellte er kleinlaut fest.

„Was ist das hier denn für ein Scheißladen! Ich werde diese ganze Bande verklagen.“ 

Muller war außer sich. Er zog sein Telefon aus der Manteltasche, versuchte, es einzuschalten, blieb aber erfolglos. Das Gerät war tot. 

Der Liftboy presste sich in die Ecke, die am weitesten von Muller entfernt war und stammelte: „Es gibt noch einen Notschalter. Da, dieser dicke rote Knopf.“ 

Muller sah die Tastatur an und presste seinen Daumen auf den besagten Knopf. Zunächst passierte nichts, doch dann hörten sie ein Rauschen aus einem Lautsprecher über ihnen, gefolgt von einer schnarrenden Stimme: „Bleiben Sie ruhig. Wir holen Sie.“ 

„Und wie lange wird das dauern“, rief Muller der Kabinendecke zu. „Ich habe noch Termine.“ 

Wieder ertönte die verfremdete Stimme: „Bleiben Sie ruhig. Wir holen Sie.“ Kein Wort mehr. Auch das Rauschen verklang. 

„Das ist nur eine Bandaufnahme“, stellte Muller fest. „Da ist gar keiner.“ 

Aber während er sich noch resigniert auf den Boden setzte, waren außerhalb der Kabine Geräusche zu hören, von einem Elektroschrauber offenbar, aber auch Hammerschläge und dumpfes Kratzen. Als Ergebnis glitt plötzlich eine der Liftwände weg, und die Eingeschlossenen starrten hoch auf eine nackte Betonwand, auf die mit Hilfe einer Schablone eine schwarze `12´ gesprayt worden war. Die Farbe war matt und leicht verwittert. 

Die abgelöste Fahrstuhlwand schlug mit lautem Getöse am Boden des Schachts auf. 

Muller zuckte heftig zusammen. 

Der Liftboy war mittlerweile nur noch ein zitterndes Bündel in seiner Ecke, das Gesicht mit den Armen verdeckt, vor sich hin wimmernd. 

Außerhalb des Aufzugs wurde weitergearbeitet. Der Einsatz schwerer Werkzeuge war deutlich hörbar. Mehrfach erbebte der freihängende Kubus. Die Kabinenwände schlugen immer wieder an die Betonfassung des Schachts. 

Muller fühlte, wie die so fürchterlich vertraute Panik in ihm hochstieg. Er kannte dieses Pochen in der Brust, diese schnappenden Atemzüge, die immer kürzer wurden und zu wenig Luft in seine krampfenden Lungen transportierten. Er registrierte, wie ihm Schweiß aus allen Poren schoss und seine Kleidung durchtränkte, wie ihm klebrige Tropfen in die Augen rannen und salzig brannten. Seine Todesangst entlud sich in einem einzigen Schrei. 

„Hilfe!“

Zunächst erfolgte keine Reaktion, doch dann hielten die anonymen Arbeiter da draußen inne. Unvermittelt setzte das Rauschen des Lautsprechers wieder ein. Dann bekundete die emotionslose Stimme erneut: „Bleiben Sie ruhig! Wir holen Sie!“ 

Wie zum Beweis für dieses Versprechen vibrierte die Aufzugskabine plötzlich und bewegte sich nach oben. Der Liftboy nahm fassungslos die Arme von den Augen. Langsam, in einem zähen Prozess, von einem dröhnenden Motor ausgelöst, kroch der Lift in die Höhe. 

Muller starrte auf die Betonwand, während die schwarze `12´ langsam nach unten wanderte. Den Blick zwanghaft auf diese graue Wand gerichtet, verfolgte er, wie dort allmählich eine neue Beschriftung erschien. Es war eine `13´, in grellem Rot auf die glatte Fläche geschmiert. Die Farbe glänzte noch und lief in dünnen Fäden von den Ziffern herunter.

Muller keuchte. Der gnadenlose Ring, der sich um seinen Brustkorb spannte, zog sich weiter zusammen. Und während er verzweifelt Luft einsog, ahnte er den Grund für sein Verhängnis. 

„Es war ein Unfall“, rief er in größter Not. „Nur ein leichter Stoß. Sie stürzte unglücklich.“ 

Er rang nach Atem, wollte sich rechtfertigen. Doch er blieb stumm, während der Lautsprecher wieder verkündete: „Bleiben Sie ruhig. Wir holen Sie.“ 

Mit weit aufgerissenen Augen verfolgte er, wie der Aufzug seine schwerfällige Fahrt nach oben fortsetzte, bis ein schriller Ton ihn plötzlich bremste. 

Und dann holten sie ihn.