Von Daniel Magar

Ich habe probiert, hier einfach nur eine gewöhnliche Anzeige einzustellen. Eine, in der die technischen Daten des Autos sauber aufgelistet sind, dazu ein paar Bilder, den Preis natürlich und vielleicht noch ein oder zwei Sätze zu vorhandenen Schäden. All das werden Sie weiter unten auch finden, keine Sorge.

Als ich das Inserat jedoch fertig erstellt hatte, wurde ich das Gefühl nicht los, dass noch etwas fehlte. Dass dieses Auto mehr zu bieten hat, als eine nüchterne Auflistung von Daten und Fakten. Sollten Sie nur an Letzterem interessiert sein, können Sie, wie bereits erwähnt, einfach nach unten scrollen. Aber dann würden Sie die eigentliche Geschichte zu diesem Auto verpassen, und das wäre, wenn Sie mich fragen, mehr als schade.

 

Es fing damit an, dass Opa starb. Sein Tod kam nicht überraschend, und trotzdem warf er uns alle ziemlich aus der Bahn. Oma, die sich bis zuletzt um ihn gekümmert hatte, war danach kaum wiederzuerkennen. Sie war immer eine fröhliche und herzliche Frau gewesen, die uns jeden zweiten Sonntag zum Gemüsequiche-Essen einlud. Nach Opas Tod zog sie sich in sich zurück, und wenn wir Enkel sie doch mal besuchten, hatten wir den Eindruck, dass sie das Lachen für immer verlernt hatte.

Ihren Kindern wurde bald klar, dass etwas getan werden musste. Oma wollte von professioneller Hilfe nichts wissen. Sie war davon überzeugt, dass das alles Geldverschwendung sei, und dass es für sie im Leben ohnehin nichts anderes mehr zu tun gäbe, als auf den Tod zu warten. Als sich Papa und seine Geschwister dazu entschlossen, Geld zusammenzulegen und dieses Auto zu kaufen, war es, wenn man ehrlich ist, so etwas wie der letzte Strohhalm, nach dem sie griffen.

Oma hatte ihr ganzes Leben von einem Mercedes geschwärmt. Silbern sollte er sein, fünftürig und natürlich einen Stern auf der Motorhaube haben. Ich glaube, es war vor allem die Eleganz, die ein solcher Mercedes ausstrahlte, die sie so anzog. Wann immer ich mit Oma in unserem Dorf unterwegs war, wies sie mich auf jeden am Wegesrand stehenden Mercedes hin. Manchmal, wenn ein Auto alle oben beschriebenen Merkmale aufwies und Omas hohe Sauberkeitsstandards zumindest annähernd erfüllte, blieb sie sogar kurz stehen, um es zu bewundern.

Als wir Oma an ihrem Geburtstag nach draußen auf die Straße bugsiert hatten und Papa im blitzenden und mit großer roter Schleife versehenen Mercedes um die Ecke bog, sahen wir sie zum ersten Mal seit Opas Tod lachen. Sie schlug die Hände vors Gesicht, lief immer wieder um das Auto herum und streichelte den Stern auf der Motorhaube so sanft mit einem Finger, als würde es sich um das Köpfchen eines Neugeborenen handeln. Wir johlten, dass sie sich ins Auto setzen solle, um eine Runde um den Block zu drehen, aber sie weigerte sich strikt auch nur den Motor anzulassen. Wir dachten uns nichts dabei und hielten es wohl auch für das einzig Vernünftige, denn sie zitterte geradezu vor Freude. Doch eine Woche später stand das Auto noch immer unbewegt in ihrer Einfahrt. Wir grübelten lange, was wir tun könnten, bis ich schließlich eine Idee hatte.

Ich überzeugte sie davon, mit mir eine Spritztour in die Stadt zu machen, wo ich sie zum Essen einladen wollte. Ich war damals gerade achtzehn geworden, und die Vorstellung, mit dem ebenso teuren wie mir fremden Auto zu fahren, jagte mir gehörig Angst ein. Aber ich hatte ja einen Plan und daher keine andere Wahl. Die Fahrt war dann auch alles andere als ein Vergnügen, was allerdings weniger am Mercedes lag, als vielmehr daran, dass Oma jedes Mal zusammenzuckte, wenn wir uns einem anderen Auto auf mehr als zwei Meter näherten. Gleichzeitig verlor sie den Tacho für keine Sekunde aus den Augen und wies ebenso verlässlich wie energisch daraufhin, wenn ich wieder Gefahr lief, die Geschwindigkeitsbegrenzung um weniger als fünf km/h zu unterschreiten.

Nichtsdestotrotz kamen wir irgendwann an und verbrachten einen schönen Abend in der Altstadt. Als wir wieder zum Mercedes zurückkamen, hielt ich Oma die Schlüssel hin. Sie sah mich mit großen Augen an und fragte, was ich da mache. Ich strahlte sie an und antwortete, dass ich während des Essens ungeschickterweise zu viel getrunken hätte und dass wohl nun leider sie zurückfahren müsse. Es folgte eine rund zehnminütige Diskussion, an deren Ende Oma sich widerwillig auf den Beifahrersitz plumpsen ließ und mit nervösen Fingern den Zündschlüssel umdrehte. Das Auto erwachte zum Leben, und mit einem Mal schienen Omas Bedenken wie weggewischt. Ihre Augen blitzten, als wir vom Parkplatz runterrollten.

Während der Fahrt sprach sie nur wenig. Sie war vollkommen eingenommen von ihrem neuen Auto. Wann immer wir an einer Ampel zum Stehen kamen, strich sie gedankenverloren über den Stern in der Mitte des Lenkrads. Als wir endlich von der Landstraße in Richtung unseres Dorfes abbogen, zogen wir eine beträchtliche, von Oma scheinbar unbemerkte Schlange an Autos hinter uns her, und aus Omas Gesicht sprach pure Begeisterung.

Am nächsten Tag taufte Oma den Mercedes Gisbert – ein Name, den sie, wäre sie Alleinentscheiderin gewesen, schon meinem Vater, spätestens aber einem ihrer Enkel gegeben hätte -, und fortan waren Oma und Gisbert unzertrennlich.

Mit Gisbert an ihrer Seite, traute sich Oma langsam wieder hinaus in die Welt. Es fing damit an, dass sie wieder regelmäßig selbstständig einkaufen ging und zu Treffen ihres Gesangsvereins im Nachbardorf fuhr. Als der Frühling kam, meldete sie sich für einen Englischkurs für Senioren an, der sich zweimal in der Woche in der Stadt traf. Die Pflege von Gisbert übernahm sie, soweit sie konnte, selbst. Lediglich als einmal Öl nachgefüllt werden musste, ließ sie widerwillig meinen Onkel die Motorhaube öffnen. Oma nutzte die Gelegenheit, um den Motorblock und all die anderen Leitungen und Behälter, die irgendwie in ihrer Reichweite lagen, feucht abzuwischen.

Gegen Ende des Sommers hievte Oma ihren alten Lederkoffer in Gisberts Kofferraum und fuhr für eine Woche ans Meer. Es war ihr erster Urlaub dort – mit Opa war sie meistens in Städten, bestenfalls mal an Seen unterwegs gewesen, da er eine an Angst grenzende Abneigung gegen die Weiten des Meeres aus dem Krieg mitgebracht hatte. Als sie heimkam, war sie braungebrannt und sah fünf Jahre jünger aus.

Während des Urlaubs hatte Oma den Entschluss gefasst, Opas altes Arbeitszimmer in ein Bügelzimmer für sich umzufunktionieren, inklusive einem Neuanstrich der Wände. Sie trommelte die Familie zusammen, um die Möbel hinauszubefördern, bevor sie persönlich mit den Streicharbeiten begann. Grundsätzlich war Oma noch ganz gut zu Fuß, aber auf Leitern wurde dann doch alles etwas wackelig, weswegen mir die ehrenvolle Aufgabe zufiel, ein Paar stützender Hände an ihre Beine zu legen, währen sie die oberen Enden der Wände in Minzgrün strich.

Die Sommerurlaube am Meer wurden zur festen Tradition. Sieben Jahre lang fuhren Oma und Gisbert zum Meer. Letztes Jahr nahm sie uns Enkel mit. Wir boten Oma an, uns mit dem Fahren abzuwechseln, aber davon wollte sie nichts hören. Wir teilten uns auf zwei Bungalows unweit vom Strand auf. Nach dem Frühstück gingen wir zum Strand hinunter, wo wir bis zum späten Nachmittag in der Sonne faulenzten. Wir verließen den Strand gegen Abend nur kurz, um gemeinsam zu essen, bevor wir wieder zurückkehrten und meine Cousins und ich ein paar Bier tranken, während Oma meist still in einem Strandkorb saß, Kreuzworträtsel machte und aufs Meer hinausschaute.

Damals hatten wir keine Ahnung, dass es Omas letzter Urlaub sein sollte. Oma hatte niemandem von dem Tumor erzählt. Vor einem Monat kam sie von ihrem Arzt heim, stellte Gisbert in der Einfahrt ab, ging in ihr Schlafzimmer und schluckte den kompletten Inhalt der kleinen, runden Dose auf ihrem Nachtschränkchen.

 

Wir haben in der Familie lange darüber diskutiert, wer Gisbert bekommen sollte. Letztendlich entschieden wir uns dazu, Gisbert zu verkaufen, in der Hoffnung, dass es da draußen noch jemanden gibt, der sein Leben lang von einem Mercedes geträumt hat. Vielleicht ja sogar von einem silbernen, fünftürig, mit Stern auf der Motorhaube.