Von Florian Ehrhardt

Roßhaupten ist eine von 37 Gemeinden im Landkreis Ostallgäu. 

„Und eigentlich samma ja au a ganz normale!“, sagt Matthias Obermaier, den hier trotz seines Amtes als Ortsvorsteher alle nur „Matze“ nennen. Und zwar wirklich alle, denn der Matze ist die Institution im Ort. Lebt seit über 60 Jahren und mindestens 11 Generationen in Roßhaupten, seine Vorväter sollen das steinerne Kreuz erbaut haben, aber natürlich verlässt sich der Matze nicht nur auf seine Vorväter. Nein, auch die Obermaiers der Gegenwart können stolz auf ihr Werk sein. Die Familie ist ganz sicher die reichste im Dorf. Und dann erst dieser Hof! Gerüchteweise ist er der Größte zwischen Buchloe und Füssen, wenn nicht sogar im ganzen Freistaat, so munkelt man zumindest. Also eigentlich kann der Matze mehr als zufrieden sein mit seinem Leben. Klar, dass seine behütete Nachzüglerin Klara jetzt schon seit zwei Jahren in München Jura studiert, ist natürlich ein harter Schlag, aber „Vielleicht wird‘s dann ja was gscheids!“ Aber seit drei Wochen hat Matze jetzt auch ein richtiges Problem. „Und zwar diese scheiß Umleitung!“, brüllt er der versammelten Gemeinde mit hochrotem Kopf zu, „die’s bloß gibt, weil irgendwelche Saupreiß’n in Berlin gmoant hoabba, dass sui d‘A7 ja sicher au ohne a Ausweichstreck’n umbauen könna und d‘ ganze Verkehr einfach bei uns durchlauft! Hätt des it ussa dussa sei könna? Mir wollt doch sowieso seit Jahren die Ortsumfahrung! Und des lau mir uns numma bieta!“ Spätestens jetzt hat er die ungeteilte Aufmerksamkeit der Gemeinde. „Ab morgen um halb Sechse macha mir a Menschakette, baschta! Dann kenn’t die Touris ja schaua, wie’s nach Neuschwanstein komma sollt!“ Der Matze tritt vom Rednerpult in der Dorfkirche zurück. 

Jubel brandet auf. Ein vereinzeltes „Scheiß Saupreiß’n!“ ist zu hören.

Am Ende leert sich die Kirche genauso schnell, wie sie sich gefüllt hat. Der Matze ist mehr als zufrieden. Über 700 Leute‘ waren da, fast alle von seinem Vorhaben begeistert. Jetzt muss es sich nur noch rumsprechen…

 

Ich rase mit 150 km/h die A7 entlang. Mein neuer Audi gibt das natürlich locker her, aber ich wäre trotzdem gerne langsamer unterwegs. Denn neben mir sitzt offensichtlich der Teufel höchstpersönlich und am Ziel unserer Reise möchte er mir das Herz aus der Brust reißen. Alles wegen einem Pakt von vor drei Jahren.

„Chris, wie weit ist es denn noch?“

Chris, die meistens zwar äußerst charmant lächelt und wohl jeden Mann der Welt herumkriegen würde, blickt nur starr geradeaus.

„Hey! Ich bin vielleicht ein toter Mann, aber sprechen kann man mit mir trotzdem!“

„Schon gut, schon gut! Sollst ja auch was von der Reise haben. Ich sag dir dann, wenn du von der Autobahn runterkannst, aber viel länger als eine Stunde kann’s nicht mehr dauern. Du fährst gut!“

Ihre Schmeicheleien hängen mir zum Hals raus. „Weißt du, warum fahren wir nicht auf den nächsten Autobahnparkplatz und du tust es gleich dort? Mir geht diese Warterei nämlich tierisch auf den Sack!“ 

„Benny, wenn ich dir keinen Honig ums Maul schmieren soll, dann lass‘ ich es. Ich bin ja kein Unmensch. Aber abgesehen davon: Denkst du, man kann an jedem Ort der Welt einem Vollidioten das Herz entnehmen und drei Jahre in die Vergangenheit reisen, um es seiner Schwiegermutter einzupflanzen? Selbst für mich gelten Regeln und Gesetze!“

Ich werde wieder ruhig. Denke an meine Schwiegermutter. Sie ist der Grund, warum ich mich hier kaum wehre. Wenn Sie vor drei Jahren gestorben wäre, wäre Lisa untröstlich gewesen. Aber dann ist sie wie durch ein Wunder wieder aufgewacht und hat Lisa überzeugt, bei mir zu bleiben. In meinem Kopf wirbelt es. Wenn die Elfriede vor drei Jahren gestorben wäre, wie wären dann die letzten Jahre verlaufen? Wäre ich mit Lisa zusammen? Wahrscheinlich nicht. Das ist der einzige Grund, warum ich noch nicht gegen die Leitplanke gedonnert bin. Ich kann die letzten drei Jahre nicht verlieren. Ich darf die letzten drei Jahre nicht verlieren.

 

Es geht immer weiter nach Süden. Irgendwann passieren wir die Raststätte „Allgäuer Tor“. Und tatsächlich, am Horizont funkeln die Lichter einer Bergbahn durch die Nacht. Ganz kurz denke ich an die Schönheit der Natur, doch dann holt mich mein grausames Schicksal wieder ein.

„Jetzt müssten es nur noch sieben Ausfahrten sein.“ Chris grinst mich fröhlich an. „Ja genau, jetzt fällt es mir wieder ein! Die 139 ist es! Also, gib Gas!“

Spätestens jetzt rase ich meinem Schicksal entgegen. Das Gaspedal verselbständigt sich, ich muss tatenlos zusehen, wie mein Auto problemlos auf 180 km/h beschleunigt. Die Ausfahrten rasen an mir vorbei. 133, 134, 135…gleich kommen die Orte, die ich nur noch aus längst vergangen Skiausfahrten kenne. Wir rasen auch an Nummer 136, Betzigau, vorbei, als Chris ein lautes „Scheiße!“ entfährt.

„Was?“

Sie zeigt auf das Schild vor uns. „Schau doch!“

Ich lese laut vor: „Autobahn zwischen AS 138 Nesselwang und AS 139 Füssen gesperrt. Zum Grenzübergang/Füssen bitte AS 138 abfahren und über U666 Seeg-Roßhaupten-Rieden ausweichen.“

„Das darf doch nicht wahr sein!“

„Ist das denn so schlimm?“ Innerlich lässt mich sogar diese kleine Niederlage für Chris triumphieren.

„Wir nehmen die 138! Und schlag dir das blöde Grinsen aus dem Gesicht!“

„Was willst du machen, mir das Herz herausreißen?“

Chris ignoriert meine Bemerkung und beginnt hektisch, auf meinem Navi herumzutippen.

Obwohl mein Motor mittlerweile wirklich unschön laut Geräusche macht, höre ich irgendwo in der Ferne eine Kirchturmuhr schlagen.

Chris scheint es auch zu hören, denn die Teufelin zuckt merklich zusammen. 

Die Uhr schlägt sechs Mal, dann ist wieder nur der Motor zu hören. Die nächste Ausfahrt muss ich nehmen.

 

Der Matze ist mehr als nur zufrieden mit seiner Menschenkette. Der östliche Ortseingang von Roßhaupten ist dicht. Aber auch die meisten anderen Zufahrtsstraßen sind kaum mehr befahrbar. Es ist erst kurz nach sechs, aber das ganze Dorf ist auf den Beinen. Bisher musste jedes Auto umdrehen. Ein Pendler, der von Kempten nach Füssen wollte, hat sich dem Protest sogar angeschlossen. Seine Karre hat er auf den Radweg gestellt. Recht‘ is!

Matze begutachtet sein Werk. Aber ohne Hilfe hätte das natürlich nicht geklappt. „Du Karle, dei Idee mit dem Fendt war echt super! Ohne die würd‘ des it so guat ausseha!“

„Jo mei, selbscht a blindes Huhn…des war nämlich dia Idee vu meinr Frau…“

„Klappt hat’s ja! Dr‘ Jokl Tiefabacher hat sogar sei Bschütta-Fass aufgstellt! Also durch dia Mauer kummt koiner durch!“

Karl Weißhaupt, der einzige, der Matze beim Schafkopfen gefährlich werden kann, zeigt zum Horizont. „Der da siagt aber so aus als wett er’s versuacha!“

„Der’sch au viel z’dschnell unterwägs!“, wirft Lotte Müller ein.

Das Auto kommt immer näher. Ohne zu bremsen. 

Matze schaltet am schnellsten. Natürlich. Wer auch sonst. „IN DECKUNG! DA WILL OINER DURCHBRECHA!“

Chaos bricht aus.

 

Ich stehe zitternd auf dem Besucherparkplatz von Schloss Neuschwanstein. Das Parkticket hat 6€ gekostet, aber ein toter Mann kann sich sowas ja leisten. Obwohl ich mein Auto nicht mehr brauchen werde, laufe ich einmal um die Karre herum, suche nach Dellen und Kratzern. Als hätte ich nicht gesehen, was in diesem Dorf gerade passiert ist. Ich blicke erst mein Auto, dann meine Begleiterin fassungslos an. „Du hast dich da durchgeschmolzen.“

„Klar, warum nicht?“

„Menschen hätten sterben können!“

„Sehe ich aus, als ob mich das stört? Wir müssen um Punkt 12 Uhr da oben sein, sonst kann das Ritual nicht beginnen!“ Chris zeigt auf einen der verschneiten Gipfel vor uns.

„Da hoch?!“

„Nur bis auf das Plateau unter dem Gipfel, das schaffst du locker!“

„Ich hab‘ aber keine Wanderschuhe!“

„Du brauchst keine Wanderschuhe. Das Opfer muss sowieso barfuß nach oben laufen.“

Ich blicke verständnislos.

„Das war ein Witz!“ Chris wirft mir ein Paar nagelneue Bergschuhe zu.

„Und jetzt?“ 

„Schloss links liegen lassen, Japaner links liegen lassen, durch den Wald, ein bisschen klettern, sterben. Mehr musst du heute nicht mehr tun. Oder überhaupt.“ Sie reicht mir eine rote Pille. „Nimm das, damit geht es schneller!“

Misstrauisch sehe ich die Pille an.

„Na los! Friss das Ding!“

Mir wird schwarz vor Augen.

 

„Karle, I woiß ja it, was du gsäh hasch, aber das war definitiv a Hex!“

„Matze, schwätz jetzt koin Scheiß it raus! Hexa gibt’s it!“

„I kenn a Hex, wenn I oine seh‘!“

„Ja, deshalb hasch au oine g‘heirat!“

„Depp!“

„Du bisch doch hier dr‘ Depp! Des‘ war genau so wenig a Hex wie dass du dr‘ Nachfahre vom Magnus Drachatöter bisch!“

„Jetzt reicht’s! Des woiß ja wohl jeder, dass I vom heiliga Magnus abstamm! I fahr jetzt nauf zum Säuling und leg derra Hex s‘Handwerk!“

„Und I ruf’d Polizei! Dei angebliche Hex hat nämlich mein Fendt zsammgfahra!“

„Gschmolza!“, ruft Matze ihm im Gehen zu, „Dia Hex hat des Teil gschmolza mit ihre Kräft!“

 

Als ich wieder aufwache, bin ich an einen Felsflanke gefesselt. Ich weiß nicht wie Chris das gemacht hat, aber irgendwie hat sie es geschafft, mich mit Eisenbändern in den Klettersteig zu ketten. Ich kann kaum Atmen. Meine nackte Brust hebt sich bei jedem Atemzug weniger, meine Finger kann ich kaum mehr bewegen. Es ist eiskalt hier oben. Leichte Schneeflocken fallen an diesem letzten Oktobertag. Meine nackten Füße sind genau wie der Boden von einer dünnen, weißen Schicht bedeckt. Ich blicke mich um. Sehe einen Wegweiser. Säuling: 20 Minuten. Säulinghaus: 40 Minuten. Ich folge dem Pfeil mit den Augen ins Tal. Bis mein Atem einmal aussetzt. Aber nicht wegen der Kälte. Dort unten kommt ein Mann. Ist das in seiner Hand etwa ein Kreuz? Wie lange wird er brauchen, um hier oben zu sein? Zehn Minuten? 20 Minuten? Trotz der Kälte fühle ich Schweißperlen auf meiner Stirn. Ich muss Chris hinhalten. Die summt vor sich hin und malt dämonische Symbole in den Schnee. 

Wobei…jetzt blickt sie mich an. Ihre gelben Augen blicken direkt in meine Seele. „Na, Benny? Bereit für den Hexentanz?“ 

Ich werfe einen letzten Blick nach unten. Der Mann mit dem Kreuz ist im dichter werdenden Schneesturm verschwunden. Ich bete, dass er es rechtzeitig schafft.

„Chris, was bedeutet dieses Symbol?“