Von Dana Kaufmann

Okay, wie erkläre ich am besten meine Lage? 

Geografisch? Irgendwo auf der Autobahn zwischen Duisburg und Amsterdam.

Emotional? Euphorisch.

Familiär? Enterbt. 

Zumindest ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass, sobald ich mein Handy anmache, mir tausende Nachrichten meiner viel zu besorgten Eltern entgegenspringen, die von “Wo bist du?” und “Warum antwortest du nicht?” zu “Wenn du nicht heute Abend zu Hause bist..” reichen. 

Doch ich habe noch die Chance, dem ganzen zu entgehen, wenn das Gerät weiterhin unter dem Stapel an Klamotten in meinem Koffer bleibt. 

“Du weißt, dass sie dich umbringen werden?”

Ich kann das aufkommende Grinsen nicht unterdrücken. “Ach und wenn schon! Dann kann ich wenigstens glücklich sterben.” 

Mein bester Freund schüttelt lachend seinen Kopf, doch bevor er sich wieder äußern kann, drehe ich das Radio lauter und lasse mich mit Blick aus dem Fenster gegen den Sitz fallen. 

Während wir beide laut zu ´Mr. Brightside´ mitsingen, die Welt an uns vorbeifliegt und wir unserem Ziel immer näher kommen, fangen meine Gedanken an zu wandern.

 

Es war eine Schnapsidee gewesen, ein wenig unrealistischer als die, die sonst zwischen mir und Jona aufkommen und ich glaube jeder andere hätte mich nicht ernst genommen, wenn ich ihnen mitten in der Nacht: “Lust wegzufahren?” geschickt hätte. Aber auf Jona konnte ich immer zählen. 

Jona hatte sein Leben im Griff. Er hatte einen festen Studienplatz, einen Nebenjob und was meine Eltern am besten fanden; Jona hatte seinen Führerschein. Ich hatte weder eine Ahnung was ich studieren soll, noch einen Nebenjob und den Plan meinen Führerschein direkt mit 17 zu machen, hatte ich auch verworfen, als ich gesehen habe, wie kompliziert die Fragen sind. Letzteres war auch einer der Gründe, warum ich Jona gefragt habe, ob er mit mir fährt; dazu kommt, dass meine Eltern mir bestimmt weniger Stress machen, wenn sie erfahren, dass ich mit ihm unterwegs bin. 

 

Falls ich ihnen irgendwann antworten werde.

Eigentlich müsste ich ihnen danken, sie haben mir mit ihren endlosen Fragen zu meinen Zukunftsvorstellungen den letzten Rest gegeben und mich dazu gebracht, um halb zwei Uhr alles Mögliche in meinen Koffer zu werfen. 

Ich verstehe ja ihre Sorgen, es ist bestimmt nicht schön für sie ihre Tochter fünf Monate nach ihrem Abitur immer noch am selben Platz zu sehen, während der Großteil ihrer Freude anfängt ihr Leben zu planen. 

Eilmeldung: Ich weiß wie die Situation ist, ich muss nicht viermal am Tag daran erinnert werden. 

Mit einem Seufzen löse ich mich von den Gedanken und krame in dem Rucksack zwischen meinen Füßen nach irgendetwas Essbarem.
Mist.

In der Eile hatte ich an alles gedacht außer das.

“Jona? Können wir gleich eine Pause machen?” 

Ohne seinen Blick von der Straße zu nehmen entsperrt Jona sein Handy, was uns bisher als Navi diente und hielt es mir hin.

“Wie wäre es mit dem McDonald’s in so 5 Minuten?” 

“Mir ist jeder Platz recht, an dem ich mir bisschen die Füße vertreten kann.” Er grinste mich an. “Aber wenn wir schon bei McDonald’s sind kannst du deinem Chauffeur auch ein Eis kaufen, Schokolade bitte.” 

“Das glaubst du doch selbst nicht.”

 

Zehn Minuten später hatte ich ihm das Geld für zwei Eis in die Hand gedrückt und verschwand im Keller des Gebäudes auf der Suche nach den Toiletten. Nachdem ich Sanifair mein Kleingeld gegeben hatte, im Dank dafür einen 50ct Gutschein bekommen hatte, der mir garantiert in der Zukunft helfen würde, stand ich vor dem Spiegel im Waschraum. Neben mir wusch sich gerade eine ältere Frau die Hände und ich lächelte sie im Spiegel an; mir soll nie wieder jemand sagen meine Generation wäre unfreundlich zu Älteren.

 

“Könnten Sie kurz?”, fragte die Frau mich plötzlich und ich brauchte einige Sekunden um zu verstehen, dass ich den Handföhn blockierte. Mich entschuldigend rutschte ich ein Waschbecken weiter. 

“Reisen Sie alleine?”
Ich schüttelte den Kopf. “Nein, mit meinem besten Freund.” 

“Ach das ist ja schön! Mein Sohn ist früher auch mit seinen Jungs weggefahren. Mein Mann war ja immer dagegen, wer weiß was passieren könnte, aber jetzt erzählt er immer ganz stolz, wo sein Junge schon überall war.”, plapperte sie drauf los und ein Teil von mir bereute es sie angesprochen zu haben, da sich auf einmal Schuldgefühle in mir breit machten. 

 

“Meine Eltern wissen nicht, dass ich unterwegs bin.” Ich wusste nicht warum, doch die Frau machte so einen vertrauenerweckenden Eindruck. 

“Och Gottchen, warum das denn?” 

“Sie hätten mir bestimmt davon abgeraten. Wissen Sie, ich habe seit dem Abitur eine kleine Pause eingelegt und die hat meinen Eltern nicht gefallen. Es ist nur so schwer herauszufinden, was man machen möchte, nachdem man zwölf Jahre mit Schule beschäftigt war und auf einmal erwartet die Welt von einem seinen Platz zu finden.”

Verdammt, das tat gut. 

Da stehe ich, um halb sechs in den Toilettenräumen eines McDonalds in der Nähe der Grenze Deutschlands und lege einer völlig Fremden meine Probleme vor die Füße.

Mehr Abwechslung kann es gar nicht mehr geben.

“Das klingt ja alles kompliziert.” Die Frau seufzte und legte mir mitfühlend ihre Hand auf den Arm. “Du wirst deinen Weg noch finden, da bin ich mir sicher. Es wäre dennoch besser, deine Eltern wissen zu lassen, wo du bist, das kann sonst nach hinten losgehen.” Sie ging einen Schritt nach hinten und kramte in ihrer kleinen schwarzen Handtasche, ehe sie nach meiner Hand griff, etwas hineinlegte und danach meine Hand mit ihrer zu einer Faust ballte. “Hier, ein kleiner Mutmacher. Und hab viel Spaß auf deiner Reise.”

Ich wusste gar nicht was ich sagen sollte und als ich die richtigen Worte gefunden hatte, hatte sie sich schon umgedreht und ging leicht watschelnd die Treppen hoch.

Ich drehte mich wieder zum Spiegel und öffnete meine Faust. Die grüne Verpackung eines kleinen Stücks Pfefferminzschokolade glänzte mir entgegen, das Papier knisterte leicht. 

Glücklicherweise war die Schlange bei McDonalds wohl sehr lang gewesen, da ich noch vor Jona am Auto ankam. Ich holte mein Handy aus meiner Tasche und setzte mich auf den Teppichboden des Kofferraums. 

Einige Sekunden lang starrte ich nur auf den schwarzen Bildschirm, bevor ich es schließlich einschaltete und entsperrte. 

Das war komisch.

Keine einzige Nachricht von meinen Eltern.
Nun gut, es war gerade einmal kurz vor sechs an einem Samstag und selbst meine Frühaufsteher Eltern schliefen bestimmt noch. Kurz haderte ich mit mir selbst, ich könnte das Bescheidgeben weiter aufschieben. 

Mein Blick fiel auf die Schokolade, die ich auf meine Oberschenkel gelegt hatte und ich biss auf meiner Unterlippe herum. 

Dann drückte ich auf die Sprachaufnahmefunktion.

“Hey Mama, hey Papa, bitte nicht erschrecken, wenn ihr in mein Zimmer kommt und ich nicht da bin. Es klingt echt dämlich, aber ich bin für eine Woche in Amsterdam; keine Sorge, Jona ist mit mir und wir haben alles durchgeplant, okay fast alles; naja das Wichtigste. Ich weiß, ich hätte mit euch darüber reden sollen und nicht einfach abhauen, das tut mir wirklich leid. Ich musste einfach nochmal weg. Weg von diesem Trotz und dem Druck, den ihr mir in letzter Zeit gemacht habt. Sobald ich zurück bin, setze ich mich hin und gucke was ich machen kann, versprochen. Okay, das war’s dann fürs Erste. Tschau.”

Danach landete mein Handy wieder im Koffer, gerade rechtzeitig, denn ich konnte aus dem Augenwinkel wahrnehmen, wie Jona die Glastür der Fastfood-Kette mit seinem Oberschenkel aufdrückte und relativ schnell über den Parkplatz zu mir lief. Verwundert über meinen konzentrierten Gesichtsausdruck ließ er sich neben mir im Kofferraum nieder und drückte mir eins der beiden Eis in die Hand.

“Ich hab´ meinen Eltern gesagt was los ist.”

“Mhm, und jetzt hast du ein schlechtes Gewissen?” 

“Vielleicht.”

“Willst du zurück?” Jona schob sich einen Löffel mit Eis in den Mund und zog ihn beinahe in Zeitlupe wieder heraus. “Egal für was du dich entscheidest, ich bin dabei. Ich fahre gerne wieder nach Hause, bin aber auch an deiner Seite, wenn du weiterfahren willst.”

“Ich mein´, ich hab meinen Eltern gesagt, dass ich unterwegs bin, wir haben den größten Teil der Strecke hinter uns, und ich hatte schon lange keine richtig holländischen Fritten mehr.”, zählte ich auf und lehnte mich an seine Schulter. 

“Letzteres ist natürlich das ausschlaggebende Argument.”, scherzte Jona und grinste mich an.

Ich erwiderte das Grinsen. Langsam aber sicher wuchs wieder die Euphorie und Aufregung in mir, die ich zuerst beim Packen gespürt hatte. Ich grinste so breit, dass es beinahe in den Wangen schmerzte.

“Okay.”

“Okay?”

“Okay!”

 

Lachend sprang ich auf, warf den leeren Plastikbecher in eine Mülltonne und rannte zurück zum Auto, aus dem schon Musik lief. Mit klopfendem Herzen schnallte ich mich an und kurbelte das Fenster herunter, während Jona den Motor startete und über den Rastplatz fuhr.

Wie es der Zufall so wollte, fiel mein Blick auf den Eingang des McDonalds, aus dem gerade die ältere Frau kam, als ich meinen Kopf rausstreckte, den Wind in meinen Haaren spürte und so laut wie möglich rief: “Ich bin dann mal weg! Zukunft, du musst noch auf mich warten!”