Von Eva Fischer
 
Freitag, den 13. September 2013
 

Jetzt ist es amtlich. Heute hat es unser Chef offiziell verkündet. Unser Büro zieht im Januar  zur Mutterfirma nach Berlin um. Man will mich übernehmen. Das ist die gute Botschaft. Aber was wird aus Wilfried? Wir sind jetzt seit fünf Jahren zusammen. Was werden meine Tochter und mein Sohn dazu sagen? Nach Berlin sind es von hier aus über 500 km. Da kann man nicht jedes Wochenende pendeln.

 
Samstag, den 14. September 2013
 

Meine Kinder finden die Neuigkeit klasse.

„Berlin ist eine geile Stadt! Klar ziehst du um. Wir kommen dich gern besuchen“, meint mein Sohn.

„Du wirst uns gar nicht mehr los“,  stimmt seine jüngere Schwester zu.

Wilfried ist erwartungsgemäß weniger euphorisch.

„Das musst du entscheiden.“

„Was soll aus uns werden?“, hake ich nach.

„Ach, mach dir um mich keine Sorgen! Ich komme schon allein zurecht.“

Soll das ein Trost sein? Ich fühle mich wie im freien Fall, aber ich will es genau wissen, auch wenn es schmerzt.

„Soll das heißen, ich bin dir gleichgültig?“

Welche Antwort erwarte ich jetzt? ‚Nein, Schätzchen! Bleibe bei mir. Wir finden auch eine andere Lösung. Ich liebe dich doch so sehr.’

Wilfried sieht mich mit kühlen, mir plötzlich fremden Augen an.

„Dass ihr Frauen immer alles so dramatisiert! Ich habe doch nur gesagt, dass ich deiner Entscheidung nicht im Wege stehe.“

 
Samstag, den 12. Oktober 2013
 

Mein Geburtstag. Ich werde heute 56. Mein Sohn und meine Tochter bringen mir ein Geschenk vorbei. Einen Gutschein für ein Wellnesswochenende auf Juist für zwei Personen. Ich freue mich riesig.

Wilfried ruft an. Wir haben uns seit einer Woche nicht gesehen. Er braucht Zeit, muss die neue Situation erst überdenken, hat er gesagt. Selbst heute will er nicht vorbeikommen.

Mir fällt auf, dass er mir nie Blumen zum Geburtstag geschenkt hat, dieses Jahr nicht, letztes Jahr nicht, vorletztes Jahr auch nicht. Er ist eben kein romantischer Typ, sage ich mir.

„Kommst du mit auf ein Wellnesswochenende nach Juist?“, frage ich ihn dennoch.

„Hallo, bist du noch dran?“ Das Schweigen am anderen Ende lässt die Wut in mir hochsteigen.

„Keine so gute Idee im Moment“, kommt endlich die Antwort. Ich hänge ein.

Kurz darauf ruft Ute an. „Lass doch den Muffelkopf!“, tröstet sie mich.

„Ich fahre auch gerne mit dir nach Juist.“

Wir treffen uns noch in einem Gartenlokal auf ein Glas Wein, aber meine Stimmung bessert sich nicht wirklich.

 
Donnerstag, den 17. Oktober 2013
 

Ich habe seit meinem Geburtstag nachts nicht mehr richtig geschlafen. Bin im Büro oft müde und nervös. Rauche mehr Zigaretten als mir gut tun.

Mein Chef will meine Zusage für Berlin bis zum 4. November. Der Gedanke, allein in einer fremden Großstadt, versetzt mich in Panik. Zum Glück habe ich noch etwas Zeit, um eine Entscheidung zu treffen.

 
Freitag, den 1. November 2013
 

Habe heute den vergilbten Zeitungsartikel „Verloren auf Asche“ noch einmal gelesen. Werner war so ein großartiger Sportler. Er führte seine Fußballmannchaft zum Sieg und brach kurz darauf tot zusammen. Ich kann das bis heute nicht begreifen. Es ist grausam, seinen Ehemann ohne jegliche Vorbereitung und in jungen Jahren zu verlieren.

Ich habe eine Kerze auf seinem Grab entzündet.

 
Montag, den 4. November 2013
 

Habe heute meinem Chef mitgeteilt, dass ich nicht nach Berlin mitkomme. Er fand es sehr schade, aber ich denke doch, dass meine Entscheidung richtig war. Hoffe, dass ich jetzt wieder schlafen kann.

 
Sonntag, den 1. Dezember 2013
 

Meine Kinder waren heute zum Adventskaffee bei mir. Sie sind zwar überrascht, dass ich nicht nach Berlin ziehe, aber andererseits zeigen sie auch Verständnis.

Sie sind besorgt um meine Gesundheit. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich selbst, wie Scheiße ich aussehe. Gealtert, blass und dunkle Augenringe. Ich fühle mich vollkommen antriebsarm. Kaum waren sie weg, musste ich wieder heulen. Vielleicht sollte ich doch mal zum Arzt gehen.

 
Dienstag, den 17. Dezember 2013
 

Der Arzt empfiehlt mir dringend eine Kur.

„Sie sind psychisch ausgepowert. Wir wollen doch nicht, dass sich eine Depression festsetzt“, hat er gesagt und mich sofort krank geschrieben. Er will sich jetzt um einen Kurplatz für mich kümmern.

Das werden ja schreckliche Weihnachten werden.

Wilfried hat sich seit meinem Geburtstag nicht mehr bei mir gemeldet. Er hat sich einfach in Luft aufgelöst. Ich fasse es nicht. Ute sagt, er hätte keine Neue. Er hat Probleme mit sich und dem Älterwerden. Ob ich ihn noch einmal anrufe?

 
Sonntag, den 22. Dezember 2013
 

Ich habe Wilfried zum Kaffee eingeladen. Die Stimmung war so frostig wie die Außentemperatur. Er hat Ärger mit seinem jüngeren Chef. Ich habe bald gar keinen Chef mehr. Wovon soll ich leben? Die Witwenrente ist sehr karg. Zum Glück stehen meine Kinder schon auf eigenen Füßen.

Wilfried und ich haben beschlossen, uns nicht mehr zu kontaktieren. Ich denke über unsere gemeinsamen Jahre nach und stelle fest, dass ich immer die treibende Kraft war. Jetzt fehlt mir der Elan.

 

Dienstag, den 31. Dezember 2013

 

Silvester habe ich mit Ute gefeiert, ihrem Mann und anderen Pärchen. Keine so gute Idee, wenn man der einzige Single ist. Peter hat mich in angetrunkenen Zustand angeflirtet, obwohl seine Frau daneben saß. Scheiß Männer!

 
Montag, den 6. Januar 2014
 

Heute ziehen meine Kollegen nach Berlin um. Ich vermisse sie, habe meine Arbeit gern gemacht.

Mein Arzt hat angerufen. Er hat einen Platz für mich in einer Kurklinik auf Norderney. Witzig. Ich dachte, es gäbe dort nur Wellnesshotels. Am 1. März soll es losgehen. Dann werde ich den Karneval hier in Köln nicht mehr mitkriegen. Zum Feiern ist mir eh nicht zumute.

 
Montag, den 1. März 2014
 

Mit ein paar anderen Frauen steige ich aus der Fähre. Sie sind Gestrandete so wie ich, denke ich. Wir werden in Empfang genommen und zur Kurklinik direkt am Meer geleitet. Ich kenne das Meer nur von ein paar Sommerurlauben und stelle fest, dass dies hier eine Urgewalt ist, die nichts mit dem Kuschelmeer aus meinen Erinnerungen gemeinsam hat. Sie wühlt mich auf. Bin gespannt, ob sie meine Schlafstörungen heilt.

 
Mittwoch, den 12. März 2014
 

Die Gespräche mit der Psychologin sind hart. Warum muss man in der Vergangenheit herumwühlen? Am Ende bin ich immer ganz erschöpft, als hätte ich Untertag gearbeitet.

Die Spaziergänge am Meer tun mir gut. Am liebsten allein! Ich stapfe über den Sand, schaue auf die schnell dahinziehenden Wolken, lasse mir den Wind ins Gesicht peitschen, höre dem Kreischen der Möwen zu und dem Brüllen der See. Meine Gedanken über Vergangenheit und Zukunft kommen darin langsam zur Ruhe. Manchmal schreie ich laut, so wie es die Psychotante empfohlen hat.

 
Freitag, den 21. März 2014
 

Heute Abend gab es ein Konzert. Der Mann am Klavier ist mir gleich aufgefallen. Er ist groß und schlank, hat weiße glatte Haare, die sicher einmal blond gewesen sind, einen Schnauzbart, feingliedrige Finger und einen melancholischen Blick. Nach dem Konzert bin ich zu ihm gegangen, habe mich bedankt. „Machen Sie auch Musik?“, hat er mich gefragt. Ich habe ihm gesagt, dass ich Gitarre spiele.

Wir haben uns dann sehr angeregt über Musik unterhalten, so dass wir gar nicht gemerkt haben, dass die Leute den Saal schließen wollten.

„Darf ich Sie morgen auf einen Tee einladen?“, hat er mich gefragt. Ich habe zugestimmt. Heute Nacht werde ich nicht schlafen können, habe Herzklopfen wie ein Teenager.

 
Sonntag, den 23. März 2014
 

Er heißt Bodo. Ursprünglich war er Musiklehrer, aber dann ist er vorzeitig in Pension gegangen, um seine krebskranke Frau auf dem letzten Weg zu begleiten. Vor sechs Monaten  ist sie gestorben.

Als er mir das erzählt hat, habe ich ihn spontan in die Arme genommen. Wir haben beide geweint. Vermutlich habe ich an Werner gedacht. Bodos Nähe tut mir so gut. Er empfindet das gleiche bei mir.

 

Montag, den 31. März 2014

 

Bodo hat mein Leben verändert. Wir gehen jetzt gemeinsam am Strand spazieren und haben auch zusammen geschlafen. In seinem kleinen Appartment. Es ist herrlich! Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass ich mich noch einmal verliebe. Neues Blut pulsiert durch meine Adern. Ich bin überglücklich.

Die Therapeutin hat heute gesagt, ich solle aufpassen. Liebe könne Wunden heilen, aber auch Wunden schlagen.

 
Samstag, den 6. April 2014
 

Heute ist mein Abreisetag. Wenn ich daran denke, dass ich Bodo verlassen muss, bricht es mir das Herz. Ich soll bleiben, hat er gesagt. Wir kennen uns doch erst seit zwei Wochen.

 

 
Freitag, den 1. September 2017
 

Ich bereite ein Märchenseminar vor zu dem Thema „Königskinder kommen aus der Asche“.

Gerade habe ich noch mal mein Tagebuch 2013/2014 gelesen. Es ist unglaublich, was mir da passiert ist. Ich fühle mich selbst wie ein Königskind, das ein anderes getroffen hat. Das ist das Wunderbare an Märchen. Sie sind zeitlos. Sie können auch den physisch und pyschisch verwundeten Patienten von Norderney  neuen Mut geben.

Seit drei Jahren lebe ich nun schon auf der Insel. Ich hätte nie gedacht, dass man das aushalten kann. Herbst und Winter, wenn es hier einsam und stürmisch wird, sind meine Lieblingsjahreszeiten. Dann tanken wir beide auf. Bodo schreibt Songtexte. Er hat festgestellt, dass ich eine schöne Stimme habe. Ich suche nach passenden Märchen und lerne sie auswendig.

 

 

  1. Fassung