Von Ursula Riedinger

Dorotheas Koffer stand auf der Treppe des herrschaftlichen Hauses bereit. Henri, der Bedienstete würde sie zum Bahnhof fahren. Dorothea war reisefertig gekleidet, sie trug einen eleganten hellen Sommermantel und einen passenden Hut. Ihre feinen Handschuhe aus Cabrettaleder lagen bereit. Nun hiess es Abschied nehmen, es ging endlich zurück nach Hause. Die Directrice streckte ihr ihre kühle Hand entgegen. 

«Adieu, Fräulein Capaul, ich wünsche Ihnen alles Gute, bonne chance» 

Schon war sie wieder im Haus verschwunden. Dorothea würde sie nicht vermissen. Aber ihre Freundinnen, die sie in den zwei Jahren im Institut Beau Soleil kennengelernt hatte. Sie standen alle auf der Treppe und umarmten sie der Reihe nach. Die impulsive, selbstbewusste Waltraud aus Berlin hatte Tränen in den Augen, die schüchterne Susanna aus Wien stecke ihr noch einen Umschlag zu und Helene aus Zürich überreichte ihr ein kleines Geschenk, sicher eines ihrer Lieblingsbücher. Diese drei waren ihr während der vergangenen beiden Jahre am meisten ans Herz gewachsen. 

«Schreib uns, versprichst du es?» 

«Gell, vergiss es nicht, auch wenn du verheiratet bist und nur noch Augen hast für deinen Mann, du Glückliche.»

Dorothea versprach alles, blickte nochmals auf das schlossähnliche Gebäude zurück und bestieg dann den Wagen, der sie ins Tal hinterbringen würde. Sie winkte, bis er um die Ecke bog. Es gingen ihr so viele Dinge durch den Kopf. Sie hatte so viel gelernt in den zwei Jahren am Institut pour jeunes filles. Sie war reifer geworden, fand sie, selbstbewusster, hatte gut Französisch und Englisch gelernt, und war für die Aufgaben einer modernen jungen Ehefrau, die ein vornehmes Haus führen sollte, vorbereitet. Nun hüpften ihre Gedanken zu ihrem Verlobten Andri. Im letzten Jahr hatte er ihr nicht mehr so oft geschrieben wie am Anfang, aber Dorothea freute sich wie eine Schneekönigin darauf ihn wiederzusehen, in seine dunklen Augen zu blicken, die sie liebevoll anschauten. Sie hatten sich verlobt, bevor sie ins Institut ging. Andri von Salis war der älteste Sohn der Familie. Er würde eines Tages das Geschäft des Vaters, den Handel mit Pelzen und Stoffen, übernehmen. Dorothea stellte sich vor, wie sie als Dorothea von Salis im grossen ehrwürdigen Haus der Familie residieren würde.

Natürlich freute sie sich auch auf ihre Familie, vor allem auf Mama und ihre jüngeren Schwestern. Sie hatten sich oft geschrieben und Maria-Luisa, Anna und Lydia warteten sehnsüchtig darauf, ihre grosse Schwester wiederzusehen. Sie hatte aber noch eine lange Bahnfahrt durchs Wallis und über den Furka-Oberalppass und weiter bis ins heimische Bergell vor sich. Ihre Familie hatte arrangiert, dass ihre frühere Gouvernante und Hauslehrerin in Brig zusteigen und sie auf der Reise begleiten würde. 

Als der Zug in Brig einfuhr, winkte Dorothea mit einem weissen Spitzentaschentuch aus dem Zug. Dort stand sie, die schlanke Gestalt von Fräulein Zwahlen. Dorothea freute sich aufrichtig sie zu sehen, auch wenn Fräulein Zwahlen oft streng zu ihr gewesen war. Nur erfuhr sie endlich alles, was zuhause passiert war. Dass die Hündin Lotta eingeschläfert werden musste. Das Fräulein Maria-Luisa, Dorotheas 17-jährige Schwester sich vor wenigen Wochen verlobt hatte, dass der Herr Vater im Moment noch im Ausland weilte, dass der kleine Bruder Vinzenz seinen Arm gebrochen hatte … Dann wagte Dorothea nach Andri zu fragen. 

«Leider weiss ich nichts von Herrn von Salis, Dorothea, da müssen Sie sich noch ein wenig gedulden.» 

Die ersten Tage zu Hause vergingen wie im Flug mit Erzählen. Dann wagte sie die Mama zu fragen:

«Mama, darf ich Andri am Samstag einen Besuch abstatten? Ich habe ihn so lange nicht mehr gesehen. Er hat mir auch schon ein Weilchen nicht mehr geschrieben.»

Ihre Mutter wurde ernst. 

«Natürlich Dorothea, ich werde Frau von Salis deinen Besuch ankündigen.»

Dorothea verging fast vor Sehnsucht und Ungeduld, aber das durfte man nicht zeigen. Die Tage vergingen träge, bis es endlich Samstag war.

Das Hausmädchen der Familie von Salis führe Dorothea in den Salon im oberen Stock. Dorothea kannte sie nicht. Frau von Salis pflegte die einfachen Hausmädchen jedes Jahr auszuwechseln. 

Frau von Salis, vor der Dorothea immer schon einen Heidenrespekt hatte, sass aufrecht im grossen Sessel am Fenster. 

«Oh, wie schön, dass du uns besuchst, Dorothea. Nimm Platz, ich ordere gleich etwas Tee. Wie war denn deine Zeit im Institut Beau Soleil?»

«Danke, Frau von Salis, es war eine gute Erfahrung. Ich habe sehr vieles gelernt und gute Freundinnen gefunden. Aber ist denn Andri nicht hier?» Nun war es ihr schneller herausgerutscht als sie geplant hatte.

«Andri ist auf Reisen, er musste seinen Vater begleiten, und weilt momentan in Paris.»

Dorotheas Enttäuschung war gross. Trotzdem plauderte sie noch ein Weilchen mit Frau von Salis, nippte an ihrem Tee und ass zwei kleine Canapés. 

«Dann möchte ich Ihre Zeit nicht länger beanspruchen, Frau von Salis. Vielen Dank für den Tee. Und bitte, richten Sie Andri meine Grüsse aus, wenn Sie Nachricht von ihm haben.»

Frau von Salis erhob sich und ging hinüber zum Sekretär an der Wand. 

«Hier, das hat Andri für dich hier gelassen.»

Dorothea steckte den wattierten Umschlag ein und verabschiedete sich. 

Zuhause zog sie sich in die Bibliothek zurück, da traf sie normalerweise höchstens ihren Vater an. Jetzt war sie leer.

Sie wagte kaum, den Umschlag zu öffnen. Er war versiegelt, darauf prangte das Siegel der Familie von Salis. Als er offen war, rutschte als erstes sein Verlobungsring heraus und viel ihr vor die Füsse. Dorothea erschrak. Andri hatte ihr einen langen Brief geschrieben in seiner stilvollen grosszügigen Handschrift. 

«Liebes Kleines,

Wenn du diesen Umschlag in Händen hältst, werde ich nicht mehr in der Heimat weilen. Es tut mir leid, dass ich dir diese Mitteilung nicht persönlich machen konnte. 

Wie das Leben so spielt, hat sich für mich in den letzten beiden Jahren vieles verändert. Ich konnte nicht auf deine Rückkehr warten, sondern bin nach Paris gefahren, ohne dass wir uns wiedergesehen haben. Ich habe in Paris ein neues Leben begonnen und konnte auf die Bindungen in der Heimat keine Rücksicht nehmen. 

Unsere Verlobung, die wir fast noch als Kinder gemacht haben, hatte für mich plötzlich nicht mehr dieselbe Bedeutung wie damals, als du abgereist bist. Wir hatten eine schöne Zeit zusammen, als wir uns kennenlernten. Aber wir haben uns in diesen beiden Jahren buchstäblich aus den Augen verloren, denkst du nicht auch? Ich war auch kein treuer Briefeschreiber, das gebe ich zu. Zu vieles ist geschehen und zu vieles gab es zu tun. 

Vielleicht ist es dir ja ähnlich ergangen und du empfindest auch nicht mehr dasselbe für mich. Wenn nicht, tut es mir unendlich leid, dass ich dir wehtun muss, Kleines. Ich musste unsere Verlobung auflösen. Dass du es erst heute erfährst, ist unglücklich, das gebe ich zu, und es schmerzt mich, dass es nicht anders ging. Du bist eine kluge junge Frau, eine hübsche dazu, und ich bin sicher, dass sich dir auch hier im Tal viele Möglichkeiten auftun werden. 

Wenigsten möchte ich alles offenlegen und dich darüber in Kenntnis setzen, dass ich vor sechs Monaten das Fräulein Mireille Beaumont geehelicht habe und wir bald unser erstes Kind erwarten. 

Ich hoffe und bete, dass du es mit Fassung trägst und dich bald mit der Situation abfinden wirst, dass du deinen eigenen Weg findest und den Mann, der dich lieben und schätzen kann, besser als ich es konnte. 

Das tut mir alles sehr leid, liebe Dorothea. 

Ich verbleibe mit den besten Wünschen für dich und deine Zukunft, 

Herzlich, Andri»

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