Von Astrid Herrmann

Marie betrat schwungvoll die Wohnung und erstarrte. Irgendetwas stimmte nicht. Es war still – viel zu still. Natürlich konnte Alfred noch nicht zu Hause sein, sein Arbeitstag dauerte noch einige Stunden. 

 

Sie schaute sich um und sah die Vase, die zerbrochen auf dem Boden lag, die Wasserlache sickerte langsam in die Schmutzmatte und die Tulpen sahen nicht mehr frisch aus. Ihr Blick wanderte weiter und blieb an der Kommode hängen – an dem Zettel – an dem Ring, der in der Nachmittagssonne glänzte. Marie trat näher und runzelte die Stirn, Das war Alfred’s Ring, den erkannte sie unter hunderten wieder. Das lag nicht nur an dem  besonderen Schliff, sondern auch an der innen liegenden Gravur „Marie 4ever“. Was hatte das zu bedeuten? Alfred hatte diesen Ring in den letzten 12 Jahren kein einiziges Mal abgelegt. Und warum stand auf dem Zettel: „I’m sorry“? Was war hier los? Marie konnte nicht glauben, was jeder Ausstehende sofort geschlußfolgert hätte: Alfred hatte sie verlassen – und das an ihrem Hochzeitstag! 

 

Sie überlegte, ob es Anzeichen gegeben hatte, Dinge, die sie nicht hatte wahrhaben wollen. Aber es war alles wie immer gewesen, Alfred war liebevoll, rücksichtsvoll, zuvorkommend. Er hatte ihr heute morgen beim Abschiedskuss zugeflüstert, wie sehr er sich auf heute Abend freue.  Es sollte ein besonderer Abend werden – vielleicht war es der letzte, den sie zu zweit feiern würden – sie planten Nachwuchs. 

 

Und jetzt war er weg? Einfach so? Mit einem lapidaren „I’m sorry?“ Marie brach in Tränen aus. Aber half es ihr, wenn sie hier heulend rumsaß? Sie war kein Mensch, der sich hängenließ, sie musste etwas unternehmen. Sie musste ihn suchen oder wenigstens am Telefon mit ihm reden. So einfach würde er sich nicht aus ihrem Leben schleichen können. Sie nahm ihr Handy und wählte seine Nummer. Es meldete sich nur die Mailbox und der wollte sie nicht ihre Fragen stellen, von ihr würde sie keine Antworten erhalten.  

 

Sollte sie seine Mutter anrufen? Vielleicht war er bei ihr? Aber eigentlich hatte sie keine Lust auf ihre Schwiegermama. Was, wenn auch sie von nichts wusste und ihr Fragen stellen und Vorwürfe machen würde? Nein, die einzige Person, die sie jetzt ertragen konnte war ihre allerbeste Freundin Karla. Vorher sollte sie noch den Kuchen, den sie  in ihrer Lieblingsbäckerei gekauft hatte, in den Kühlschrank stellen. 

 

Auf dem Weg in die Küche stolperte sie über Alfred’s Aktentasche. Was machte die denn hier? Die nächste Überraschung erwartete sie, als sie den Kühlschrank öffnete: es herrschte ein heilloses Durcheinander. ‚Was hat er hier bloß gesucht?‘ fragte sie sich. Sie schob einige Dinge zusammen, schaffte so Platz für den Kuchen. Als er sicher verstaut war, nahm sie seine Tasche und öffnete sie. Sie war überschaubar gefüllt: da war sein Kalender, das Notizbuch und ganz unten entdeckte sie ein kleines, hübsch verpacktes Päckchen. Sie nahm es in die Hand. Es trug einen Aufkleber vom Juwelier Glimmer & Shine. Dort hatten sie damals auch ihre Eheringe gekauft. Marie bekam vor freudiger Erregung weiche Knie, bis ihr der Zettel wieder einfiel. Vielleicht war dieses Geschenk gar nicht für sie sondern für – wen auch immer. Wütend schmiß sie es wieder in die Tasche, verschloß sie und warf sie auf den Boden. 

 

Sie musste jetzt sofort Karla anrufen. „Hallo Süße!“ meldte Karla sich. „Für heute abend schon alles vorbereitet? Champagner steht im Kühlschrank? Reizwäsche liegt bereit?“ Als Karla merkte, dass Marie nicht auf ihre Späße einging, wurde auch sie ernst und fragte besorgt: „Marie, was ist los?“ „Er ist weg!“ schluchzte Marie. „Wie weg?“ fragte Karla verdattert. „Ja, als ich nach Hause kam lag da ein Zettel und der Ring und auf dem Zettel stand „I’m sorry“ und seine Aktentasche ist da mit einem Päckchen drin, das sicher nicht für mich ist!“ rief sie erregt. „Langsam, ganz langsam. Jetzt hol erstmal Luft. Ich bin sofort bei dir!“

 

Marie zitterte, als sie Karla die Tür öffnete. „Meine Süße!“ flüsterte Karla und nahm Marie in die Arme. „Nun erzähl noch mal ganz langsam, der Reihe nach!“ Stockend erzählte Marie, was sie wie vorgefunden hatte. Auch den Kühlschrank ließ sie nicht aus. „Den Kühlschrank hat er verwüstet?“ „Nein, nicht verwüstet. Es sah aus, als wenn er etwas gesucht hätte.“ „Ich kenne Alfred als ordentlichen Menschen, er hätte den Kühlschrank im Normalfall nicht so hinterlassen. Was ist hier nur los?“ überlegte Karla. „Hast du schon bei deinen Nachbarn gefragt, ob sie vielleicht etwas Ungewöhnliches bemerkt haben?“ „Nein, soweit habe ich noch gar nicht gedacht. Ich habe nur versucht, Alfred zu erreichen, aber da ging gleich die Mobilbox an.“ „Soll ich mal im Haus fragen?“ fragte Karla. Marie nickte. „Mach du dir in der Zeit einen Tee und versuche dich zu beruhigen!“ Marie ging in die Küche. „Grüner Tee ist jetzt genau richtig. Grün ist die Hoffnung und die stirbt zuletzt!“ murmelte sie und setzte sich mit dem Tee in ihren Lieblingssessel.

 

Kurze Zeit später erschien Karla wieder – sie sah Marie ernst an. „Marie, Frau Greiber hat gesehen, dass Alfred in einem Krankenwagen abtransportiert wurde.“ „Warum bin ich nicht von alleine darauf gekomen, dass ihm etwas passiert ist und er im Krankenhaus ist?“ rief Marie. „Vielleicht wegen dem Zettel?“ warf Karla schüchtern ein. Marie’s Blick verdüsterte sich. „Stimmt, dieser Zettel!“ Dann erbleichte sie: „Meinst du, er hat sich etwas angetan? Tabletten? Pulsadern aufgeschnitten?“ Karla sagte entschieden: „Nein, glaube ich nicht! In dem Falle hätte er nicht die Rettung rufen und die Tür öffnen können. Oder hast du an der Tür Aufbruchspuren entdeckt? Oder hier irgendwo Blutspuren?“ Marie schüttelte langsam den Kopf. „Aber wenn er einen Herzinfarkt hatte?“ „Dann wäre er wohl kaum in der Lage gewesen, diesen Zettel zu schreiben. Meinst du, er erleidet einen Herzinfarkt und entschuldigt sich bei dir dafür? Nein, Marie, es muss eine andere Erklärung geben!“ „Soll ich doch mal seine Mutter anrufen? Auch wenn ich nicht so große Lust dazu habe!“ „Ruf sie an, vielleicht kann sie Licht ins Dunkel bringen.“ meinte Karla. Unwillig rief Marie ihre Schwiegermama an. „Sie ist nicht da, es springt sofort der Anrufbeantworter an. Und da werde ich ihr nicht draufsprechen! Ich rufe jetzt im St. Helena an – dann werden wir gleich wissen, was mit Alfred ist!“ Sie suchte die Nummer des Krankenhauses raus und rief an. „Guten Tag, meine Name ist Marie Hoher. Ist mein Mann Alfred Hoher bei Ihnen eingeliefert worden? Ah, verstehe. Also müsste ich selber …. ja gut, vielen Dank!“ Karla schaute sie an: „Und?“ „Du wirst es nicht glauben, die haben heute einen Computerausfall und können die Patientendaten nicht einsehen. Ich soll vorbeikommen und in der Notaufnahme nachfragen.“ Karla sah sie ungläubig an: „Das gibt’s ja echt nicht. Tja, die Technik ist schön und gut – so lange alles funktioniert. Komm, Süße, wir fahren zum Krankenhaus. Ach, Moment, was war das für ein Päckchen, von dem du mir am Telefon erzählt hast?“ „Ach, halt so ein Ding – ist sicher ein Ring drin oder Ohrringe – aber ich sagte ja schon: sicher nicht für mich!“ „Magst du es nicht öffnen und nachschauen?“ fragte Karla spitzbübisch. Marie grinste: „Nein, ich möchte zuerst Alfred finden und ihn zur Rede stellen!“ „Hast Recht, eins nach dem anderen.“ erwiderte Karla und sie gingen zu ihrem Auto. 

 

Marie war zu aufgeregt zum Autofahren und so kutschierte Karla sie durch die Stadt, die ungewöhnlich voll war. Jede Ampel sprang auf Rot und irgendwie dauerte die Fahrt ewig. „Da ist ein Parkplatz!“ rief Marie plötzlich. Sie stürmten ins Krankenhaus. „Da lang geht’s zur Notaufnahme!“ Marie zeigte nach rechts. „Hallo, können Sie mir sagen, ob heute Alfred Hoher eingeliefert wurde?“ überfiel sie die Dame an der Anmeldung. „Moment, ich schaue gleich nach!“ bekam sie zur Antwort. Nervös trommelte sie auf der Theke. 

 

„Marie!“ ertönte plötzlich eine schwache Stimme hinter ihr. „Alfred!“ rief Marie erschrocken. „Wie siehst du denn aus?“ Alfred blickte sie aus verquollenen Augen an. „Es geht mir schon wieder besser! Hättest mich mal vor einer Stunde sehen sollen!“ versuchte er zu scherzen.  „Was ist denn passiert?“ mischte sich nun auch Karla ein. „Hallo Karla, nett, dass ihr mich zu zweit abholen kommt. Bin zwar noch etwas schwach, aber laufen kann ich schon wieder!“ sagte Alfred, blieb aber im Rollstuhl sitzen. „Marie, ich wollte dich überraschen und habe mir den Nachmittag frei genommen. Zu Hause habe ich die Blumen in eine Vase gestellt, die ich auf den Tisch stellen wollte. Leider hatte sich eine Biene in unsere Wohnung verirrt, die sich die Vase als Landeplatz ausgesucht hatte. Sie stach sofort zu. Außer dem Schmerz bemerkte ich, dass mein Hals zuschwoll. Ich rief sofort die Rettung und öffnete ihnen die Haustür. Dann suchte ich im Kühlschrank nach meinen Notfallset. Marie, ich dachte, ich muss sterben!“ Marie umarmte ihn. „Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht. Ich dachte, du hättest mich verlassen. Was sollte denn der Ring und der Zettel?“ „Den Ring habe ich sofort ausgezogen, als ich merkte, dass nicht nur mein Hals zuschwoll. Und den Zettel habe ich geschrieben, damit du weißt, wo ich bin!“ „Äh, auf dem Zettel stand: I’m sorry!“ sagte Marie verwirrt. „Was? Aber ich hatte doch geschrieben: bin im Krankenhaus – Bienenstich!“ murmelte Alfred. „Lass uns bitte nach Hause fahren!“ bat er. „Darfst du denn schon gehen?“ „Ja, ja Cortison wirkt schnell!“ sagte er. „Ich will mich nur einfach hinlegen und ausruhen.“ Marie und Karla nahmen ihn bis zum Auto in den Arm. Karla fuhr die beiden nach Hause. 

 

Zettel und Ring lagen immer noch auf der Kommode. Verwirrt nahm Alfred den Zettel in die Hand. „Verstehe ich nicht!“ sagte er und drehte ihn um: „Hier schau: meine Botschaft für dich! Wieso habe ich ihn nur verkehrt herum hingelegt?   Es tut mir leid, dass du dir solche unnötigen Gedanken gemacht hast!“

Marie sah ihn liebevoll an: „Ich bin so froh, dass du wieder da bist. Leg dich etwas hin! Nachher gibt’s Kuchen zur Feier des Tages: Bienenstich!“

 

©AsKa