Von Saskia Wyss

Tara keilte sich zwischen den Party-Gästen hindurch; in der einen Hand hielt sie eine Cola, mit der anderen schob sie Schultern um Schultern beiseite, bis sie schliesslich bei Finn angelangte. Dieser sass mit ein paar Freunden, die dauernd johlten und die Trinkbecher in die Höhe hoben, auf dem Sofa und schaute sich die neue Millionen-Show «Das Ende des Regenbogens» an. Gerade erklärte der Moderator stolz, dass der Name der Sendung auf den Mythos anspiele, der besagt, dass in Irland die Trolle am Ende des Regenbogens ihre Schätze verstecken. «Und wie Sie vielleicht wissen, liebes Publikum, ist das Ende eines Regenbogens nicht leicht zu finden. Man könnte auch einen Troll fangen, damit er das Versteck verrät – aber das ist ebenfalls schwierig. Zum Glück gibt es unsere Show – hier müssen Sie nur mitmachen und alle Fragen richtig beantworten, und schon haben Sie Ihre Goldmünzen», warb er. Finn bemerkte, wie Tara dem Moderator ungläubig zuhörte, und rückte etwas beiseite, um ihr auf der Couch Platz zu machen.

«Na, alles klar? Schaust müde aus, bisschen bleich, also eigentlich beschissen.»

«Danke, Finn, wirklich, deine Party gefällt mir auch super. Wollt ihr nicht etwas anderes gucken? Diese Sendung mit diesen Lackaffen ist echt widerlich!»

«Hey, mach dich locker. Trink doch mal was anderes als Cola, wir haben genug Bier da.»

«Glaub mir, mit Alkohol würde ich die Show auch nicht toll finden. Ich meine, woher haben die jetzt in der Krise plötzlich so viel Geld her? Im Jackpot ist fast eine Milliarde Euro drin. Niemand hat mehr auch nur einen Cent übrig für sowas, keinen einzigen!»

Finn zuckte die Schultern. «Hauptsache, es reicht fürs Bier. Und hat sich dieser Typ eigentlich bei dir gemeldet?», wollte Finn noch wissen.

«Du meinst Liam? Nein, dieser Vollidiot. Wie lange ist jetzt dieses Waldfest her, an dem ich ihn kennengelernt habe? Zwei Monate? Er hat meine Nummer, und nichts hat er geschrieben.»

«Na, schreib du ihm doch», schlug Finn vor.

«Ja, Schreib du ihm doch», mischten sich Emma und Nora ein, die sich rücklings auf die Sofalehne setzten und sich von dort auf die Gäste herunterfallen liessen. Finn und Tara sprangen sogleich auf, während die anderen mit Emma und Nora auf den Boden polterten und nach Shots grölten.

«Danke für die Einladung, Finn, aber ich muss.»

«Was jetzt schon? Es ist nicht mal drei Uhr, was ist denn los?»

«Ich habe total schlecht geschlafen, und Ohrenpfeifen seit heute Morgen. Schmerztabletten nützen gar nichts mehr.»

«Na, dann hast du ja lange durchgehalten. Ruf an, wenn du was brauchst – zum Beispiel eine Cola oder so.

Sie verdrehte die Augen, umarmte kurz Finn, verabschiedete sich von Emma und Nora und verliess die Party.

 

Tara trat nach draussen in die dunkle Kälte, die sich im Innenhof breitmachte und sich mit dem Gestank von beissenden Abfall- und Abgasdämpfen vermischte. Das Pfeifen war in der Stille beinahe unerträglich. Vor Anstrengung begann sie, leicht zu schwitzen, und ihr wurde leicht übel. Sie kauerte sich auf eine Sitzbank, presste sich die Ohren zu, kniff die Augen zusammen und versuchte ruhig zu atmen. Nach einer Weile entspannten sich ihre Augen, blieben aber geschlossen. Zittrig löste sie ihre Hände von den Ohren; das Pfeifen war plötzlich weg, stattdessen hörte sie eine leise Melodie, die ihr bekannt vorkam.

«Tara», ertönte es aus dem düsteren Nichts.

Sie öffnete sie die Augen und richtete sich vorsichtig auf. «Finn?», fragte sie in die fast vollkommene Stille.

«Ehm, nein, nicht wirklich. Hör zu. Wir haben nicht viel Zeit. Du musst mir helfen.»

«Wer ist da?» Panisch schaute Tara umher, konnte aber nichts erkennen. Der Tinnitus kehrte wieder zurück; sie drehte sich in verschiedene Richtungen und entfernte sich ein paar Schritte von der Sitzbank.

«Wir haben nicht viel Zeit, du musst mir helfen!»

Erneut liess Tara ihre Augen angestrengt umherschweifen. Da entdeckte sie eine pechschwarze Stelle auf dem Boden – noch mehr Licht schluckend als die trostloste Finsternis, die rücksichtslos die ganze Stadt mitsamt ihren herumlungernden Gestalten, die nachts ihren Weg erst recht nicht fanden, einlullte. Zuerst dachte sie an einen Schatten, doch sie erblickte nichts, das einen solchen unförmigen Schatten, der mal kleiner und mal grösser wurde, geworfen hätte.

«Ich bin … ich bin verwandelt worden. Von mir siehst du nur meinen Schatten.»

Ungeduldig und zornig verschränkte sie die Arme und fragte – dieses Mal lauter – den Schatten vorwurfsvoll: «Was soll das? Warum zeigst du dich nicht?»

«Bitte, nicht so laut. Wenn du mitkommst, wirst du sehen, wer ich bin. Aber du musst mit mir jetzt losgehen. Zum Ende des Regenbogens.»

«Was? Zu dieser Show? Niemals!» Tara winkte ab und hatte sich vom Schatten schon fast ganz abgewandt, als sie eine schwache, warme Brise spürte, und die Melodie etwas lauter wurde; die weichen Klänge konnte sie aber noch nicht vollständig erkennen.

«Nein, zu einem richtigen Regenbogen. Ich verspreche dir, ich werde mich dir zeigen, aber du musst mir vertrauen und mitkommen. Mehr kann ich dir nicht verraten, sonst bleibe ich auf ewig einen Schatten», ertönte es.

Tara ging zögerlich wieder ein paar Schritte auf den Schatten zu und steckte ihre Hände in die Jackentaschen. «Hört dann auch das Pfeifen auf?», wollte sie wissen.

«Ja. Aber nur wenn du mitkommst – jetzt. Es wird bald anfangen, zu regnen. Wir dürfen nicht zu viel Zeit verlieren, denn das Ende des Regenbogens ist nicht so leicht zu finden.»

 

Der Schatten glitt zügig durch verwahrloste Häuserreihen und rissigen Strassen entlang, bis sie schliesslich den Wald am Stadtrand erreichten und einem steilen Pfad folgen mussten. Noch immer leicht genervt eilte Tara dem Schatten hinterher; mit klappernden Zähnen, schlotternden Knien und der Melodie im Ohr lauschend. Als sie eine Anhöhe erreichten, stoben bereits winzige Regentropfen durch die morgendliche Luft. Hastig wischte sich Tara die kühle Nässe mit dem Handrücken aus dem Gesicht.

«Hey, nicht so schnell, ich bin total müde, und wir müssen hier rumrennen zu so einem Regenbogen, den es gar nicht gibt.»

«Wir sollten es versuchen. Sobald die ersten Sonnenstrahlen am Himmel erscheinen, müssen wir bereit sein und die Spiegelungen sorgfältig beobachten, damit wir das Ende des Regenbogens finden. Schau doch, es wird langsam heller.»

Kaum hatte der Schatten das gesagt, blendeten Tara die Lichtstrahlen des neu angebrochenen Tages; der Sonnenschein funkelte zaghaft auf dem muffigen Laub, der durch Taras Schritte raschelte. Sanft löste sich der Tau auf und suchte sich seinen Weg in die modrige Erde. Die Sonnenstrahlen wurden selbstbewusster und fingen an, mit den Regentropfen, die sich vervielfachten und immer geräuschvoller auf die fahle Erde prallten, zu tanzen. Das Tanzen wurde farbenfroher; erste bunte Lichtstreifen zeichneten sich auf Bodenhöhe ab und zogen allmählich ins Azurblau hinauf. Staunend blieb Tara stehen und beobachtete, wie sich der Regenbogen anmutig in seiner ganzen Farbenpracht entfaltete; den Schatten hatte sie für einen kurzen Moment vergessen. Als plötzlich die Melodie lauter wurde und sie auch den Gesang vernehmen konnte, suchte sie nach ihm. Im seidenen Schimmer des Regenbogens entdeckte sie funkelnde Lichtpunkte, die von einem tiefschwarzen Schattenbild emporstiegen. Fassungslos starrte Tara auf das Geschehen und folgte mit ihren Blicken den in die Höhe wirbelnden, glänzenden Staubkörnern. Die Melodie war jetzt deutlich zu hören, und im Glitzernebel zeichneten sich die Umrisse eines Menschen ab.

«Hey, Tara.» Liam stand vor ihr und lächelte schüchtern. «Es tut mir leid, dass ich dich da mitreinziehen musste.»

«Es war Good Times von Sam Cooke. Das hatten wir zusammen auf der Feier gehört. Du und ich. Und dann ging ich kurz hinein, um eine Cola zu holen. Als ich wieder rauskam, warst du weg, Liam.» Tara sah ihn unentwegt an.

«Ich hatte im Wald einen Schrei gehört und musste nachschauen, was da los war», erklärte Liam. Fragend schaute Tara ihn an und bedeutete ihm, weiterzuerzählen.

«Tara, die Welt ist arm, es ist nichts mehr übrig, nicht einmal mehr, um einen Krieg anzufangen. Gar nichts ist mehr da. Die Regierungen dieser Welt tüfteln deshalb schon seit längerem an Methoden, um Trolle möglichst effektiv zu fangen und an ihr Gold zu kommen, weil es praktisch unmöglich ist, das Ende eines Regenbogens zu finden. Nur Trolle können das, und naja, ich, weil ich von einem verzaubert wurde.»

«Und was hat das alles mit mir zu tun?»

«Der Schrei stammte von einem Troll. Ich hatte Beauftragte gerade beim Fangen eines Trolls erwischt. Ich wollte helfen, aber die Agenten waren bewaffnet – der Troll hat mir das Leben gerettet.»

«Indem er dich in einen Schatten verwandelt hat?»

«Ja, aber dadurch konnte ich den Fängern unentdeckt folgen und mich bei ihnen einschleusen, um herauszufinden, was sie vorhaben. Vieles konnte ich bereits in Erfahrung bringen, aber nicht, was es mit dieser Show auf sich hat und warum da Gelder hineingesteckt werden – dafür hätte ich länger gebraucht. Aber der Zauber kann nach einer gewissen Zeit nicht mehr rückgängig gemacht werden, und auch nicht, wenn man in Schattengestalt sein wahres Gesicht preisgibt. Ich konnte nur wieder erlöst werden, wenn ich den Menschen, der mich zuletzt so gesehen hat, wie ich wirklich bin, rechtzeitig und ohne meine Identität zu verraten, ans Ende des Regenbogens bringe.»

«Und das war ich», stellte Tara erschrocken fest.

«Ja, das warst du», er trat etwas näher an sie heran.

«Die Melodie ist weg.»

«Ja, weil ich jetzt wieder da bin.»

«Und was jetzt? Graben wir jetzt hier auch noch einen Schatz aus?», witzelte Tara verhalten.

Liam musste leicht lachen. «Ne, wir retten jetzt die Welt.»