Von Raina Bodyk

Ich war schwul, sechzehn Jahre alt und meine Eltern hatten mich rausgeschmissen.

Man warf mich aus der Schule. Es hätte sich ja jemand an meiner ‚Krankheit‘ anstecken können! Ich wurde behandelt wie ein Aussätziger, keiner wollte mir auch nur nahekommen. Ich fühlte die feindseligen und verächtlichen Blicke wie Stiche auf der Haut.

Mein Vater schämte sich für mich vor den Leuten. Er wollte mich ‚heilen‘. Mit Prügel. Einmal schlug er mich mit seinem Lederriemen fast tot. Ich bin sicher, ein toter Sohn wäre ihm lieber gewesen als eine Schwuchtel, wie er mich gern nannte. Ich hasste ihn.

Und meine so gottesfürchtige Mutter? Sie brachte es kaum über sich, mich ohne Abscheu anzusehen. Für sie war ich die Todsünde persönlich, die für ewig in der Hölle schmoren würde. Der Pastor sollte mir den Teufel mit Weihwasser und Gebeten austreiben. Bis heute packt mich die Wut, wenn ich die heuchlerischen Kirchenmänner von Barmherzigkeit schwafeln höre!

Dann kamen die Elektroschocks. Die Ärzte verpassten mir so heftige Stromstöße, dass mein ganzer Körper unkontrolliert zuckte und ich vor Schmerzen brüllte. Dazu musste ich Homo-Pornos gucken. Die Homosexualität sollte in meinem Unterbewusstsein für immer mit der Vorstellung von höllischen Schmerzen vernetzt werden. Ich hatte eine Heidenangst, dass sie mein Gehirn kaputt machen würden oder mich zum Krüppel.

Da nichts half, zogen meine Eltern die Konsequenzen:

„Raus! Verschwinde! Du bist nicht mehr unser Sohn.“

 

Jetzt hatte ich also nicht mal mehr ein Zuhause. Bin nach New York. Ich hoffte, in der Großstadt wären die Menschen nicht ganz so engstirnig. Ich hatte keine Bleibe, kein Geld, keinen Job.

Ich lernte ein paar Jungs kennen, die am gleichen ‚Makel‘ litten und Ähnliches hinter sich hatten. Jack, Oliver und Henry halfen mir, einen Job am Frachthafen zu ergattern. So konnte ich mir wenigstens ein Dach über dem Kopf leisten, musste nicht betteln oder klauen, um zu überleben, wie so viele andere.

Eines Abends wollten mich die drei mit ins stadtbekannte Stonewall Inn, 57 Christopher Street in Greenwich, schleppen. Ich protestierte: „Ich komme da nicht rein, ich bin noch keine achtzehn.“

Sie lachten über meine Einfalt und erklärten mir: „Klar, Dave, die legalen Bars lassen dich nicht rein. Aber das Stonewall ist anders. Da die State Liquor Authority keine Alkohollizenz an Lokale vergibt, in denen Schwule verkehren, war das Stonewall so schlau, sich zum privaten Club zu erklären, in dem nur Mitglieder willkommen sind. Es hat trotzdem keine Lizenz, aber es darf ja nicht jeder rein … Du verstehst? Übrigens soll die Bar der Mafia gehören! Die hat gute Kontakte zur Polizei.“ Oliver zwinkerte mir vielsagend zu.

Henry fügte hinzu: „Hier können sich Schwule, Lesben, Transen und eben alle, die sonst nirgends willkommen sind, ungestört und ohne Angst treffen. Die Bar ist für viele von uns ein Stückchen Heimat geworden, vor allem für die, die wie du von zuhause geflüchtet sind oder rausgeworfen wurden.“

 

Es war der 28. Juni 1969.

Ich war unglaublich aufgeregt. Das erste Betreten dieses Etablissements werde ich immer in Erinnerung behalten! Ich kam in ein Paradies, von dessen Existenz ich nicht einmal gewusst hatte. Überall dezente Lichter, einschmeichelnde Musik, ausgelassenes Lachen. So viele Leute, vor allem junge. Sie tanzten, streichelten und küssten sich. Männer mit Männern, Frauen mit Frauen. Und keiner störte sich daran! Zum ersten Mal hatte ich nicht nur vom Verstand her, sondern tief drinnen das Gefühl, nicht die Ausnahme in der Schöpfung zu sein. Ich war nicht allein! Ich war glücklich.

Männer wie hier hatte ich noch nie gesehen: sie waren äußerst kunstvoll (und sehr stark) geschminkt. Sie trugen Perücken und steckten in den glamourösesten und wagemutigsten Kleidern. Wie die das mit ihren aus- und einladenden Busen wohl hinkriegten? Auf gefährlich hohen Absätzen und mit aufreizendem Hüftschwung paradierten sie an den Tanzpaaren und der Bühne vorbei, auf der Go-go-Boys in goldfarbenen Oberteilen herumhüpften, Die konnten das besser als Frauen!

Meine Kumpels erklärten mir: „Das sind Dragqueens.“ Unversehens tauchte meine Mutter in meinem Kopf auf: betend, entsetzt das Kreuz über sich schlagend und alle als ‚verdammte Teufelsbrut‘ bezeichnend! Grinsend stürzte ich mich ins Gewühl.

Es war der schönste Abend meines Lebens!

Immer wieder erscholl der Ruf: „Ein Drink auf Judy!“ Dann erklang aus allen Kehlen Judy Garlands berühmtestes Lied. Jeder sang voll Inbrunst mit. In so manchem Auge sah ich eine Träne glitzern.

Somewhere over the rainbow, blue birds fly
Birds fly over the rainbow
Oh why, oh why can’t I?

Ich liebte die Sehnsucht in diesem Song, die Sehnsucht, die wir alle hier spürten. Fliegen können … Frei sein …

Die meisten Gäste waren noch aufgewühlt von der Beerdigung der Schauspielerin am Tag vorher. Fast jeder, der hier war, hatte ihren Sarg begleitet. Einige hatten selbstgemachte Regenbogenfahnen geschwenkt. Homosexuelle aus ganz Amerika waren angereist. Judy Garland war unser Idol.

 

Nie werde ich diese Nacht vergessen. Sie hatte so ausgelassen angefangen, so voll Gefühl …

 

1.20 Uhr

 

Urplötzlich verwandelte sich das schummrige Licht in blendende Helligkeit. Die Musik stoppte unvermittelt. Die Tanzboys verschwanden hektisch von der Bühne. Alle verstummten, standen stocksteif und starrten zur Tür:

Acht Polizisten stürmten die Bar.

„Dies ist eine Razzia. Wir wurden informiert, dass hier illegal Alkohol ausgeschenkt wird. Alle verhalten sich ruhig und zeigen ihre Ausweise.“

Die Schockstarre löste sich. Ich ließ schnell mein Whiskeyglas verschwinden. Die Gäste fingen an, erst nur leise zu murren und dann heftig zu zetern und zu fluchen.

Ein bestimmter Verdacht ging flüsternd um:

„Das stinkt doch zum Himmel! Ohne Vorwarnung!“

„Normalerweise kriegen die Bars doch rechtzeitig einen Tipp!“

„Da hat wohl jemand vergessen, das Schmiergeld abzudrücken.“

Alle mit Ausweis, darunter ich, durften das Lokal verlassen. Jubelnd und winkend stöckelten die ‚Damen‘ unter dem Applaus der Umstehenden auf die Straße, warfen Kusshände in die ständig wachsende Menge. Eine sogar ihr parfümiertes Spitzentaschentüchlein! Es war eine bühnenreife Show! Ich schätzte, was da aus den umliegenden Bars und Kneipen quoll, waren an die drei- bis vierhundert Leute.

Die Polizisten zerrten einige Queens durch die Tür, um sie in ihrem Van aufs Revier zu schaffen. Eine schlug ihrem Peiniger die schwere Handtasche über den Kopf, andere versuchten, sich loszureißen und zu flüchten.

„Polizeibrutalität!“
„Schweine!“
„Haut ab!“

Die Queens fingen an, Münzen unter die Leute zu werfen, was das Chaos noch vergrößerte.

Neben mir schluchzte ein Junge völlig verzweifelt. Ich versuchte, ihn zu trösten, aber er stammelte immer wieder: „Was soll aus uns werden, wenn sie alle unsere Treffpunkte schließen? Wo sollen wir dann hin?“ Tja, da hatte er recht. Das Stonewall Inn war etwas Besonderes. In anderen Schwulenbars waren Drags und Transen durchaus nicht willkommen.

Die Stimmung war höchst merkwürdig: aufgekratzt, seltsam heiter, skurril und auch trotzig. Ein unterschwelliges Brodeln lag in der Luft. Wir warfen mit allem, was wir hatten: Lippenstifte, Puderdosen, Kämme, Bierdosen, Mülleimer. Der eben noch niedergeschlagene, junge Bursche machte kräftig mit. Er kämpfte wie alle für den tolerantesten Ort der Stadt.

„Los, Mädels, gebt’s ihnen!“
„Alle Macht den Schwulen!“
„Freiheit und Gleichberechtigung für alle!“

 

In dieser Sekunde brach schlagartig und ohne Vorwarnung die Hölle los. Als hätte eine Bombe eingeschlagen. Ohrenbetäubendes Geschrei, hysterisches Gelächter, Klatschen, empörte Proteste. Die ersten Steine, Ziegel und Flaschen flogen. Böller krachten. Schlägereien. Autos wurden zerkratzt, Verkehrsschilder umgeknickt.

„Rückzug!“, schrie der leitende Inspektor und die Beamten zogen sich mit ihren Gefangenen in die Bar zurück, sperrten die Tür ab. Draußen begannen wütende Prügeleien mit den Cops, die den Van bewachten.

Wir waren bereit zum Kampf. Mit Steinen warfen wir die dicken Fensterscheiben der Bar ein. Einige rissen eine Parkuhr aus dem Asphalt, nutzten sie als Rammbock und es gelang ihnen, die Tür zu zerschmettern.

 

Die ersten stürmten hinein. Die Wut eskalierte bei dem Anblick, der sich ihnen bot. Vorschlaghämmer hatten ganze Arbeit geleistet. Es war, als ob ein Orkan hindurchgefegt wäre. Spiegel, Jukeboxen, Toiletten, Zigarettenautomaten, Waschbecken, alles zertrümmert.

Es mochte nicht christlich sein, aber es befriedigte uns, in diesem Moment einmal die Angst und Panik in den Augen der Amtsgewalt zu sehen. Wie oft waren wir ihren Repressalien und Schikanen ausgesetzt gewesen.

Plötzlich drehte ein Cop durch, zog seine Pistole und rannte auf uns los. Er warf sie mitten in unseren Haufen. Wir hatten Glück, dass sie nicht losging.

Sirenen dröhnten. Die Verstärkung kam.

Die Menge draußen war auf fast 2000 Leute angewachsen. Die Einsatztruppe versuchte, uns auseinander zu treiben. Da sich niemand den Schädel einschlagen lassen wollte und inzwischen auch die Neugierigen in der Überzahl waren, kehrte langsam Ruhe ein.

Die Obrigkeit rückte ab.

 

Aber noch wollte niemand gehen. Schlagartig entwickelte sich eine tiefe Solidarität. Wir waren alle Verbündete! In kleinen Gruppen blieben wir stehen, redeten und sangen bis nach vier Uhr morgens.

Somewhere over the rainbow skies are blue
And the dreams that you dare to dream really do come true.

 

Eine seltsame Nacht! Wir waren in wenigen Stunden durch eine ganze Welt von Gefühlen gegangen. Es war, als ob dieser Aufstand nicht nur auf der Straße, sondern in uns selbst stattgefunden hätte. Wir hatten uns zum ersten Mal als Schwule, Lesben und Transen gemeinsam gewehrt, hatten uns frei und stark gefühlt. Der Vollmond schien heute Nacht nur für uns am Himmel von Manhattan zu strahlen.

Fünf Tage zogen wir die Revolte mit unserem neu gewonnenen Selbstbewusstsein durch.

 

Seit diesem Tag bin ich jedes Jahr beim Christopher-Street-Day dabei, bis wir irgendwann endlich die Gleichbehandlung und den Respekt bekommen, die uns zustehen.