Von Michael Voß

„Eine gute Wahl!“, klang die Stimme des weißhaarigen Verkäufers neben mir. 

„Sagen Sie das bei jedem Kunden?“, fragte ich etwas verärgert. 

Immerhin war das hier Merlins Malerbedarf, eines der wenigen Fachgeschäfte, das sich noch gegen die mächtigen Baumärkte halten konnte. 

„Mitnichten, junger Mann. Aber Sie sagten, Sie seien Fantasy-Rollenspieler und da ist dieses Motiv ein guter Einstieg in die Traumwelten-Edition. Ein feuchtfröhlicher Abend inmitten von mutigen Recken, tumben Dorfbewohnern, einem tüchtigen Wirt und einigen, sagen wir, ungewöhnlichen Maiden ist das richtige nach einem anstrengenden Tagewerk. Zumal es hier weder Mörder, Werber, Zöllner noch Bestien gibt, wie Sie unschwer erkennen können.“

„Gut, ich nehme es“, sagte ich.

„Wenn sie vorher noch die Haftungsausschlusserklärung unterschreiben würden“, antwortete der Alte.

„Haftungsausschluss? Für eine Fototapete?“, fragte ich irritiert.

„Sie wissen doch, was Sie mit der Traumwelten-Tapete erwerben. Und Merlin haftet nun mal nicht bei Schäden durch den Gebrauch dieses außergewöhnlichen Produkts.“

Schäden durch den Gebrauch einer Tapete?

Der Alte musste irgendwas geraucht haben. Ich unterschrieb, bezahlte und fuhr nach Hause. Am nächsten Wochenende tapezierte ich damit die hinter meinem Schreibtisch befindliche Wand in meinem Homeoffice. Jedes Mal, wenn ich das Zimmer betrat und auf meinen Arbeitsplatz zuging, erfreute ich mich an dem realistischen Anblick des Inneren einer mittelalterlichen Taverne. Im Vordergrund saßen zwei muskelbepackte Helden mit zwei jungen Frauen bei Braten und Met, während sich im Hintergrund eine Tänzerin auf einem Tisch drehte, an dem einige Bauern und Handwerker Platz genommen hatten. Bei der Arbeit hatte ich das Bild im Rücken, so dass es mich nicht ablenkte. 

Ein paar Wochen später in der Abenddämmerung, ich arbeitete noch an einem in Verzug geratenen Projekt, wurde es schlagartig laut hinter mir. Erschrocken fuhr ich herum. Die Taverne lebte! Ein Würfelbecher knallte, aus einer Ecke ertönte Lautenmusik, Leute redeten, lachten und riefen. Zu allem Überfluss ringelte sich ein verführerischer Bratenduft, durchzogen von einem Hauch Moschus, in meine Nase. 

Einer der beiden Recken winkte mir.

„Da bist du ja endlich! Wir dachten schon, du seiest aufgeflogen. Setz dich zu uns!“

Verwirrt trat ich zwei Schritte nach vorn, dann drehte ich mich noch einmal um. Dort, wo eigentlich mein Büro sein musste, befand sich eine halboffene Holztür.

„Tür zu! Es zieht!“, brüllte jemand. Tatsächlich wehte ein kalter Luftzug um meine Füße und ich verstand, warum im Kamin der Gaststube ein mächtiges Feuer prasselte. Ich zog die Tür ins Schloss und setzte mich zögernd an den Tisch.

„Du bist fürwahr seltsam gekleidet“, sagte die in ein rotes Kleid gehüllte Schönheit an der Seite des blonden Helden.

„Und so dünn – ist dir nicht kalt da draußen?“, fragte die kesse Brünette zur Linken des dunkelhaarigen Kriegers. Hatte die Frau nicht eben noch ein paar Spielkarten unter dem Lederband über ihrem bloßen Oberarm stecken gehabt?

„Ich, äh …“, stotterte ich.

„Du bist doch der Mann, den Gero am Hofe König Boguls eingeschleust hat, um die Pläne dieses Despoten auszukundschaften, oder?“, sagte der blonde Krieger. „Vermutlich ist dieser lächerliche Aufzug  gerade Mode dort.“

„So ist es“, murmelte ich.

„Gut. Wir haben den Auftrag, dich morgen sicher ins Schloss des Grafen zu geleiten. Dort kannst du ihm Bericht erstatten“, meinte er und schob mir einen Holzteller zu, auf dem sich einem dampfendes Bratenstück befand.

Die Schönheit in Rot lächelte mich an. „Mein Vater wird dich reich belohnen.“

„Gewiss“, sagte die Falschspielerin mit einem vibrierenden Unterton, setzte sich auf meinen Schoß und zog einen Humpen Wein heran. „Trinke, mein wackerer Spion! So jung wie heute kommen wir nicht wieder zusammen!“

 

Ich weiß nicht mehr, was noch so alles in dieser Nacht geschah. Erst recht nicht, wie ich es geschafft hatte, zurück in mein Büro zu kommen. Als ich am nächsten Morgen unter meinem Schreibtisch wach wurde, war ich sicher, geträumt zu haben. Dann erschrak ich ein zweites Mal. Das Bild auf der Fototapete zeigte immer noch denselben Schankraum, doch die beiden Helden und die Grafentochter waren verschwunden. Die Falschspielerin saß mit zerzausten Locken am Tisch und zwinkerte mir zu. Unter dem Lederriemen an ihrem Arm klemmte mein USB-Stick mit sämtlichen Projektdaten. Mir wurde ganz anders.

 

In Merlins Laden war es gerammelt voll.

Eine junge Frau schluchzte ohne Unterlass.

„Warum kann ich erst wieder in vier Wochen nach Gotham City? Ich habe mich unsterblich in Batman verliebt.“

„Steht alles in der Gebrauchsanweisung“, sagte der alte Verkäufer. „Der Übergang funktioniert immer nur bei Neumond. Und der nächste ist eben in einem Monat. Es tut mir leid, aber Sie müssen sich gedulden oder beim nächsten Mal einfach drüben bleiben.“

„Bis dahin hat ihn diese durchtriebene Catwoman in ihr Bett gelockt“, heulte das Mädchen und verließ tränenüberströmt das Geschäft.

Jetzt trat ein wutentbrannter Mann mit einem vielleicht zehnjährigen Mädchen vor den Alten. 

„Gestern war unsere Lisa noch in Ordnung. Heute Morgen hat sie den Arm im Gips! Das Kind ist völlig durch den Wind, faselt davon, dass es gestern Abend in Ihre Fototapete reingegangen ist. Zu Bibi und Tina! Da ist sie dann angeblich vom Pferd gefallen! Was haben sie dem Mädchen beim Verkauf der Tapete für einen Schwachsinn erzählt? Jetzt hat es Wahnvorstellungen und schlafwandelt.“

Der Alte zog ein unterschriebenes Formular aus einem Ordner. 

„Erstens, werter Herr, habe ich Ihre Frau und Ihr Kind vor dem Kauf über alle Eigenschaften des Produktes informiert, einschließlich der Risiken. Zweitens, wenn ich Ihre Tochter jetzt so sehe, wurde sie ärztlich fachgerecht versorgt. Und drittens, scheint mir Lisa trotz des gebrochenen Armes sehr glücklich zu sein.“

„Ja Papa, es war sooo schön. Bitte, schimpf nicht mit Herrn Merlin, sondern kauf mir die schöne Tapete nochmal, die du kaputtgemacht hast. Ich will auch bis zu den Sommerferien kein Eis mehr haben und jeden Tag meine Hausaufgaben machen, ohne dass Mama  schimpfen muss.“

 

Ich verkrümelte mich unauffällig in eine Ecke und studierte die von mir unterschriebene Haftungsausschlusserklärung. Nach drei Minuten musste ich zugeben, dass Merlin wirklich keine Schuld traf. Hätte ich die Gebrauchsanweisung doch nur vorher gelesen …

 

Als der letzte Kunde das Geschäft verlassen hatte, fragte ich den Alten: „Sagen Sie, Herr Merlin, welches Traumwelten-Motiv würden Sie mir als Nächstes empfehlen?“

 

V2

 

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