Von Sabine Esser

Walzer. Das vielfach gespiegelte Licht flirrt in dem hell erleuchtetem Saal. So schöne Toiletten. So elegante Damen und so schöne Herren. Die herrlichen Blumen und die hübschen Offiziere … Das hätte die Königin erleben sollen! Sie hat ihn zur Hochzeit im weißen Saal in Berlin getanzt und gar nicht aufhören können. Was für ein Skandal! Schade, dass sie den heutigen Abend nicht erleben kann. Dabei ist es erst fünf Jahre her, dass sie starb. Egal.

„Heute ist heute“, strahlt die kleine Komtesse unvermittelt ihren schneidigen Tänzer an und folgt geschmeidig der Linksdrehung.

 

„Tantchen würde unanständig sagen“, denkt sie und tanzt begeistert weiter. Eins zwei drei, eins zwei drei. Ach, diese Arme, diese starken Arme. Noch weiter biegt sie sich nach hinten. Ein Taumel aus Licht und Musik – trinken möchte sie diese Freude. Schneller, noch schneller, Wiener Walzer. Eigens für den Kongress erfunden. Eigens für sie erfunden!

 

Wie graziös das silbrigschimmernde Kleid schwingt und wie schön der junge Offzier ist. Kein Mann zum Heiraten, das weiß sie durchaus. Sie wird einen von den würdigen Alten heiraten müssen. Aber nicht jetzt, nicht jetzt.

 

Polka. Ihre seidenbeschuhten Füßchen hüpfen über das schimmernde Parkett. Wie kann man bei dem Tempo überhaupt einen Mann erkennen? In Uniform sieht einer aus wie der andere: Straffe Oberschenkel, gerade Haltung, kräftige Arme, russische Leutnants, englische, preußische – Hauptsache, sie können tanzen.

 

Die würdigen Herren wandeln derweil zwischen den Gästen, machen lächelnd zweideutige Bemerkungen, verziehen sich in Hinterzimmern und betreiben Politik. Mit so langweiligen Personen gibt sie sich ganz gewiss nicht ab.

 

Langsamer Walzer. Der Herr steht nicht auf der Tanzkarte, Dorothee darf nicht ablehnen, denn die aufsichtführende Großtante nickt, wenn auch skeptisch.

„Eins zwei drei, Holzhackerei“, skandiert das Komtesschen heimlich. Und sie biegt sich nicht zurück, stolpert mit und hält ihrem unerwarteten Tänzer endlich ungerührt die Hand zum Kuss hin.

Großartig, wie schwungvoll sie sich mit einem nur angedeuteten Knicks von ihm wegdreht, so muss man eine Schleppe erst mal werfen können! Tantchen hin und her. Es ist ihr Abend. Ihr Ball. Und die Tanzkarte ist noch lange nicht abgetanzt.

 

Die Großtante hält durch bis nach vier Uhr früh, denn sonst wäre Dorothee vielleicht doch mit einem der Leutnants … Mulatschak mit Zigeunermusik. Wohin das führt, weiß man ja, Liebeskummer ist das harmloseste Übel. Und ist nicht ganz Wien unzurechnungsfähig in dieser Zeit?

 

„Herr von Würdelen hat sich in Dorothee verguckt“, verkündet sie am nächsten Mittag zum Frühstück und legt sich ein lauwarmes, buttriges Kipferl auf den Teller.

„Eine gute Partie“, nickt der Papa anerkennend.

Dorothee ist entsetzt: “Der ist viel zu alt und viel zu steif!“

„Was heißt alt? Du bist siebzehn und er ist fünfunddreißig. Das ist doch höchst passend“, anwortet die Mama.

„Ich war auch nicht viel jünger, als ich deinen Vater heiratete. Aber: Ich liebte ihn – sehr sogar. Und das bis heute.“

„Das Kind hat doch noch reichlich Zeit“, besänftigt die Großtante.

„Und sie hat es gar nicht nötig, den ersten besten zu nehmen.“

Papa gibt erleichtert nach, er kann sich seinen Wirbelwind beim besten Willen nicht als Ehefrau vorstellen.

 

Der Kongress dauert, Dorothee tanzt und tanzt. Mehr will sie gar nicht. Sie lächelt wohlerzogen, macht diffuse Versprechungen und legt sich ganz und gar nicht fest. Niemals wird sie sich einfangen lassen! Sie lässt sich die Hand küssen, manchmal sogar die Schulter, auch den Halsansatz, schlägt die Augenlider nieder, verschenkt freigebig kleine Locken ihres Haares, nickt ernsthaft zu den Äußerungen der „Alten“ – und denkt sich ihr Teil. Höchst unzüchtig übrigens.

 

Das leise Geschwätz – vor allem der alten Damen – ist in jeder Hinsicht äußerst lehrreich. Unter anderem, wie man echte Tränen vergießen kann, ohne dass die Schminke leidet. Bezaubernd weinen will gelernt sein! Wie man dem richtigen Mann im passenden Moment ohnmächtig in die Arme sinkt und sich anständig wiederbeleben lässt. Und auch sonst noch Einiges, was, na ja, besser unerwähnt bleibt. Sie jedenfalls wird sich hüten, über dem linken Mundwinkel ein Schönheitspflästerchen zu platzieren. Womöglich in Herzform! Niemand hat je behauptet, dass Dorothee nicht intelligent sei.

 

Herr von Würdelen spricht bei den nicht abgeneigten Eltern vor. Ein Albtraum!

„Kindchen, dann benimmst du dich eben etwas daneben“, rät die Großtante dem schluchzenden Häuflein Elend. Wie sehr und wie genau, hat sie nicht erklärt. Musste sie auch nicht.

 

Dorothee macht sich also besonders schön zurecht, nimmt lächelnd das glitzernde Angebinde an und eröffnet punktgenau zart errötend: „Ach, Herr von Würdelen, ich bin ja so dankbar, so unendlich dankbar, dass Sie mir Ihre Hand reichen wollen. Aber, nicht wahr, bevor wir uns verloben, wollen wir doch recht ehrlich miteinander sein. Das gebietet uns der christliche Glaube. Wir dürfen einander niemals etwas verheimlichen.“

 

Herr von Würdelen ist entzückt. Genauso wünscht er sich seine Braut. Rein und bescheiden. Kaum zu glauben, dass dies das muntere junge Mädchen ist, das er ganz gegen seinen Willen begehrt.

 

„Wollen Sie beginnen oder soll ich?“, fragt Dorothee zaghaft und lässt sich zu seinen Füßen nieder, großzügige Einblicke in ihr Dekolleté zulassend. Natürlich weiß sie, dass nicht nur ihre wohlgeformten Beine durch die zarte Seide des Morgenkleides mehr ent- als verhüllt werden.

„Ich werde wohl mehr zu beichten haben als Sie“, lächelt er jovial. „Also beginnen Sie nur.“

 

„Herr von Würdelen, Felix, ich darf Sie doch Felix nennen? Sie müssen mir versichern, dass Sie mir verzeihen. Unbedingt müssen Sie mir das versichern! Und schweigen müssen Sie! Versprechen Sie mir das! Bei Ihrer Ehre!“, beginnt sie wirkungsvoll zu schluchzen und vollends auf den Teppich zu sinken. Kräftig umklammert sie seine rechte Wade mit beiden Händen und wendet ihm das tränenüberströmte Gesichtchen zu:

„Ich … ich … ich kann es gar nicht aussprechen. Die Eltern wissen ja von nichts. Felix, Sie werden mich heiraten, ja? Bitte! Lassen Sie uns schnell heiraten! Ganz schnell!“

 

Den Rest denkt sich Herr von Würdelen und verabschiedet sich schleunigst; die kostbare Brosche vergisst er und bucht sie später unter „Lehrgeld“ ab. Nicht ungestraft lässt man sich mit einem so quecksilbrigen Komtesschen ein.

 

„Er wird den Teufel tun und über seine Blamage sprechen“, kommentiert die Großtante, legt den Finger auf die Lippen: „Du aber auch nicht. Oder bist du wirklich … ?“

 

Dorothee tanzt. Die Schmucksammlung wird größer.

Tantchen nennt das: „Das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden.“

Die braven Eltern aber können sich nicht erklären, warum ihre schöne Tochter stets im entscheidenden Moment abgelehnt wird. Sie müsse irgendeinen geheimen Makel haben, wird hinter den Fächern der Salondamen geraunt. Ein so gut erzogenes Kind aus so guter Familie, was für eine Tragödie!

 

Dorothee jedoch kennt mittlerweile auch die Vorteile der „unerträglichen Migräne“, die einen von Zeit zu Zeit ganz unvermutet heimsucht. Vor allem dann, wenn unliebsame Gespräche oder Besuche anstehen. Geheilt wird dieser Schmerz in dem kleinen Jagdpavillon des väterlichen Anwesens. Großen Anteil daran hat Georg, der Sohn des Nachbargutes.

 

„Wie kann ich eine Frau heiraten, die so viel lügt, wie du?“

„Aber ich lüge doch nur deinetwegen.“

Diesen ganz besonderen Augenaufschlag beherrscht sie seit längerer Zeit problemlos.

„Und“ Kuss, „woher“ Kuss, „soll ich“ Kuss, „das wissen?“ Kuss.

„Das wirst du nie wissen“, kuschelt sich Dorothee zufrieden an ihn, und sofort muss die Migräne erneut geheilt werden.

 

Niemand, auch Georg nicht, wird ihr jemals irgendetwas vorschreiben dürfen. Niemals.