Von Andreas Schmeling

Dumpf drangen die Huftritte und das Geklapper der Kutschenräder durch unsere Fenster im ersten Stock. Der typische Londoner Nebel hing schwer über der Stadt. Mein Freund Shamlock Halmes hatte sich seit Tagen in seine eigene Welt verkrochen. Er spielte auf der Geige, starrte Löcher in die Wand und aß keinen Bissen. Wie jeden Vormittag studierte ich die Times. Im Lokalteil fand ich schließlich die Mitteilung, die der Auslöser dieses mysteriösen Falles wurde. Noch heute, viele Jahre später, läuft mir ein kalter Schauder über den Rücken, wenn ich an die Ereignisse zurückdenke.

 

Ich las in der Times die Meldung, dass sich der berühmte Trompeter Dizzy Grillspiel gestern Abend im Cotton Club einfach in Luft aufgelöst hatte. Er spielte gerade vor großem Publikum – so groß das Publikum im kleinen Cotton Club eben sein konnte – als es plopp machte und Dizzy urplötzlich verschwand. Zufällig war ein Reporter der Times anwesend, so dass der Leser nun umfänglich über die Ereignisse aufgeklärt wurde. Allerdings gab es nicht allzu viel aufzuklären, denn auch die Polizei stocherte im Dunkeln.

„Halmes“, sagte ich ohne große Hoffnung auf eine Reaktion seinerseits, „hören Sie bitte einmal, was sich gestern Abend im Cotton Club zugetragen haben soll“. Ich las den Artikel vor und war erstaunt, dass mein Freund offensichtlich konzentriert zuhörte.

Als ich geendet hatte, legte Halmes seine geliebte Geige vorsichtig in den Kasten, starrte noch eine Weile ins Leere und sagte schließlich ganz leise: „Er ist wieder da!“.

„Schnell Watson, kommen Sie“, rief er und war schon in Hut und Mantel aus der Zimmertür. Er rannte die Treppen unseres Hauses in der Abbey Road 221b herunter und stoppte eine Droschke auf der Straße. Nur mit Mühe konnte ich ihm folgen und erwischte ihn erst als er sie bereits bestiegen hatte und den Kutscher anbrüllte: „Cotton Club, Beeilung!“.

In rasender Fahrt ging es durch die engen Straßen von London und wir erreichten endlich den Cotton Club in einer der übelsten Ecken von Soho. Wir kletterten aus der Kutsche und entdeckten Inspektor Lestrand nervös die Straße auf- und abgehend.

„Oh Halmes…gut, dass Sie kommen“, begrüßte uns der sichtlich übernächtigte Inspektor. Halmes stieß ihn zur Seite und stieg ohne ein weiteres Wort die sieben Stufen zum Cotton Club hinunter.

Ich entschuldigte mich bei Lestrand für das ungebührliche Verhalten meines Freundes und folgte ihm in die Lasterhöhle. Unten empfing mich der Geruch von altem Holz, Möbelpolitur, verschüttetem Bier und kaltem Zigarrenrauch. Ich musste unweigerlich husten und suchte Halmes, den ich schließlich in einer dunklen Ecke neben der kleinen Bühne fand. Halmes war in seinem Element. Er zupfte hier, er prüfte dort. Las einen kurzen, roten Faden vom Boden auf und untersuchte ihn gründlich mit seiner Lupe. Ich wusste, dass man ihn in der Zeit der Spurensichtung besser nicht ansprechen sollte. Ich setzte mich also auf einen wackeligen Holzstuhl und wartete geduldig. Nach einer knappen Stunde war es dann endlich soweit: Halmes hatte seine Untersuchungen abgeschlossen und kam mit Angst im Blick auf mich zu. So kannte ich ihn nicht, denn sein analytisch-scharfer Verstand ließ normalerweise keine Gefühle zu. Angst war ihm vollkommen fremd. Umso erstaunter war ich nun, ihn in diesem Zustand vorzufinden.

Bleich und mit zittriger Stimme sprach er mich an: „Wie ich es schon befürchtet hatte mein lieber Watson: Er ist wieder da. Luis Sieverz hat seine Spuren hinterlassen.“

„Luis Sieverz?“, fragte ich, „nie gehört. Muss ich diesen Menschen kennen? Mir sagt der Name nichts.“

„Pah“, baffte Halmes, „Sie und ihre beschränkte Weltsicht! Wie ich Sie manchmal darum beneide. Mein eigener scharfer Verstand sieht und durchschaut ständig Dinge, die Ihnen in Ihrer Unaufmerksamkeit ewig verborgen bleiben. Denken Sie nur an den Fall mit der Katze von Baskerville und meine grandiose Problemlösung. Wie ich damals schon zu Ihnen sagte…“

Während Halmes noch weiter über seinen phantastischen Verstand sinnierte, gesellte sich Inspektor Lestrand zu uns. „Nun Halmes“, fragte er, „haben Sie schon eine Idee?“

„Und ob“, Halmes nickte, „und ob! Dizzy Grillspiel ist der wievielste Musiker, der verschwunden ist?“

Der Inspektor wurde bleich: „Woher… woher wissen Sie das Halmes?“

„Nun, ich entdeckte einen roten Adrian-Faden und das Ei des Kakadus. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Wieviele?“

Lestrand nahm die Finger zu Hilfe und zählte auf: „Glenn Müller – verschwunden in der Karniggel-Hall. Hellen Fish – weggeploppt am Themseufer während eines Polka-Singfestes und Phil Collier – von der Bühne verschwunden als das Orchester Deuteronomium gerade ein Konzert unter freiem Himmel gab.“

Kaum hatte Halmes dies gehört als er wieder wortlos an mir vorbei aus dem Lokal stürzte. Ich verabschiedete mich noch kurz vom Inspektor und eilte meinem Freund hinterher. Draußen sah ich gerade noch, wie er hinter einer Häuserecke verschwand. Ich nahm meine alten Beine in die Hand und lief ihm hinterher. Ein paar Ecken weiter hatte ich ihn endlich eingeholt. Er stand mitten auf der Elm Street und schaute sich nervös die Häuser an. Mit den Worten „Das ist es“ stürmte Halmes auf ein altes Haus zu, welches offensichtlich seit Jahren unbewohnt war. Ich folgte ihm und entdeckte ein verrottetes Namensschild, das leise mit Wind hin- und herschaukelte. Wir betraten das Haus von Freddy Quinn-Kruger, nachdem Halmes die Tür mit einem kurzen Tritt aufgestoßen hatte.

Drinnen war es dunkel und es roch muffig. „Halmes, was machen wir hier und was hat das mit dem Fall der verschwundenen Musiker zu tun?“, fragte ich immer noch ganz außer Atem.

Halmes’ scharfe Augen und die kantige Hakennase fixierten mich wie ein Falke sein Opfer. „Haben Sie das immer noch nicht begriffen mein lieber Freund? Wir jagen die Zombie-Kombo. Luis Sieverz, der Teufel selbst, stellt sich gerade eine Musik-Gruppe aus Untoten zusammen. Vielleicht können wir sie noch retten!“

Ich konnte nicht glauben, was ich eben gehört hatte. Aber ich wusste, dass Halmes keinen Sinn für Humor und Scherze hatte. Die Sache mit der Zombie-Kombo war also todernst – im wahrsten Sinne des Wortes!

Shamlock Halmes machte sich am Eingang zum Keller zu schaffen, während ich eine Blendlaterne entzündete, die ich zum Glück hinter einem Duschvorhang (Modell Bates) fand. Als Halmes die Tür endlich aufgebrochen hatte, stiegen wir im flackernden Licht der Laterne die Kellertreppe hinunter. Einige Zeit später endete die Treppe und wird standen in einem niedrigen Kellergewölbe. Die alten Steine fühlten sich schmierig-feucht an, und der Lehmboden schimmerte unirdisch Rot. Wir hörten aus der Ferne Musik und gingen den Gang in jene Richtung weiter. Nach einiger Zeit erreichten wir einen kleinen Raum, in dessen Ecke die Musiker spielten. Dizzy Grillspiel war vertieft in sein Trompetenspiel; mit jedem Ton erfand er den Freejazz neu. Glenn Müller swingte durch den Raum und dirigierte ein uns unsichtbares Orchester. Phil Collier schlug währenddessen auf eine große Pauke ein. Der Rhythmus passte aber weder zur Trompete noch zum imaginären Orchester. Hellen Fish krakeelte atemlos eine Polka und vervollständigte damit diese Kakophonie des Grauens.

Ich hielt mir die Ohren zu, ob dieses jammervollen Spektakels. Dabei blickte ich in die blassen, doch zum Glück noch lebendig wirkenden Gesichter der Musiker. Lediglich ihre leeren Augen starrten mich an als wollten sie mir die Seele rauben.

Hinter den Musikern tauchte plötzlich ein alter Mann mit rosa Bademantel und aalglattem Gesicht auf. Er wirkte uralt und hatte doch noch nicht eine Falte. Statt Füßen hatte er Hufe, die allerdings in Plüschhasen-Pantoffeln steckten. Obwohl diese absonderliche Gestalt eher lächerlich wirkte, machte sie mir unendliche Angst, da etwas abgrundtief Böses von ihr ausging.

„Oh, Besuch“, grinste der merkwürdige Mann im Bademantel und nahm einen kräftigen Schluck aus der Botoxflasche in seiner Hand. Die Musiker hörten auf zu spielen und drehten roboterhaft ihre Köpfe in seine Richtung als würden sie auf einen Befehl warten.

Plötzlich riss Halmes ein Kruzifix aus der Tasche seines Tweedmantels. Ich erkannte das geweihte Kreuz, welches er einmal von einem gewissen Herrn John Sinnklar bekommen hatte. Shamlock richtete das Kreuz auf den alten Mann und murmelte ein paar mir unverständliche Worte. Der Bademantelträger öffnete entsetzt die Augen, es machte fupp und er verschwand. Sofort löste sich die Starre der Musiker und sie blickten sich verwirrt um.

Gemeinsam mit ihnen machten wir uns auf den Weg nach oben. Die Musiker dankten uns und verschwanden im dichten Londoner Nebel. Von irgendwo wehte ein hysterisches Lachen zu uns herüber und ich glaubte, die Silhouette des alten Mannes im Bademantel zu erkennen.

Shamlock Halmes und ich fuhren mit einer Droschke nach Hause und informierten Inspektor Lestrand darüber, dass der Fall gelöst sei.

Soweit ich gehört habe, entwickelte sich Dizzy Grillspiel zu einem begnadeten Trompeter. Glenn Müller fand schließlich ein richtiges Orchester und Phil Collier spielte ebenfalls später in einer Musikgruppe, die er aber nicht Deuteronomium nannte, sondern nach einem anderen Buch der Bibel. Vielleicht eint alle drei Musiker, dass sie als teuflisch gut auf ihren Feldern gelten. Ein interessanter und wortwörtlich zu nehmender Aspekt, der mir erst jetzt bewusst wird, während ich diese Zeilen schreibe.

Über den Verbleib von Hellen Fish ist nichts bekannt. Aus welchem Grund sie für die Zombie-Kombo auserwählt wurde, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Welchen Plan der Teufel in Gestalt von Luis Sieverz auch immer mit ihr verfolgt: Seien Sie gewarnt, falls Sie einmal einer Hellen Fish begegnen. Wie so oft steckt der Teufel womöglich im Detail.