Von Marcel Porta

Bevor ich über das alles entscheidende Experiment berichte, muss ich ein wenig ausholen, damit verständlich wird, welche Bedeutung der Ausgang des Versuchs für die Zukunft der Menschheit und des ganzen Planeten hatte.

Seit den letzten Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde heimlich über eine der Kernfragen der Menschheit geforscht. Hatten in der Vergangenheit sich hauptsächlich Philosophen des Themas angenommen, waren jetzt Wissenschaftler daran gegangen, sich der Sterblichkeit des Menschen anzunehmen. Mit dem erklärten Ziel, sie zu beenden. Nicht für alle, selbstredend, sondern für eine Elite. Zu der sich die beteiligten Wissenschaftler selbstverständlich rechneten. Schnelle Erfolge waren nicht zu erwarten, denn es gab eine Tatsache, die einer Erforschung der Ursachen der Sterblichkeit im Wege stand. Kurzlebige Lebewesen mit einer schnellen Generationenfolge versprachen eine gute Erforschbarkeit, doch leider waren diese Lebewesen genetisch so weit vom Menschen entfernt, dass die Ergebnisse sich nicht auf Primaten übertragen ließen. Der Mensch war eben keine Drosophila und kein Bakterium.

 

Also galt es, eine Akzeleration des Alterns bei Primaten zu erreichen, die den Alterungsprozess nicht veränderte, sondern nur beschleunigte.

Zum Glück stellte sich heraus, dass es viel leichter war, die Lebensdauer einer menschlichen Zelle künstlich zu verkürzen, als sie zu verlängern. Die Geldgeber dieses Projektes waren superreich, superwichtig – jedenfalls hielten sie sich dafür – und extrem skrupellos. So kann es nicht verwundern, dass keine Affen mit kurzlebigen Zellen gezüchtet wurden, sondern … Menschen. Heimlich natürlich, denn die ethischen Fragen, die dadurch aufgeworfen wurden, hätten bei jeder Klärung durch unabhängige Instanzen zu einem sofortigen Stopp der Arbeit geführt.

Ende des ersten Jahrzehnts in diesem Jahrhundert war es gelungen, Menschen zu züchten, deren Zellen sich so schnell verbrauchten, dass sie in einem Erdenjahr um 30 Jahre alterten. Diese Wesen – von den beteiligten Wissenschaftlern Akzel genannt – starben im Kindesalter als körperliche Greise.

 

Eine Akzeleration liegt vor, wenn die individuelle Entwicklung einer Person im Vergleich mit der jeweiligen Altersgruppe, in der sie sich befindet, vorverlagert oder beschleunigt ist. Das traf auf die Population der Akzel hundertprozentig zu, daher ihr Name. Einen individuellen Namen bekamen die einzelnen Akzel nicht, da man sowieso mit ihnen nicht kommunizieren wollte und es einfacher für die eigene Psyche war, wenn man die zu Beginn wie normale Babys aussehenden Wesen nicht als Menschen wahrnahm, mit denen eine Kommunikation möglich gewesen wäre. Zudem sahen die etwas gealterten Akzel so absonderlich aus, dass es erhebliche Überwindung gekostet hätte, sich mit solch einem Wesen auf emotionaler oder gar intellektueller Ebene auseinanderzusetzen. So vegetierten die Akzel vor sich hin und dienten ausschließlich der Erforschung der Vorgänge bei der Zellalterung.

 

„Wir werden nicht warten, bis wir das Endziel der Unsterblichkeit erreicht haben“, entschied der erste Vorsitzende, als erwähnenswerte Erfolge zu verzeichnen waren, „sondern werfen schon mal Präparate auf den Markt. Unser Einsatz soll sich doch auch lohnen.“

 

Mit den neuartigen Langlebigkeitspräparaten gelang es, die Lebensspanne der Menschen fast zu verdoppeln, und der Gewinn der beteiligten Geldgeber schoss in astronomische Höhen.

Je älter der erste Vorsitzende wurde, desto mehr drängte er auf weitere Erfolge.

„Meine Herren“, beschimpfte er die versammelten Wissenschaftler eines Tages, „sie verbrauchen Unsummen an Geld und liefern seit Jahren nichts mehr. Das muss umgehend anders werden.“

Natürlich verstand jeder seine Beweggründe, doch zaubern konnten auch die Wissenschaftler nicht.

 

Richtig Fahrt nahm die Forschung jedoch wieder auf, als es mittels Gentechnik gelang, Superakzel zu züchten, die ihr Lebensende bereits nach Tagen erreichten. Jeder mehr als eine Woche alte Superakzel erhielt den Beinamen Methusalem. Die umgerechnete Lebensspanne eines Methusalems überstieg zweihundert Jahre und wurde nur dank der bereits entwickelten Medikamente erreicht.

 

Noch immer war von diesen Forschungen dank strikter Geheimhaltung und surreal anmutender Bezahlung der beteiligten Forscher nichts an die Öffentlichkeit gelangt.

Es klingt paradox, doch so, wie bei der Erforschung der Geschichte des Weltalls der Blick mittels gigantischer Maschinen ins Innere der Atome den Durchbruch brachte, bedeutete die Erforschung des Alterungsprozesses extrem kurzlebiger menschlicher Zellen die wichtigsten Erkenntnisse über die Verlängerung der Lebensdauer normaler menschlicher Zellen, also der Verlängerung unseres Lebens.

Doch genug der Vorgeschichte, kommen wir nun zu dem entscheidenden Experiment.

 

„Meine Herren“, führte der Wissenschaftsratsvorsitzende aus, „vor einigen Jahren ist es einem jungen Mann gelungen, Oszillationen zu erzeugen, die bis zur Planckzeit beschleunigt werden können. Wir werden nun einen Superakzel für eine Sekunde dieser Oszillation aussetzen. Der Berechnung unserer Mathematiker zufolge sollte dadurch die Wirkung der verabreichten Medikamente potenziert werden. Wir verwenden dazu einen Methusalem, der im Normalfall noch etwa eine Stunde zu leben hätte. Wir werden also schnell wissen, ob dieses Verfahren den beabsichtigten Effekt hat.“

 

Sogar der erste Vorsitzende war gekommen, um das Experiment zu beobachten. Es verlief völlig unspektakulär. Der Methusalem wurde auf die Apparatur gelegt, verblieb dort kurz und wurde dann wieder in sein Bettchen gepackt. Hunderte von Augenpaaren beobachteten über den Monitor seine Brust, die sich hob und senkte. Als nach zwei Stunden immer noch kein Ende der Bewegung festzustellen war, begann der erste Vorsitzende zu klatschen und alle anwesenden Wissenschaftler fielen in den Applaus ein.

„Meine Herren, ich gratuliere Ihnen. Sie haben wirklich Außerordentliches geleistet. Ich möchte unverzüglich unterrichtet werden, wenn der Methusalem das Zeitliche segnet. Jeder von Ihnen erhält pro Tag, den der Methusalem noch lebt, ein Monatsgehalt extra.“

Mit diesen Worten verschwand der erste Vorsitzende und ließ euphorische Wissenschaftler zurück. Noch nie waren sie so von ihm gelobt worden. Und die Aussicht auf das Zubrot war schließlich auch nicht zu verachten.

 

Noch ganze vier Wochen lebte der Methusalem, was einem Alter von fast 1000 Jahren entsprach.

Eine Sekunde bei einem Superakzel entsprach ungefähr einer Stunde bei einem normalen Menschen. So lange musste also ein mit den Medikamenten vollgepumpte Mensch der Oszillation ausgesetzt werden. Ob und wie sich das beim Menschen auswirken würde, war nicht geklärt, da das Verfahren erst vor Kurzem entdeckt worden und der junge Erfinder unauffindbar verschwunden war.

„Meine Herren, niemand wird etwas dagegen haben, wenn das Privileg der ersten Lebensverlängerung nach dem neuen Verfahren mir gewährt wird. Liege ich damit richtig?“, fragte der erste Vorsitzende und das kollektive Nicken war teuer erkauft und nicht verwunderlich.

 

„Sollten wir nicht auf die Risiken hinweisen, die damit verbunden sind? Wir wissen doch buchstäblich nichts über das Oszillationsverfahren“, meinte einer der Wissenschaftler bei der Vorbereitung der Versuchsanordnung.
„Pah, was kann schon passieren? Wir wissen doch aus den Aufzeichnungen des Erfinders, dass es ungefährlich ist. Wir müssen nur aufpassen, dass der erste Vorsitzende uns nicht davonfliegt“, konterte ein anderer und grinste breit. „Der erste Vorsitzende wird niemandem anderen gönnen, vor ihm eine Lebensspanne von mehr als tausend Jahren zu erreichen.“

Selbst der Wunsch, nicht eine Stunde, sondern einen ganzen Tag dieser Oszillation ausgesetzt zu werden – ganz nach dem Motto: Viel hilft viel – ließ keine Alarmglocken schrillen, die das Ohr des ersten Vorsitzenden erreicht hätten. Niemand wollte ihm mit Unkenrufen das Spiel vermiesen. Es war zu gut bekannt, wie cholerisch er werden konnte, wenn es nicht nach seinen Vorstellungen lief.

 

„Meine Herren, ich fühle mich lebendig wie nie zuvor“, beendete der erste Vorsitzende fast euphorisch seine Rede an die versammelten Wissenschaftler, festgeschnallt auf der Apparatur, die ihn mit ihren superschnellen Schwingungen fast unsterblich werden lassen sollte. Er selbst drückte den Knopf, der das Prozedere startete. Das wollte er sich nicht nehmen lassen, auch wenn es einen Umbau der Apparatur erfordert hatte.

 

Es gab keine sichtbaren Auswirkungen, als der Knopf gedrückt war, und die Anspannung wich aus den Gesichtern einiger Wissenschaftler, die ihre Bedenken zwar verschwiegen, nicht jedoch aufgegeben hatten. Natürlich würde der Erfolg der Behandlungsmethode sich erst in vielen Jahren zeigen, doch das Experiment mit dem Methusalem war derart erfolgreich verlaufen, dass niemand an den gewünschten Effekten zweifelte.

 

Geduldig saß der erste Vorsitzende schweigsam und mit glücklichen Augen auf seinem bequemen Sessel. Noch nie hatte er so lange untätig stillgehalten, doch hier handelte es sich um die wichtigste Phase in seinem ohnehin schon langen Leben.

Die Uhr an der Wand tickte nicht, doch sie zeigte die verstrichene Zeit auf die hundertstel Sekunde genau. So konnte man später exakt feststellen, wann der erste Vorsitzende verschwunden war. Es war nach 3,1415 Stunden. Es gab keinen Knall und keine sonstige messbare Reaktion, außer dass er nicht mehr da war. So oft man sich die Aufzeichnungen auch anschaute, er verschwand einfach vom Bildschirm.

 

Erst viel später kam einer der Wissenschaftler auf die Idee, sich die Aufzeichnungen des jungen Erfinders noch einmal gründlich anzusehen und er las die alles erklärenden Sätze: Das Ziel der ursprünglichen Versuchsanordnung war es gewesen, das Versuchsobjekt – in diesem Falle den ersten Vorsitzenden – in die Zukunft zu katapultieren. Und genau das war nach einer hinreichend langen Oszillation passiert. Eben dies war wohl auch dem unauffindbaren Erfinder widerfahren. Ein Schicksal, das man sich nicht auszudenken wagte.

 

 

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© Marcel Porta, 2018