Von Denise Fiedler

Dunkel schlängelte sich der Fluss durch die Landschaft, umsäumt von Brombeerhecken. Die Pfeiler der Brücke vermochten ihn nicht stoppen. In der Ferne zogen Autos vorbei.

Heimat hat etwas Vertrautes, aber auch einen fahlen Beigeschmack, wenn sie mit Schuld belastet ist.

Das Notizbuch wog schwer in Thomas Hand. Das Buch, das er an dieser Stelle gefunden und all die Jahre aufbewahrt hatte, vollgekritzelt mit kindlichen Skizzen und abstrakten Schriftzeichen. Lesbar war nur der Name auf der ersten Seite, in der geschwungenen Handschrift einer Frau.

Hannes Meier.

*

Immer wenn Thomas sich an Hannes Meier erinnerte, stand dieser auf einem Baumstumpf. Die Haare zerzaust, als hätten seine Hände zuvor noch darin rumgewühlt, die Arme weit ausgebreitet, den Blick Richtung Himmel.

»Was machst du da?«

»Ich versuche zu fliegen.«

»Menschen können nicht fliegen!«

»Superman kann es.«

»Superman ist ein Außerirdischer, der kann nur fliegen, weil die Schwerkraft auf seinem Planeten anders ist.«

Hannes kratzte sich am Kopf. »Woher weißt du das?«

Thomas zeigte auf ein aufgeschlagenes Comic am Fuße des Baumstumpfs. »Steht alles da drin.«

Hannes stieg runter und blätterte in dem Comic. »Bist du dir sicher?«

Thomas nickte.

»Das bedeutet also, dass ich nur die Schwerkraft überwinden muss.« Er zog ein Notizbuch aus der Hosentasche und kritzelte etwas hinein. Er bemerkte Thomas Blick und schlug es schnell zu. »Geheimsache.«

Thomas zuckte mit den Schultern und ging weiter.

»Wo gehst du jetzt hin?«, rief Hannes hinterher.

»Zu meinen Freunden, wir wollen Fußball spielen.«

»Kann ich mit?«

Wieder Schulterzucken.

Eine Weile liefen sie still nebeneinander her.

»Warum willst du denn fliegen können?«, fragte Thomas schließlich.

»Nur so.« Hannes sah dabei auf seine Schuhspitzen.

*

Paul und Simon warteten am Sportplatz. Pauls Knie waren bereits von der Asche ganz rot. Als er Hannes sah, ging er auf Thomas zu und nahm ihn zur Seite. »Spinnst du, den Irren mitzubringen?«

»Der ist mir einfach hinterhergelaufen. Lassen wir ihn mitspielen. Der wird eh keinen Spaß daran haben.« Er wand sich aus Pauls Griff und ging zu den anderen.

Nachdem Hannes ein paar Pässe vermasselt hatte, setzte er sich an den Rand und schrieb in sein Notizbuch.

»Was schreibst du da?« Paul kickte den Ball Richtung Tor.

»Nichts. Geheimsache«, antwortete Hannes.

»Hannes möchte fliegen«, sagte Thomas.

»So, wie ein Vogel?« Simon kam näher.

»Eher, wie Superman.«

Paul und Simon lachten. Thomas bemerkte Hannes’ Blick und wich ihm aus.

Paul riss Hannes das Buch aus der Hand und blätterte darin. »Was soll das sein, eine Art Geheimschrift?«

Blitzartig errötete Hannes, sprang auf und schnappte nach dem Buch. Es flog rüber zu Simon, dann wieder zurück zu Paul, schließlich landete es in Thomas Hand. Er drehte sich um und gab es Hannes. Ohne ein Wort rannte der Junge davon.

»Spielverderber!« Paul verzog das Gesicht.

»Ich habe keine Lust auf so ’nen Kinderkram, lasst uns wieder Fußball spielen.« Thomas ging zum Tor.

*

Immer wieder blickte er über seine Schulter, aber es war niemand zu sehen. Er drückte den Klingelknopf und wartete, das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagernd.

Frau Meier öffnete, sie war hübsch, sah aber auch irgendwie traurig aus. »Hallo?«

»Hallo.« Er räusperte sich.

»Möchtest du zu Hannes?«

Nicken.

Ihr Gesicht erhellte sich, sie trat zur Seite und bat ihn herein. »Hannes ist oben in seinem Zimmer.«

Er zögerte, bevor er eintrat und die Treppe hochstieg. Die Zimmertür war geschlossen, er klopfte.

Hannes saß an seinem Schreibtisch, das Notizbuch zugeschlagen vor sich. Als er Thomas sah, hob er die Augenbrauen.

»Du hast dein Comic liegenlassen.« Er griff nach hinten und zog das Heft aus seinem Hosenbund.

»Danke.« Hannes ließ ihn nicht aus den Augen.

Thomas nickte wieder nur, er rieb seine Handflächen an der Hose ab und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, es unterschied sich nicht sehr von seinem Zimmer. »Es tut mir leid, dass die anderen dich geärgert haben.«

»Schon gut.«

Thomas wippte hin und her. »Na, dann, bis morgen in der Schule.«

Am Fuß der Treppe stand Frau Meier, sie lächelte. »Es ist schön, dass Hannes einen Freund hat. Das letzte Jahr war nicht leicht für ihn.«

Er verzog das Gesicht zu einem Lächeln und stammelte einen Abschiedsgruß.

*

Der Schuppen hinter Simons Haus war vollgestellt mit allerlei Gerümpel. Sie hatten sich alte Sitzpolster in die Mitte geschoben und lutschten Wassereis.

»Mein Vater sagt, der Hannes ist genauso verrückt wie sein Alter. Der hat sich doch wirklich vor ’nen Zug geschmissen.« Simon schlug die Hände gegeneinander, als würde er das Szenario nachstellen.

»Der alte Hubert meinte, es war wegen der Versicherungssumme, weil er seinen Job verloren hatte.« Paul kratzte sich an der Nase.

Thomas schwieg. Er erinnerte sich, wie seine Mutter danach Frau Meier besucht hatte. Einmal hatte sie ihn mitgenommen, aber Hannes hatte damals nur aus dem Fenster gesehen.

»Warum auch immer, seitdem hat Hannes einen Knacks.« Simon hielt sich den Zeigefinger an die Schläfe und machte eine kreisende Bewegung.

Damit war das Thema fürs Erste erledigt. Thomas war froh darüber. Jedes Mal, wenn er an die Szene auf dem Sportplatz zurückdachte, spürte er ein Ziehen im Magen. Er hatte gewusst, dass sich Simon und Paul lustig machen würden, sobald sie von Hannes’ Wunsch erfuhren, dennoch hatte er es erzählt.

Sie kramten in den Kisten und suchten nach etwas Brauchbarem. Schließlich zog Paul einen vergilbten Karton hervor. Atomic Energy Lab stand darauf.

»Scheiße, ist das echt?«

Paul öffnete den Deckel. »Ist nicht mehr alles drin.«

»Glaubst du, da war wirklich mal radioaktives Zeugs drin?«

Simon zuckte mit den Schultern.

Sie überflogen die englische Aufbauanleitung, verstanden aber kaum etwas. Auf einmal grinste Paul. »Ich habe da eine Idee.«

*

Paul hatte recht gehabt, Hannes war ohne zu fragen mitgekommen, dennoch wirkte er sichtlich nervös, als er mit Thomas vor dem Schuppen stand. »Was ist das für eine Überraschung?«

»Eine echt tolle. Paul und Simon wollen sich damit bei dir entschuldigen.«

Im Schuppen stockte sogar Thomas der Atem. Simon hatte die Regale mit Tüchern abgedeckt. Ein Tisch stand in der Mitte, mit einer kleinen Apparatur darauf, von der mehrere Kabel in einen Behälter führten und von da aus zu einem großen Karton, der mit Silberfolie abgeklebt war. Eine Plasmakugel tauchte alles in bizarres Licht.

Paul kam zur Tür herein, in der Hand hielt er ein Glas, in dem ein Schmetterling flatterte. »Hab nix anderes fangen können«, schnaufte er.

Simon schloss die Tür und Paul stellte sich vor den Tisch, er fixierte Hannes. »Wir wollen dir helfen, fliegen zu lernen.«

Hannes sah fragend von einem zum anderen.

»Ist doch ganz einfach. Steht alles in den Comics.« Simon zeigte auf einen Stapel Hefte. »Man liest immer wieder, dass die Superhelden ihre Kräfte durch Strahlung bekommen.« Jetzt hob er den Karton von dem Atomic Lab hoch. »Wir haben einen Versuchsaufbau gemacht, mit dem wir diesen Schmetterling bestrahlen werden. Danach werden wir dich mit dem Schmetterling in die Versuchskammer stecken. Das wird wie bei Spiderman.«

Hannes hob die Augenbrauen. »Aber Spiderman wurde von einer Spinne gebissen. Können Schmetterlinge überhaupt beißen?«

Simon sah rüber zu Paul, der hob die Hände. »Schmetterlinge können nicht beißen, aber die haben diesen Staub auf den Flügeln, der wird auch bestrahlt.«

»Und ihr glaubt wirklich, dass das funktioniert?«

Jetzt schaltete sich Thomas dazwischen. »Was soll schon passieren? Im schlimmsten Fall passiert gar nichts und wir starten einen neuen Versuch.«

Einen Moment überlegte Hannes, schließlich legte er den Kopf schief und nickte.

Paul packte den Schmetterling in den kleinen Behälter. Simon half Hannes in den Karton, danach verschloss er diesen mit Klebeband. Paul drückte einen Knopf an der Apparatur und ein Surren, wie der eines Nagelschleifers, erklang.

»Passiert schon etwas?« Hannes’ Stimme klang gedämpft.

»Der Schmetterling ist gleich soweit. Achtung, ich öffne jetzt die Schleuse.« Mit Schleuse meinte Simon ein Papprohr, das in den Deckel des Kartons eingelassen war. Er schüttelte das Glas mit dem Insekt, damit dieses etwas betäubt wurde, und stülpte es über das Rohr.

»Scheiße, was passiert da?«, rief Paul. Er konnte das Lachen kaum unterdrücken.

»Was ist los?«, klang es gedämpft zurück.

»Die Versuchskammer leuchtet!«

Thomas und Simon stellten sich jeder auf eine Seite und rüttelten an dem Karton. Hannes schrie erschrocken auf. Er drückte von innen gegen den Deckel, Simon lehnte sich von außen darauf.

»Abbrechen, abbrechen!«, schrie Paul.

Simon riss das Klebeband ab, der Deckel sprang auf, mit ihm flog Simon nach hinten und landete auf den Sitzauflagen.

Mit aufgerissenen Augen starrte er auf Hannes. »Wie hast du das gemacht?«

Hannes, genauso verblüfft, starrte zurück. »Ich weiß nicht, ich habe nur dagegen gedrückt.« Irritiert sah er auf seine Hände.

»Du bist jetzt der Schmetterlingsmann.« Ehrfurcht schwang in Pauls Stimme mit.

*

Der alte Hubert hatte ihn springen sehen. Als er auf der Brücke ankam, lag nur noch Hannes’ Rucksack dort. Ein paar Tage später wurde flussabwärts ein Schuh angespült. Beerdigt wurde ein leerer Sarg.

Bei einem Streifzug entdeckte Thomas das Notizbuch, eingeklemmt zwischen zwei Steinen.

Frau Meier kam irgendwann vorbei und drückte ihm die Comicsammlung in die Hand. »Er hätte gewollt, dass du sie bekommst.« Sie war in Tränen ausgebrochen. »Ich habe so gehofft, dass er ins Leben zurückfindet, raus aus seiner Fantasiewelt. Er konnte kaum lesen, hat deshalb eine eigene Schrift erfunden.«

In diesem Moment hatte er ihr das Buch geben wollen, doch kam es ihm damals vor, wie ein Schuldgeständnis. So wurde es zu seinem persönlichen Mahnmal. Jetzt war Hannes’ Mutter tot. Er würde nie mehr die Hand von ihrem Klingelknopf wegziehen und mit der Last in seiner Brusttasche wieder gehen können.

Ein kleiner Schatten lenkte Thomas Blick vom Fluss weg. Der Schmetterling landete auf dem Notizbuch.

Als Kind hatte er oft wach im Bett gelegen und sich vorgestellt, ihr Experiment wäre geglückt.

Irgendwo flog der Schmetterlingsmann.