Von Eva Fischer

„Hi! Ich bin der Andy. Schön, dass ihr euch für diesen Kurs entschieden habt. Ihr werdet es nicht bereuen!“

Ulrich runzelte die Stirn. Er war Mitte 60 und verstand nicht, warum er von wildfremden Leuten gleich geduzt werden musste.

„Ihr seid hier, weil ihr ein Problem habt“, fuhr der flotte Andy fort.

„Ein Problem mit dem Alkohol! Die Mediziner nennen es Sucht, aber das hieße, ihr würdet es so schwer los wie Kaugummi unter den Schuhsohlen. Ich aber sage euch, so ist es nicht! Ihr könnt euer Problem,“-Andy deutete Anführungszeichen in der Luft an- „ihr könnt es so leicht loswerden wie ein bisschen Dreck an eurer Hose.“

Andy klopfte ostentativ auf seine Jeans, aus der sich allerdings kein Staubflöckchen löste, und lächelte gewinnend.

„Dies hier ist ein Experiment, auf das ihr euch eingelassen habt, aber ich garantiere, jeder von euch“-Andy nahm die sechs Kursteilnehmer einzeln ins Visier-„geht nach diesen drei Tagen als Sieger vom Platz.“

Was ist das für ein Quacksalber, dachte Ulrich und bezweifelte, ob er hier richtig am Platze war.

„Zuerst einmal stellt euch vor! Nein, nicht mit eurem amtlichen Namen! Sucht euch einen Namen aus, der euch gefällt, der euch inspiriert, mit dem ihr gern angesprochen werden wollt! Lasst euch ruhig Zeit für eure Entscheidung!“

Andy wandte sich ab und blätterte in seinen Unterlagen.

Wenig später ploppten sechs Namen auf: Sascha, Leonardo, Daniel, Lion, Robin, Ramona.

Ulrich nannte sich Moses. Das Meer der Versuchung wird vor uns zurückweichen, wir werden trockenen Fußes hindurchschreiten, den bösen Häschern des Pharaos für immer entrinnen und  das gepriesene Land finden, wo Milch und Honig fließen, nicht Schnaps und Bier, dachte Ulrich spöttisch.

Nun wurde jeder aufgefordert, über seine Trinkangewohnheiten zu sprechen.

Nachdem bereits literweise Alkohol gebeichtet worden war, gab auch Ulrich seine tägliche Ration, eine Flasche Rotwein, zu.

„Und warum trinkt ihr?“, wollte Andy wissen, und bot gleich darauf selbst mögliche Antworten an.

„Weil es schmeckt? Aus Gewohnheit? Aus Langeweile? Weil ihr euch aus einem unangenehmen Gefühl herauskatapultieren wollt?“

Und weil der Alkohol in jedem Supermarkt griffbereit dasteht, er gesellschaftlich akzeptiert ist, solange man sich an die Regeln hält und man euer Gewäsch manchmal nur vernebelt erträgt, dachte Ulrich.

„Und ich sage euch, ihr seid einem Lügner auf den Leim gegangen!“, fuhr der Guru fort, der  seine Stimme theatralisch gehoben hatte, was ihm den erhobenen Zeigefinger ersparte.

„Der Alkohol verspricht euch Dinge, die er nicht halten kann!

Er verspricht euch, dass ihr schön seid, doch erweiterte Äderchen und eine rote Nase machen euch hässlich.

Er verspricht euch, dass er euch hilft, Probleme zu lösen! Tatsächlich schafft er Probleme, die ihr ohne ihn nicht hättet.

Er verspricht euch, dass ihr coole Helden seid, aber er lässt eure Schritte schwanken und bringt euch zu Fall!

Der Alkohol ist eine Fata Morgana, die euch Wasser in der Wüste vorgaukelt. Es ist jedoch umgekehrt. Ihr lebt in blühenden Landschaften und der Alkohol schickt euch in die Wüste. Was ihr braucht, liebe Freunde, ist eine richtige Sicht der Dinge!“

Wow, dachte Ulrich, der Mann sollte Luxuskarossen verkaufen oder zu den Zeugen Jehovas gehen.

Andy zeigte auf das vor ihm liegende Paket Brillen, wovon er jedem zwei gab.

„Setzt erst mal die grauen Brillen auf!“, ordnete er an.

„Was seht ihr? Richtig, alles verschwommen! So ist euer Blick nach einer Flasche Whisky, zwei Flaschen Wein oder einem Sixpack Bier.“

„Und jetzt setzt die grünen Brillen auf!“

Ulrich fühlte sich wahlweise wie im 3 D Kino oder unter Wasser.

„Jetzt seht ihr glasklar“, befand Andy.

„Ok, was ihr momentan seht, ist vielleicht nicht spektakulär, aber das wird sich ändern, denn morgen werden wir entdecken, wie schön und spannend unsere Welt ist.“

Sascha glotzte Ramona durch seine neue Brille an.

„Ey, Meister, was ich sehe, gefällt mir. Am liebsten würde ich die Lady gleich auf ein Glas Bier einladen.“

„Ich weiß etwas viel Besseres“, sagte Andy.

„Echt?“ Sascha blieb skeptisch.

„Ja, kommt alle mal mit!“

„Alle?“ hallte es erstaunt zurück.

 

Wenig später befanden sie sich in einer Art Disko, besser gesagt in einem schalldichten Raum, wo höllisch laute Musik aus den Lautsprechern tönte und Farbblitze eine bizarre Atmosphäre erzeugten.

„Gebt alles! Lasst eure Wut und eure Lebensfreude raus! Powert euch so richtig aus!“, schrie Andy gegen den Lärm an und schloss die Türe hinter ihnen.

Hilfe, wer holt mich hier raus, dachte Ulrich, während die anderen sich darauf einließen, erst zaghafte Körperbewegungen machten, dann aber immer wilder mit ihren Gliedmaßen zappelten. Auch Ulrich setzte sich in Bewegung. Das Gute war, dass die Lichtstreifen jeden Tänzer in einen Roboter verwandelten, es keine Spiegel gab und sich daher keiner genieren musste.

Irgendwann öffnete sich die Tür wieder und Andy stand vor ihnen mit einem Tablett, auf dem ein großer Krug Wasser thronte, sowie sechs Gläser. Gierig, weil durstig und nassgeschwitzt, griffen die Kursteilnehmer nach einem Glas Wasser, leerten es in einem Zug und baten um Nachschub.

„Gibt es etwas Köstlicheres als Wasser, wenn man wirklich Durst hat?“, philosphierte Andy. “Erfrischend, mit belebender Wirkung, unübertroffen!“ Die Kursteilnehmer nickten und hielten ihr Glas erneut hin.

Ok, der Punkt geht an dich, dachte Ulrich. Allerdings hatte er massive Einschlafprobleme an diesem Abend, denn das Wummern der Bässe hörte nicht auf, in seinem Körper nachzuhallen.

 

Am nächsten Tag wartete Andy mit einem Kleinbus auf sie. Er liebte offensichtlich Überraschungen und so wussten sie nicht, wo es hinging, aber er hatte ihnen gesagt, sie sollten solides Schuhwerk tragen sowie Handschuhe mitnehmen.

„Sicherlich gehen wir Schlittschuhlaufen“, mutmaßte Ramona.

Eine Stunde später hielten sie vor einem Kletterpark.

„Ich habe Höhenangst“, jammerte Ramona, als sie das Schild las.

Ein Trainer, der sich als Jimmy vorstellte, führte die Gruppe ein.

„Es gibt verschiedene Levels. Welchen ihr erreichen wollt, bleibt euch überlassen. Ihr seid immer gesichert.“ Jimmy ließ einen Karabiner auf- und zuschnappen. „Es kann euch also nichts passieren.“

Im Gänsemarsch folgten sie Jimmy zu Level 1, wo der Erdboden zumindest noch sichtbar war.

Lion machte seinem Namen alle Ehre und startete als erster, gefolgt von Leonardo, Robin und Daniel. Sascha bot Ramona seine Hand. Offensichtlich waren sie sich in der Disko schon näher gekommen. Moses bildete das Schlusslicht und das sollte auch so bleiben, schließlich war er 20 Jahre älter als der Durchschnitt. Während die anderen immer größere Höhen erklommen, wagte sich Ulrich nicht über Level 2 hinaus. Schließlich schnallte er sich ganz ab und beschloss, die hohen Bäume von unten bei einem Spaziergang zu bewundern. Er wollte lieber darüber nachdenken, was er hier eigentlich machte und das führte ihn dann unweigerlich zu einer persönlichen Rückschau.

Mit 65 hatte er sein Rentnerdasein eingeläutet. Seinen Job als Buchhalter hatte er nicht weiter vermisst. Aber er hatte sich zu wenig Gedanken gemacht, was danach kommen sollte. Seine Frau war vor fünf Jahren an Krebs gestorben. Sie hätte sicherlich gute Ideen gehabt. Reisen  zum Beispiel, wie man das als rüstiger Rentner so machte. Nun saß er jeden Abend vor der Glotze, ärgerte sich über das hirnlose Programm und schluckte den Frust mit einer Flasche Rotwein hinunter. Tendenz steigend. Deshalb war er in dieser Gruppe, rief er sich ins Gedächtnis, auch wenn er bezweifelte, dass der Guru ihm weiterhelfen konnte.

 

Am nächsten Tag setzte Andy seine Gruppe vor einer Buchhandlung ab. Es war schon nach 21 Uhr. Die Geschäfte hatten geschlossen, aber in dem Buchladen brannte noch Licht. Die Besitzerin begrüßte sie freundlich mit einer Tasse Tee.

„Was werden wir hier machen?“, fragte Andy, wie immer gutgelaunt, seine Kursteilnehmer.

„Lesen“, maulte Robin.

„Super! Und könnt ihr euch noch etwas anderes vorstellen?“

„Bücher verkaufen“, witzelte Sascha.

„Das überlassen wir lieber Frau Müller. Hat sonst noch jemand eine Idee?“

Ulrichs Blick wanderte die hohen Bücherregale hoch.

„Einen Roman schreiben?“, schlug er vor.

Andy klatschte in die Hände. „Prima, Moses!“

Als die anderen lange Gesichter zogen, fuhr Andy fort.

„Wir haben in den letzten Tagen erfahren, wie schön und spannend das Leben sein kann. Hier haben zahllose Schriftsteller mit ihrer Phantasie die interessanten Ecken des Lebens ausgeleuchtet. Ihr seid herzlich eingeladen auf eine Lesenacht. Lasst euch  darauf ein! Ihr könnt in so vielen Büchern schmökern, wie ihr wollt. Ihr könnt aber auch eure eigene Lebensgeschichte aufschreiben und den anderen vorlesen, wenn ihr Lust habt.“

„Können wir nicht lieber in die Disko?“, fragte Leonardo.

„Das machen wir morgen zum Abschluss“, entgegnete Andy.

„Wenn ihr müde werdet, es gibt auch ein Sofa.“

„Eins für uns alle?“, staunte Sascha.

Als Andy und Frau Müller die Gruppe alleine ließen, standen die einzelnen noch unschlüssig herum.

Ulrich ging die Bücherregale entlang und entdeckte den letzten Roman von Charles Bukowski. Er setzte sich hin und las sich fest.

„Ey, Moses, haste nen spannenden Porno entdeckt?“, witzelte Sascha.

„Besser!“, sagte Ulrich.

„Dann lass mal hören! Lies mal vor!“

Und so las Ulrich und Sascha hörte zu. Auch die anderen hörten auf, lustlos in ihren Büchern zu blättern, sondern machten es sich auf dem Sofa bequem. Ulrich las die Geschichte über den Privatdetektiv Nick Belane, einem Säufer, der nur so viel von Kriminalistik versteht, dass man einen Revolver hinten am Gürtelband trägt oder ihn in der Schublade vom Schreibtisch verstecken kann, wo sonst die Wodkaflaschen lagern.

 

Um Mitternacht kam Andy mit einem Schokoladenkuchen, auf dem Wunderkerzen brannten, während Frau Müller zwei Flaschen Sekt trug, natürlich alkoholfrei.

„Hi, Leute, hier ist eine Stärkung für euch“, rief Andy mit seiner gewohnten –ich-verbreite-gute-Laune-Stimme.

„Psst! Nicht stören! Wir hören gerade zu!“, kam es vorwurfsvoll vom  roten Plüschsofa.

„Da staunst du, was ein Alki so alles schreiben kann!“, wandte sich Sascha an Andy.

„Tja, ausgeträumt“, feixte Moses, alias Ulrich. „Dein Experiment geht gerade den Bach runter, in dem allerdings kein klares Wasser mehr schwimmt“, fügte er hinzu.

„Wo bleibt der Wodka?“ grölte Daniel.

„Das glaube ich jetzt nicht“, mischte sich Frau Müller ein. „Ihr habt diesem Herrn fast drei Stunden zugehört?“

„Und du hättest eine Stecknadel fallen hören können oder ein Mäuschen piepen. So spannend liest Moses“, bestätigte Ramona.

 

Frau Müller ließ die Korken knallen und alle prosteten sich zu.

„Musst nicht traurig sein, Andy!“, tröstete Ramona. „Es hat uns allen viel Spaß gemacht, so dass wir beschlossen haben, uns weiterhin zu treffen. Nee, nicht in der Kneipe. Im Café, das geht auch. Und die Disko war eh voll geil.“

„Darf ich fragen, wie Sie heißen?“, wandte sich Frau Müller an den Vorleser.

„Ulrich Heine.“

„Ach, Gedichte schreiben Sie auch?“

„Noch nicht!“, grinste Ulrich.

„Darf ich Ihnen einen Job als Vorleser hier anbieten? Sagen wir ein Mal im Monat.“

„Sie dürfen.“

An diesen Tagen würde er schon mal keine ganze Flasche Rotwein trinken, dachte Ulrich und lächelte Frau Müller an.