Von Sabine Esser

So einen Fall hatte der Richter noch nie: Ein honoriger Kollege einer anderen Fakultät auf der Anklagebank. Die Anklage ist so skurril, er möchte an einen Aprilscherz glauben. Leider ist es keiner. Die Fotos und das ärztliche Attest sind eindeutig: Die Studentin der Zahnmedizin, Frau Julia Myers, wurde bösartig gebissen. Zerbissen. Verunstaltet für ihr ganzes Leben, sofern keine kosmetische Operation vorgenommen wird.

 

Die Staatsanwaltschaft hatte das Ermittlungsverfahren aufgrund der Anzeige des Notarztes eingeleitet. In den Unterlagen wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Zahnschemata der Bisswunden nicht menschlicher Natur seien. Hinzugezogene Spezialisten konnten auf keine bekannte Tierart verweisen.

Laut Polizeiprotokoll benannte das Opfer – noch im Krankenhaus – den Angeklagten als Täter.

Daraufhin erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen schwerer Körperverletzung.

 

Die junge Frau benötigt ein Sitzpolster, die Wunde an der linken Glutealregion (Pobacke) ist nur grob verheilt.

 

„Bitte erzählen Sie, was an jenem Abend geschah.“

„Das habe ich doch alles schon zu Protokoll gegeben. Professor Hajens und ich hatten seit anderthalb Jahren ein Verhältnis. Dann wurde er krank und wir sahen uns fast ein halbes Jahr nicht mehr, hielten aber Mail-Kontakt. Als er dann endlich anrief, freute ich mich natürlich, und wir haben uns danach zum ersten Mal wieder getroffen.“

„Mit ‚getroffen‘ meinen Sie auch sexuellen Verkehr?“

„Ja, was denn sonst?“

„Und an jenem Abend?“

„Na ja, erst wie immer. Zutscheln mag er halt. Dann aber schnappte er zu. Er meinte es gewiss nicht böse, war ja selber ganz erschrocken und hat auch sofort Erste Hilfe geleistet und den Notarzt gerufen. Aber das ist Ihnen ja bekannt.“

Der Richter hakt nach: „Und es war kein Haustier oder so etwas im Raum?“

„Nein, wirklich nicht.“

„Sie sind wirklich ganz sicher, dass Professor Hajens Sie gebissen hat?“

„Hundertprozentig.“

 

„Herr Professor. Sie sind angeklagt, Frau Myers mit nachhaltigem Schaden gebissen zu haben. Wie äußern Sie sich dazu?“

 

Professor Hajens blickt hilfesuchend zu seinem Assistenten, Dr. med. dent. Tentazione, und zu seinem Verteidiger.

Der erhebt sich und antwortet: „Mit Ihrer Erlaubnis, der Herr Professor kann sich nicht klar äußern. Er ist, na ja, mit einem Zahnproblem behaftet. Dr. Tentazione darf an seiner statt berichten, wenn Sie erlauben. Hier ist die schriftliche Vollmacht.“

 

„Gesehen und genehmigt. Herr Dr. Tentazione, wie ist diese Beißattacke zu erklären?“

 

„Dafür muss ich etwas weiter ausholen. In der Dentalmedizin geht es – wie überall – um Profit, aber immer noch auch um Grundlagenforschung.

Professor Hajens hatte den genialen Impetus, die evolutionsmäßig zurückgebliebenen, menschlichen Zähne durch nachwachsende zu ersetzen. Dazu benötigten wir Hai-DNA, die wir aus China bezogen. Viel komplizierter war, diese so zu modifizieren, dass man sie in Zahnwurzeln bzw. Kieferknochen einbringen konnte, ohne unerwünschtes Zellwachstum zu fördern. Natürlich bekamen wir keine Forschungsgelder. Viel zu viele leben von Zahnersatz, Parodontose, Karies & Co. Die Verluste wären immens! Lobbyismus eben.“

 

Das Publikum im Gerichtssaal wird unruhig. Was, wenn wirklich …?

 

Dr. Tentazione fährt fort: „Dass Tierversuche nicht zielführend sind, dürfte allgemein bekannt sein. Welcher seriöse Forscher wagte es heutzutage, einem Affen oder einer Ratte alle Zähne auszureißen, um irgendetwas zu beweisen, was sowieso nicht vergleichbar ist! Das ist unethisch. Darin waren wir uns einig. Es blieb nur der Selbstversuch. Wie viele große Mediziner der Vergangenheit haben das und nichts anderes getan! Ihr Leben auf’s Spiel gesetzt, um der Forschung zu dienen? Katharina die Große hat sich mit Pocken impfen lassen! Zum Wohle ihres Volkes.“

 

„Bitte halten Sie kein Plädoyer. Und beantworten endlich meine Frage“, unterbricht ihn der Richter. „Sie haben also tatsächlich einen Versuch am – entschuldigen Sie bitte – am ‚menschlichen Objekt‘ vorgenommen?“

„Aber selbstverständlich. Zunächst lief ja auch alles sehr gut. Alle erkrankten Zähne fielen wunschgemäß schmerzlos aus und es bildeten sich neue, die anfangs sogar fast die Form der vorherigen hatten. Die Kieferknochen gewannen sehr an Substanz. Insgesamt wirkten die Neuen schon spitzer, beeinträchtigten die Optik zu dem damaligen Zeitpunkt aber kaum und das Kau- und Sprechvermögen so gut wie gar nicht. Natürlich hätten wir sie abschleifen können. Wollten wir aber nicht, um die Studie nicht zu gefährden. Es ist aber ein stetiges Wachstum festzustellen, dessen Ursachen noch zu erforschen sind.“

 

Des Richters Zunge tastet nach seinem schmerzenden Backenzahn.

„Sie behaupten also, man könne aus Hai-DNA fast problemlos und sogar kostengünstig ein Menschheitsproblem lösen?“

Dr. Tentazione bestätigt dies und den Globalitätsaspekt. Überall, wo zuckerhaltige Produkte konsumiert würden, nähmen Zahnerkrankungen eklatant zu.

 

„Warum aber hat sich ihr Vorgesetzter so verhalten, wie ihm unterstellt wird? Und er selbst ja auch zugibt!“

 

„Das wissen wir leider noch nicht. Vermutlich bewirken gewisse Erregungszustände eine aktivere Schnappaktivität. Aber, wie gesagt, wir bekommen – aus den genannten Gründen – keine Forschungsmittel. Unseres Erachtens dürften die Krankenkassen enorme Einsparungen zu verzeichnen haben. Sozialpolitisch hingegen ist ein gravierender Einbruch im gesamten Bereich der Dentalmedizin und –pflege zu befürchten. Sie verstehen, dass dies äußerst heikel ist.“

 

Der Richter ist fassungslos. Ein Selbstversuch mit vermutlich unabsehbaren, politischen Folgen.

 

„Herr Professor Hajens, Ihnen die Zähne ziehen zu wollen, würde vermutlich nur deren Nachwachsen zur Folge haben, richtig?“

Der nickt bestätigend.

„Herr Dr. Tentazione, ist es vorstellbar, die Spitzigkeit der Zähne und diese – hm – diese erotisch bedingte Schnappaktivität zu kontrollieren?“

„Mit den nötigen Forschungsmitteln dürfte das kein Problem sein.“

„Sie würden also bestätigen, dass es sich bei der Beißattacke um ein unvorhergesehenes Ereignis handelte?“

„Unbedingt.“

 

Die Beratung dauert ungewöhnlich lange. Endlich betritt der Richter den Saal und verkündet das Urteil:

„Der Angeklagte wird der fahrlässigen Körperverletzung gemäß Paragraph 229 StGB für schuldig befunden. Ihm wird eine Haftstrafe von 6 Monaten auf Bewährung auferlegt. Außerdem wird er verurteilt, neben den Gerichtskosten die der kosmetischen Operation zzgl. eines Schmerzensgeldes in Höhe von EUR 7.000,– zu tragen.

Die Begründung:

Dem Angeklagten ist kein Vorsatz zu unterstellen. Unter der Voraussetzung, dass dieser Versuch ein einmaliges Projekt ist und bleibt, dass die Beteiligten verantwortungsvoll mit den Folgen umgehen, ist das Gericht überzeugt, dass der eventuelle Nutzen für die Menschheit höher anzusiedeln ist, als eine fahrlässige Körperverletzung.“

 

Ein Herr in der letzten Reihe schüttelt den Kopf und murmelt: „Vollidioten! Dann eben anders. Wir kaufen das Patent und legen es auf Nimmerwiedersehen auf Eis.“

 

Version 2