Von Franck Sezelli

Auf der Terrasse in der Abendsonne ertönte Stimmengewirr und erklangen Gläser. Unsere Gäste waren gern zum Apéro gekommen und fühlten sich offensichtlich wohl. Es waren sehr unterschiedliche Leute, die hier zusammen waren: Ein Schweizer Ehepaar, ein Ärztepaar aus Brügge, unsere Freundin aus der Vendée, die beiden Elsässer Nachbarn und unsere netten Freunde aus der Nähe von Düren. Wir kannten alle schon viele Jahre lang. Einige sind Urlauber, die jedes Jahr für ein paar Wochen hier im tiefen Süden Frankreichs die Ferien verbringen, andere nennen ein kleines Häuschen ihr eigen und nutzen es im Sommerhalbjahr, die ganze Saison oder auch nur für einige Wochen.

Es war an der Zeit gewesen, sie alle mal zu uns einzuladen. Jeder hatte ein paar Kleinigkeiten mitgebracht, und so war der Tisch mit Tellern und Platten voller Tapas und Fingerfood gedeckt. Mit unseren eigenen Beiträgen wollten wir den Gästen ein wenig aus unserer alten Heimat zeigen. Deswegen haben wir zum Auftakt mit Rotkäppchen-Sekt angestoßen. Die bekannte Sektkellerei in Freyburg ist ja keine fünfzig Kilometer von unserer Heimatstadt entfernt. Später wechselten wir natürlich zum hier heimischen Fitou.

Sehr zufrieden beobachtete ich, dass den Gästen meine kleinen Baguette-Scheibchen zusagten. Der erste Teller war fast alle, aber ich hatte in weiser Voraussicht einen zweiten vorbereitet, der im Kühlschrank wartete. Die Erfahrung hatte ich bei früheren Gelegenheiten auch des Öfteren gemacht, zum Beispiel bei Pétanque-Turnieren in Berlin: Die selbstgemachte Bärlauchbutter kam immer gut an.

Auch jetzt freute ich mich darüber, dass die Schnittchen weggingen wie warme Semmeln. Da hatte ich nicht umsonst in der Küche gestanden, bis mir vom Schmieren der Scheibchen das Handgelenk wehtat.

Unsere Basler Freundin Irène fragte mich: »Wo habt ihr denn diese Kräuterbutter gekauft?«

»Die ist nicht gekauft, die haben wir aus Leipzig mitgebracht. Hier habe ich Bärlauch nie gesehen. Letztes Jahr habe ich ihn so sehr vermisst. Aber zum Glück waren wir dieses Jahr zeitig im Frühling bei den Kindern.«

Ich hatte es mir in den letzten Jahren zur festen Gewohnheit gemacht, von unseren regelmäßigen Besuchen in Leipzig um die Osterzeit herum diesen Geschmack aus der Heimat mitzubringen. Denn wenn wir hier in Frankreich an altgewohnten Genüssen eigentlich nichts vermissen, Bärlauch ist mir hier noch nirgends begegnet.

Monique riss mich aus meinen Gedanken und fragte, was denn das für Kräuter wären. Mein kurzes Gespräch mit der Schweizerin hatte sie nicht mitbekommen. Ich versuchte es der immer freundlichen Belgierin mit dem niederländischen Wort daslook zu erklären, es half ihr aber nicht weiter. Auf dem Smartphone zeigte ich ihr und ihrem Mann Herman dann Fotos vom Bärlauch aus dem Leipziger Auenwald. Aber sie kannten es nicht. »Zeer smakelijk!«, war der Kommentar von Herman, den Monique und die Dürener, die die Fotos ebenfalls gesehen hatten, bestätigten.

»Das Zeug wächst bei euch im Garten, ich meine, bei euren Kindern?«, fragte Gerd nach.

»Nein, nein!«, antwortete ich. »Der Bärlauch wächst wild. Im März, April steht der Leipziger Auwald voll von diesen besonderen, leckeren Frühjahrsboten. Der Waldboden ist großflächig dicht bedeckt mit den Bärlauchbüscheln. Während der Blütezeit dominiert der knoblauchartige Geruch den ganzen Auwald. Wer die Straße durch unser Rosental entlangfährt, braucht dann nicht einmal das Autofenster zu öffnen, um daran teilzuhaben.«

»Mir schmeckt’s. Aber ich liebe ja auch Knoblauch!«

Da hat er recht, dachte ich. Wer Knoblauch nicht mag, für den ist das nicht.

Andrée, unsere Nachbarin, schaute zu meiner Frau und mir herüber, ein Schnittchen in der Hand und hob den Daumen: »C’est bon! Ça pousse à Leipzig?«

»Oui, dans le forêt de ville.«

Da musste ich daran denken, wie wir vor einigen Jahren, als wir noch in Leipzig wohnten, am Ende eines schneereichen Winters nicht schlecht staunten. Nach den ersten Sonnentagen bereits im Februar sah man überall im Vorjahreslaub des Rosentals die grünen Spitzen hervorlugen: ganz junge Bärlauchblätter. Für das Abendbrot waren schnell ein paar abgeschnitten, eine Schere hatte ich immer im Kofferraum. Kleingeschnitten auf Butterbrot ist das ein Gedicht, so zartes Grün. So ähnlich wie Schnittlauch, aber diese feinen grünen Spitzen sind noch viel besser im Geschmack. Noch einmal hatten wir dieses besondere Erlebnis nicht wieder. Später waren wir im Februar nicht mehr in Leipzig, oder es war um diese Zeit noch zu kalt.

»Das könnten wir zu Hause auch mal probieren«, meinte Gerd zu seiner Frau, worauf Anneliese sagte: »Ich habe den bei uns noch nicht gesehen, vielleicht gibt es ihn auf dem Markt.«

Ich wusste das natürlich nicht, aber war skeptisch. »Zum Wachstum benötigt Bärlauch eigentlich feuchte Böden. Leipzig war durch seinen großen Auenwald schon immer bekannt für das stinkende Kraut, wie manche sagen. – Übrigens gibt es eine alte Sage, die die Unmengen an Bärlauch in den Leipziger Wäldern erklären soll: Im Mittelalter störte es einen frommen und prüden Mönch sehr, dass im Frühjahr überall im Wald liebeshungrige Paare lagen. Daraufhin soll er den Bärlauch dort angepflanzt haben. Seitdem halten es die Pärchen wegen des Gestanks nicht mehr aus!«

»Stimmt das wirklich?«, Anne wollte es nicht glauben.

Marthe, die mit ihrem Mann neben uns stand und zugehört hatte, meinte in ihrem Elsässer Dialekt: »Ischt doch egal, àwwer es isch wennigschtes ebbs züem làche!«

Tatsächlich, ging es mir durch den Kopf, die einen empfinden den durchdringenden Geruch wirklich als Gestank, aber für Liebhaber dieses Wildgemüses wie mich weckt der Duft von frischem Bärlauch vor allem schöne Empfindungen und Erinnerungen. –

Frisch genossen ist die Pflanze natürlich besonders vitaminreich und gesund, aber ich liebe es, ein wenig davon noch aus dem Frühjahr in den Rest des Jahres zu retten. Deshalb ging es früher mindestens einmal im Frühling in den Auenwald, um Bärlauch zu sammeln. Natürlich nicht in den Teil, der Naturschutzgebiet ist, aber im übrigen riesigen Leipziger Auwald ist das Sammeln für den Eigenbedarf erlaubt.

Da fiel mir etwas ein, was ich unbedingt erzählen wollte. Inzwischen standen fast alle um mich herum, nur meine Frau saß mit der Ältesten, unserer französischen Freundin Andrée, am Tisch und unterhielt sich lebhaft mit ihr. Da konnte ich meine Geschichte auch auf Deutsch erzählen: »Die Beschäftigung mit dem Bärlauch ist aber nicht immer zum Lachen. Einmal kam ich beim Sammeln immer weiter vom Weg ab und geriet immer tiefer in den Wald. Erstaunlicherweise wurden die Bärlauchpflanzen auch immer höher, bis ich kaum noch über sie hinweg sehen konnte. Ich schlug mich durch diesen Bärlauchdschungel und suchte einen Ausweg, als hinter mir eine weibliche Stimme laut ›Halt! Umdrehen!‹ rief. Erschrocken schaute ich in einen Gewehrlauf, der drohend auf mich gerichtet war. Es war die Stadtförsterin, die 2500 € Strafzahlung von mir verlangte: ›Sofort! Oder … ?‹ Sie hob den Gewehrlauf wieder an. In dem Moment erwachte ich, es war natürlich nur ein Traum. –

Und wie kam es zu dem Albtraum? Am Tage hatte ich in der Zeitung eine Mitteilung des Leipziger Ordnungsamtes gelesen, dass das Sammeln von mehr als einem Handstrauß zum Eigenbedarf oder das Sammeln in Naturschutzgebieten eine Ordnungswidrigkeit sei und nach dem Sächsischen Waldgesetz mit einer Geldbuße von bis zu 2500 Euro geahndet werden kann.«

Die Freunde ringsum machten große Augen, einige nickten.

»Dabei bin ich beim Sammeln immer sehr umsichtig, reiße die Pflanzen nie aus dem Boden heraus, sondern schneide nur zwei, drei Blätter einer Pflanze mit einer Schere ab. Und dann die nächsten ein, zwei Meter weiter, wobei ich versuche, auf keines der Büschel zu treten, was wegen des dichten Bewuchses manchmal schwerfällt.«

»Und wie bereitest du nun die Kräuterbutter zu?«, fragte neugierig Anne.

»Das ist ganz simpel. Die Blätter werden gewaschen und mit dem Wiegemesser kleingehackt. In eine Schüssel kommt ein Stück weiche Butter, das mit der Gabel mit dem feingehackten Kraut vermengt wird. In den letzten Jahren gebe ich immer noch etwas Fleur de Sel hinzu, da habe ich dann meine alte und die neue Heimat beisammen. Das Durchmischen dauert schon eine Weile und ist anstrengend, aber wegen der künftigen Genüsse mache ich das immer wieder gern. In kleinen Portionen in Lebensmittelfolie gerollt und dann eingefroren, ist der Vorrat auch hierher nach Frankreich transportfähig und hält sich einige Monate.

Natürlich stinkt nach dieser Arbeit nicht nur die Küche oder die Wohnung, sondern das ganze Haus. Beim letzten Mal kam der Sohn extra zu uns hoch und fragte, was wir denn machten, dass es im Haus so fürchterlich röche. Nachdem er einige Portionen meiner Bärlauchbutter bekommen hatte, war er wieder versöhnt. Denn auch er isst sie gern, vor allem auf ein knuspriges Brötchen zum Frühstück.«

Die zweite Platte mit den Bärlauch-Baguettescheiben wurde später auch leer geputzt. Die Gäste waren guter Laune und unterhielten sich lebhaft. Wie sagte schon meine Oma: »Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen.« Und in Gedanken ergänze ich: … und fördert die Völkerfreundschaft.

***

Beim Mittagessen am Sonntag freuten meine Frau und ich uns noch einmal über das vortägige gelungene Zusammensein mit lieben Freunden. Sehr schön war aber auch, dass wir für das Steak statt der Kräuterbutter aus dem Supermarkt diesmal noch einen Rest unserer Leipziger Bärlauchbutter übrig hatten.

 

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