Von Elisabeth Penzias

Die politischen Ereignisse überschlugen sich in dem kleinen Staat mitten in Europa. Die neu gewählte Koalitionsregierung verkündete, man sei sich in jeder Hinsicht einig und gerate niemals in Streit. Alle paar Tage wiederholte man es. Daneben sparte man nicht mit Eigenlob für alle getroffenen Entscheidungen. Die Menschen sollten das für ein gutes Zeichen halten.

 

Die Regierung griff zu. Da lag das „Dont smoke“- Volksbegehren auf dem Tisch, unterzeichnet von Hunderttausenden besorgten Menschen im ganzen Land. Die darin geforderte Volksbefragung wurde von der Regierung nicht umgesetzt, denn die Gesundheitsministerin erklärte, man halte ein Nichtraucher- Gesetz für eine Unzumutbarkeit den Gastwirten gegenüber. Die Freiheit der Raucher einzuschränken ginge nicht an. Schließlich war auch der Vizekanzler ein starker Raucher. Rauchen ist vielleicht gesundheitsschädlich, sagte er zufrieden, aber die Freiheit des Rauchenden einzuschränken, das ginge nicht an.

 

Um einen besseren Überblick über die vielen Menschen in dem kleinen Staat mitten in Europa zu haben, wurden Listen angelegt, Daten zusammengeführt, große und kleine Ge-und Verbote erdacht und als Gesetzesvorschläge durchs Parlament getrieben. Alle Regierungsmitglieder stärkten durch originelle Maßnahmen ihre Wichtigkeit. Der Innenminister etwa berief sich auf die Tradition einer berittenen Polizeistaffel. Die Menschen wunderten sich und malten sich aus, wie Polizisten hoch zu Roß in den Kurzparkzonen Strafzettel verteilen, Autoraser auf die Seite holen oder Hooligans in Fußballstadien beaufsichtigen würden. Noch lachten sie darüber. Der Innenminister stellte aber sofort richtig, er gedenke seine berittene Truppe auf Demonstrationen einzusetzen. Da wunderten sich die Menschen noch einmal, wussten sie doch, dass Pferde Fluchttiere sind. Im Angesicht von Menschenmassen würden sie ihrem Instinkt folgen anstatt Kampfgeist zu beweisen. Die Ausschreibung nach geeigneten Tieren blieb

erfolglos.  Schließlich ließ sich der Innenminister von einem ihm wohlgesinnten Präsidenten drei Rösser schenken. Eines davon lahmte und so blieb es bei der Vision eines Innenministers. Eifrig suchte der nach dem nächsten Anlass, seine Mächtigkeit zu unterstreichen. Er nahm ins Land gekommene Flüchtlinge unter Beobachtung. Viele trugen aus religiösen oder traditionellen Gründen Kleidung, die Haare, Kopf und Teile des Gesichts bedeckte. Der Innenminister verbot Kapuzen, Schals und Mützen. Seiner Meinung nach brauchte es ein strenges Verbot, er nannte es Verhüllungsverbot. In diesem Winter froren viele Menschen aus Furcht, der strenge Blick der Polizisten gelte ihrer Mütze, ihrem Schal oder ihrer Anorak-Kapuze.

 

Wenig später hieß es, Scooter und Fahrräder gefährdeten die Fußgänger und irritierten den Autoverkehr. Es folgte ein Verbot, auch das Benützen von Fahrrädern und Scootern war nur mehr am Wochenende in öffentlichen Parks erlaubt. Die Menschen, die sich gerne der Umwelt zuliebe mit dem Bike fortbewegten, waren sehr betroffen. Sie konnten nicht glauben, dass eine demokratisch gewählte Regierung zu diesen undemokratischen Massnahmen greift. Die Minister erklärten, sie fänden kein Fehlverhalten ihrerseits und hielten einträchtig zusammen.  

 

Es kam noch ernster. Ein LKW- Fahrer übersah einen Buben auf dem Zebrastreifen vor der Schule. Der Neunjährige war auf dem Scooter zur Schule gekommen, übersehen worden und noch am Unfallsort gestorben. Die Regierung blieb wortkarg und bedauerte den Vorfall. Die LKW- Fahrer-Lobby entschuldigte sich nicht und wies darauf hin, dass LKW- Lenker die rechte vordere Ecke ihres Wagens seit jeher nie eingesehen hatten.

Außer sich vor Zorn demonstrierten die Eltern aller Schüler der Stadt ebenso wie die Lehrer des gesamten Landes. Die Eltern, die Lehrer und die Medien erwarteten Gebote und Erlässe, die die LKW- Produzenten dazu verpflichten würden die toten Winkel auf der rechten Seite ihrer Fahrzeuge verschwinden zu lassen. Doch der Verkehrsminister entschied dagegen. Was er zu erwähnen vergessen hatte, war eine von ihm zur selben Zeit geplante Erlaubnis zum Rechtsabbiegen bei roter Ampel.

Wenige Wochen danach kam es zu einem Mord an einem leitenden Beamten. Dahinter steckte ein persönlicher Racheakt eines des Landes verwiesenen Mannes. Obwohl im Lande geboren und aufgewachsen, gehörte er einer ehemals eingewanderten und wenig integrierten Kommunity an. Der Innenminister sah unverzüglich Handlungsbedarf. Jeder und jede konnte zu einem potentielle Gefährder werden. Eilig einigte sich das Parlament auf eine neue, hochwirksame Form der Gefängnisstrafe, man erfand die Sicherungshaft. Schon beim Verdacht, eine Person könnte in der nächsten Minute zur mitgebrachten Waffe greifen, die Faust gegen den gefährdeten Beamten erheben oder gar böse die Miene verziehen, sollte diese Haft zur Anwendung kommen. Es brauchte bloss die Unterschrift eines in Angst geratenen Beamten.

 

Von nun an änderte sich das Leben in dem kleinen Land dramatisch, denn alle Beamten machten gern und häufig Gebrauch von dem neuen Gesetz. Schon nach wenigen Wochen mussten die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister ihre Amtsräume in Sicherungshafträume umwandeln. Da sich der Innen- und der Justizminister streitlos darauf geeinigt hatten, den vielen befürchteten Gefährdern die Rute ins Fenster zu stellen, gab es ausschließlich Wasser, Brot und hartes Lager. Im ganzen Lande wurden große Veranstaltungsräume angemietet, niemand hatte mit einer solchen Flut an Gefährdern und Gefährderinnen gerechnet und manche wunderten sich, dass es ihnen zuvor nie aufgefallen war, wie viele gewaltbereite Personen in ihrem Umfeld zugange waren. Von Tag zu Tag verschwanden mehr Menschen aus den Städten und Gemeinden.

 

Dem Zeitungskiosk- Besitzer an der Hauptstrasse etwa gingen die „Paperboys“ ab. Sie waren stets im Morgengrauen auf ihren klapprigen Fahrrädern gekommen und hatten den Abonnenten ihre Lieblingszeitungen in die Postkästen geworfen. Bald fiel dem Busfahrer auf, dass er den kleinen Buben aus dem Senegal an der Hand seiner Mutter nicht mehr sah, die pünktlich um sieben eingestiegen waren und ihn gegrüßt hatten. Die Schulkinder bemerkten, dass der Schülerlotse aus Syrien, der schon so gut deutsch gesprochen hatte, nicht mehr vor dem Zebrastreifen stand. Die Kassierin an der Supermarktkassa wunderte sich, dass weder der afghanische Hilfsarbeiter um seine Semmel mit Putenextra kam, noch die drei Schülerinnen aus Tschetschenien um Gummibärchen und Dosencola. Dem Briefträger auf seinem Dienstmofa fiel auf, wie leer die Eingangsbereiche des Finanzamts und des Arbeitsamts geworden waren. Man sah bloß Polizistinnen und Polizisten dort. Jedes Amt hatte eine Reihe an zusätzlichen Beamten bewilligt bekommen, die in langen Reihen die Eingangsbereiche säumten. Sie standen bald auch vor den Supermärkten. Die Polizistinnen und ihre männlichen Kollegen schauten allen Einkaufenden genau und grimmig ins Gesicht. Ihr Blick sollte daran erinnern, dass sie für Ordnung in der Öffentlichkeit zuständig waren und dass Menschen nicht mehr nach den Ländern des Südens aussehen sollten, auch nicht nach dem fernen Osten und schon gar nicht nach Schwarzafrika. Jeder der Polizeibeamten hatte schwer an den Handschellen zu tragen, die er zum Amtshandeln benötigte. Demonstrationen im öffentlichen Raum waren ausnahmslos verboten.

Nach wenigen Wochen war die Sicherungshaft so oft verhängt worden, dass sich kaum jemand getraute eine Wachstube zu betreten. Danach fiel es auch auf Flughäfen auf, dass Reisende, die sich über verspätete Flugzeiten, ausgefallene Flüge oder unsaubere Toilettenlagen erregten, in Handschellen abgeführt wurden. Es sprach sich herum, dass die in Sicherungshaft Genommenen nicht mehr wieder gesehen wurden. Man munkelte von Abschiebeflügen bei Nacht und Nebel. Ins Land geflüchtete Menschen erwischte es am ärgsten, denn aus den Aufnahmezentren wurden über Nacht Ausreisezentren.

An Verkehrsampeln, Hauseingängen und in Shoppingcentern häuften sich Kameras, immer öfter wurde man gescannt.

 

Die Menschen verzagten, sprachen nur mehr leise miteinander und stritten oft und heftig, denn sie wussten nicht, wie es zu dieser Situation gekommen war. Sie warfen einander an den Kopf, was sie alles vermissten und wonach sie sich sehnten. Und sie waren erstaunt, wie klein ihre Wünsche geworden waren:  Sie wollten ohne Angst vor Kontrolle unterwegs sein dürfen und nicht mehr um jeden Polizeibeamten einen Bogen machen müssen.

 

Sie vermissten die Freiheit. Sie vermissten das Leben unter demokratischen Bedingungen. Sie vermissten es in der Bäckerei, am Zeitungsstand oder in der U-Bahn ohne Angst mit dem Handy telefonieren zu können. Und sie sehnten sich danach, auf der Straße mit einem Bekannten stehenbleiben zu dürfen um sich auszutauschen und dabei auch laut zu lachen.