Von Heike Weidlich

„Hermann?“ Brigitte sieht sich um. „Hermann!“ Wütend steigt sie von der Leiter, um nachzusehen, wo ihr Mann geblieben ist.

Kaum steht sie auf festem Boden, hört sie vor dem Haus ein Lachen. So, da vergnügt sich der Herr Gemahl im Garten, während sie sich hier abrackert.

Als sie aus dem Fenster späht, sieht sie ihren Ehemann mit zwei vollen Einkaufstüten im Nachbarhaus verschwinden. Die alten Frau Matuschek rollt langsam mit ihrem Rollator hinterher. Kurz darauf kommt Hermann, zufrieden lächelnd, wieder heraus.

Das sieht ihm gleich! Sich bei den Nachbarn einschleimen und sie hier alleine schuften lassen! Zornig reißt Brigitte die Haustür auf. „So, kann der Herr sich jetzt  die Zeit nehmen sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern?“.

Erstaunt sieht Hermann sie an: „Brigitte? Bist du  wütend?“

Noch nicht mal streiten kann man mit ihm! Hermann – die Freundlichkeit in Person. Es ist zum Auswachsen. Also legt sie noch eine Schippe drauf.

„Was fällt dir ein, dich bei der Matuschek als Lastenesel aufzudrängen und mich auf der Leiter stehen zu lassen?“

„Wieso warst du auf der Leiter?“

„Weil wir ausgemacht hatten, dass wir die Vorhänge wieder aufhängen?!“.

„Das tut mir leid. Du hast gemeint, du hättest heute Nacht so schlecht geschlafen, da bräuchtest du nach dem Essen unbedingt ein Mittagsschläfchen. Erinnerst du dich?“

Schlagartig  fällt es Brigitte wieder ein. Aber was geht sie ihr Geschwätz von heute Morgen an? „Papperlapapp, wie dem auch sei. Die Gardinen müssen rauf, sonst werden sie ganz knittrig. Komm jetzt!“ Brigitte steigt wieder auf die Leiter. Hermann bückt sich seufzend und reicht ihr die Vorhänge hoch.

Als alle wieder an ihrem Platz hängen und sich beide aufatmend mit ihren Kaffeetassen an den Küchentisch setzen, klingelt es an der Tür.

„Ich geh schon. Bleib nur sitzen“. Hermann macht auf und streckt kurz darauf den Kopf zur Küchentür herein: „Ich geh kurz mit Bobby raus. Franzi ist krank, und da kann Frau Müller sie nicht alleine lassen. Bin bald wieder da“. Er nimmt seinen Hut  und verschwindet.

Brigitte kocht vor Wut. Was geht sie der Köter der Müllers an? Muss man sich eben vorher überlegen bevor man sich so ein Vieh anschafft.

Tag für Tag das gleiche Spiel. Irgendwer hat immer was zu tun. Und Hermann rennt mit fliegenden Fahnen und lässt sich überall einspannen. Wahrscheinlich ist er die Lachnummer der gesamten Nachbarschaft. Ganz egal ob jemand Unterstützung beim Umzug braucht, ein Kind vom Kindergarten abzuholen ist oder ein Werkzeug fehlt – Hermann ist zur Stelle.

Brigitte rührt missmutig in ihrem Kaffee und starrt Löcher in die Luft. Ihre Gedanken beginnen zu schweifen und längst vergessen geglaubte Bilder halten Einzug in ihren Kopf: Ein lichtdurchfluteter Ballsaal. Ein junger Hermann, der eine strahlende Brigitte ausgelassen über die Tanzfläche wirbelt.

 

Gerade seine besondere Art,  hatte sie, das eher etwas ruppig und pragmatisch veranlagte Mädchen, so angezogen. Nie zuvor hatte sie jemanden getroffen, der so selbstlos, so am Wohl anderer interessiert war, wie Hermann. Als dieser sich dann auch noch ganz speziell für sie interessierte, war ihr Glück vollkommen gewesen. Er war der Richtige um eine Familie zu gründen. Sie hatte das große Los gezogen.

Doch nachdem sie einige Jahre verheiratet gewesen waren, wurde unweigerlich klar, dass sie keine Kinder haben würden – und Brigitte veränderte diese, für sie beide bittere Tatsache. Unmerklich anfangs, dann immer deutlicher. Sämtliche Lebensfreude schien aus ihr gewichen zu sein. Ihr Pragmatismus wurde  zur Härte, ihr Äußerungen immer häufiger unter der Gürtellinie. Hermanns gleichbleibende Freundlichkeit regte sie nun auf.

 

Brigitte wischt sich über die Augen. Das alles ist schon lange her und vorbei. Mittlerweile sind sie Rentner und seit einem knappen Jahr leben sie hier  – im Outback, wie sie es nennt.

 

Ihre Stadtwohnung war ihnen wegen Eigenbedarfs gekündigt worden. Brigitte wäre einfach ein paar Straßen weiter in eine ähnliche Wohnung gezogen. Nicht dass sie dort viel Anschluss oder gar Freundschaften gehabt hätte. Doch sie hatte sich ausgekannt, gewusst wo es die knusprigsten Brezeln und den besten Friseur gab.

Hermann, der sehr unter dieser Situation gelitten hatte,  wollte jedoch nicht. Dieses eine Mal hatte er nicht mit sich reden lassen. Er wollte ein kleines Haus auf dem Land kaufen, damit er nie wieder Gefahr lief „obdachlos“ zu werden.

So waren sie hierher gezogen. Hermann hatte schnell in die Dorfgemeinschaft hineingefunden. Brigitte nicht. Sie blieb in Haus und Garten. Mit den neuen Nachbarn sprach sie kaum, und wenn, dann in einer Art und Weise, dass die anderen auch keine große Lust mehr hatten, sich mit ihr zu unterhalten.

 

Und Hermann? Der macht sie wahnsinnig! Dauernd springt er für diese unbekannten Menschen herum. Klipp und klar hat sie ihm mehrfach gesagt, dass er nur ausgenützt wird. Wütend schlägt Brigitte mit der Faust auf den Tisch.

Hermann kapiert einfach nicht, dass ihn diese Hinterwäldler nur für ihre Zwecke einspannen. Sobald sie jedoch die Sprache darauf bringt, stielt sich ein trauriger, mitunter beinahe mitleidiger Ausdruck in seine Augen, was Brigitte noch mehr den Kamm schwellen lässt: Der führt sich auf wie der barmherzige Samariter, während diese Landpomeranzen ihn nur auslachen.

 

Als es klopft, schreckt Brigitte aus ihren Gedanken. Was will dieses Volk von ihr? Sollen sie warten bis der Dorfdiener heimkommt. Aber der unbekannte Besucher ist hartnäckig. Er klopft und klingelt und ruft: „Frau Greiner, bitte machen Sie auf“.

Zornig reißt Brigitte die Tür auf: „Was gibt’s?“, herrscht sie Herrn Lederer, den Nachbarn von gegenüber, an.

„Ah, Frau Greiner, gut dass Sie da sind. Ich wollte ihnen Bescheid sagen, dass ich Ihren Mann ins Krankenhaus gefahren habe“.

„Was?“ Entsetzt starrt Brigitte ihn an. Unvermittelt überkommt sie eine Angst, die ihr beinahe den Atem nimmt.

„Regen Sie sich nicht auf, alles halb so schlimm. Ihr Mann hat sich beim Spaziergang mit dem kleinen Bobby irgendwie in der Leine verheddert und ist gestürzt. Ich bin gerade mit dem Auto vorbeigefahren als es passierte. Wahrscheinlich ist sein Knöchel nur verstaucht, aber zur Sicherheit habe ich ihn ins Krankenhaus gebracht. Sobald er anruft hole ich ihn wieder ab. Möchten Sie mitkommen?“

Was für eine Frage!

 

Später sitzen Brigitte und Hermann auf dem Sofa und Hermann erzählt was passiert ist. `Das kommt davon, wenn man fremde Köter ausführt`, liegt es Brigitte auf der Zunge. Sie reißt sich jedoch zusammen, da sie Hermann, der ihr sehr blass erscheint, nicht noch mehr aufregen will.

Da klingelt es wieder. Kann man in diesem Nest auch einmal seine Ruhe haben? Frau Müller steht vor der Tür, in den Händen einen, noch warmen Kuchen. „Es tut mir sehr leid, was passiert ist. Bitte nehmen Sie den Kuchen, grüßen Sie Ihren Mann und schöne Osterfeiertage. Ach, und bevor ich’s vergesse. Das ist von Franzi. Hat sie für ihren Mann gemalt“. Frau Müller dreht sich um und eilt wieder nach Hause. Brigitte stellt den Kuchen auf den Tisch, übergibt Hermann das Kinderbild auf dem ein Osterhase, bunte Eier, Blumen und eine große lachende Sonne abgebildet sind, als es schon wieder läutet.

Draußen stehen die beiden Jungs von den Nachbarn schräg gegenüber. Brigitte hat keine Ahnung wie sie heißen. „Hallo Frau Greiner!  Mir solled von onserem Baba ausrichda, dass er nächschde Woch Urlaub had. Wenn Sie Hilfe em Garda oder so brauched, weil Oba Hermann flach ligd, solled Sie‘s oifach saga“. Damit verschwinden die beiden so schnell wie sie gekommen sind.

„Opa Hermann?“ Kopfschüttelnd geht Brigitte wieder ins Wohnzimmer. Noch einige Male an diesem Nachmittag läutet es an der Tür. Nachbarn, zum Teil welche die sie noch nie gesehen hat, erkundigten sich nach Hermanns Befinden. Alle sind besorgt und sehr erleichtert als sie erfahren, dass der Knöchel nur verstaucht ist.

Die alte Frau Matuschek kommt als Letzte, einen kleinen Blumenstrauß auf der Ablage ihres Rollators. Sanft nimmt sie Brigittes Hand in ihre faltigen Hände: „Richten Sie Ihrem lieben Mann Genesungswünsche aus. Wissen Sie, es ist ein echter Segen, dass Sie hier eingezogen sind“. Nachdenklich stellt Brigitte die Blumen in eine Vase.

 

Als sie am Abend vor dem Fernseher sitzen, Brigitte hat Hermanns Fuß auf dem Schoß und reibt ihn vorsichtig ein, räuspert sich Hermann und sieht Brigitte unsicher an.

„Was?“

„Morgen ist doch Ostersonntag.“

„Das ist mir nicht neu.“

„Um 10.00 Uhr ist Gottesdienst.“

„Und?“

„Du weißt, dass ich so gern in die Kirche gehen wollte, und das kann ich jetzt nicht – es sei denn …“ Hermann macht eine Pause. „Es sei denn du kommst mit und stützt mich ein bisschen“.

Brigitte setzt sich kerzengerade auf. `Auf keinen Fall` will sie schon abwehren. Doch dann besinnt sie sich auf den zurückliegenden Tag. Sie ist bisweilen sperrig – aber unehrlich ist sie nicht. Auch nicht sich selbst gegenüber:  

Sie hat falsch gelegen. Grottenfalsch. Hermann ist nicht das Gespött der Nachbarschaft – der gutmütige Trottel. Hermann ist ein geschätztes Mitglied einer gut funktionierenden Dorfgemeinschaft. Das ist ihr heute klargeworden.

Genauso hat sie erkannt, dass sie ihm mit ihrem Verhalten das Leben schwer macht. Und das will sie nicht mehr.

Morgen ist OSTERN. AUFERSTEHUNG. ERNEUERUNG.

 

Brigitte will nicht länger in ihrer Verzweiflung, ihrer tiefen Enttäuschung, verharren. Es ist noch nicht zu spät.  Sie will versuchen sich ihren Mitmenschen wieder zuzuwenden, um – vielleicht – ebenfalls Teil dieser Gemeinschaft zu werden, die Hermann so viel zu bedeuten scheint. Und dann wird sie selbst – vielleicht – endlich auch wieder glücklich sein.

Brigitte ist, als lockere sich ein festgezurrtes, eisernes Band, welches sich vor langer Zeit um ihre Brust gelegt hat. Hoffnung macht sich breit.

 

Sie sieht zur Decke um zu verhindern, dass ihr Tränen die Wangen herunterlaufen, während Hermann sie erwartungsvoll anblickt.

Energisch reibt sie seinen Fuß ein: „Warum nicht? Aber du strengst dich an! Glaub nicht, dass ich dich in die Kirche trage!“.

 

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