Gerhard Fritsch

„Neiiiiiin, ein Sprung in der Schüssel. Es darf nicht wahr sein, wir haben einen Sprung in der Schüssel!“

Voller Entsetzen schlug Erashleo, der Kunstkritiker, die Hände über dem Kopf zusammen und rief seiner Lebensgefährtin Mandsgum zu, sie solle ihm doch ganz rasch ein Isolierband bringen.

In der Kloschüssel sah Mandsgum Papierschnipsel schwimmen, die beim Spülvorgang anscheinend noch nicht hinuntergespült worden waren. Sie wollte natürlich wissen, wie es passieren konnte, dass die Kloschüssel einen Riss bekam, doch Erashleo war voller Zorn und schickte sie gleich wieder hinaus aus der Toilette. Hinterher, als er mit der notdürftigen Reparatur fertig war, kam er zu Mandsgum in die Küche, schäumte aber immer noch vor Wut. Wie es genau passieren konnte, sagte er ihr nicht, bezichtigte aber eine andere Person der alleinigen Schuld: „Du kennst doch diese Isolde, diese komische“, begann er zu geifern. „Die aus Cornwall, die Ex-Galeristin, als wie wenn die etwas von Kunst verstehen würde. Die blöde Kuh hat uns das eingebrockt.“

Erashleo, der seit Kindheitstagen in Freundeskreisen auch mit dem Spitznamen Blem-Blem gerufen wurde, war völlig außer sich und steigerte sich immer mehr in die Anschuldigungen gegen Isolde hinein. Anscheinend war er aber in seiner Aufregung nicht fähig, den genauen Vorgang des Unglücks zu erklären.

 

Mandsgum verabredete sich deshalb am Tag darauf mit Isolde, die sich ein Hotelzimmer in der Stadt genommen hatte, zu einem Treffen im Cafe Plaudergern. Isolde war sehr amüsiert, als sie von dem Sprung in der Schüssel von Erashleo hörte, sie konnte sich aber höchstens erklären, was es mit den Papierschnipseln im Klo und seine Wut auf sie zu tun hatte.

„Ich habe ihm nämlich einen Brief geschrieben, in dem ich mich über seine Arroganz, seine Klugscheißerei und Selbstgefälligkeit beschwerte. Den hat er wohl nicht gut verdaut und wollte ihn in der Toilette hinunterspülen.“

Wie sie weiter erzählte, hatte Isolde gemeinsam mit ihrer besten Freundin Mariamne eine mehrmonatige Studien- und Erholungsreise unternommen. Ihre gut gehende Kunstgalerie in London hatte sie zu diesem Zweck für ein ganzes Jahr verpachtet. Und auch Mariamne, die in Helston nahe am Fischerhafen einen Blumenladen betrieb, hatte das gleiche mit ihrem Geschäft getan. Sieben Monate waren die beiden unterwegs. Die Eindrücke, die sie dabei erfuhren, waren allesamt überwältigend. Nur die Schiffsreisen von einem Ausflugsziel zum nächsten gestalteten sich mit der Zeit zunehmend langweilig. Zwar wurden von der Reiseleitung und dem Servicepersonal alle nur erdenkbaren Unterhaltungsprogramme angeboten, aber nach spätestens drei Monaten war das Interesse der beiden Freundinnen daran verbraucht. Isolde litt vielleicht noch ein bisschen mehr unter dem Mangel an Abwechslung als Mariamne, da sie als Kunstgaleristin die Herausforderung vermisste, sich mit kreativen Dingen zu befassen beziehungsweise sich selbst kreativ zu beschäftigen. Aber die beiden schmiedeten Pläne, wie sie diese Lücke sofort nach ihrer Rückkehr füllen können würden. Für Isolde bedeutete das, dass sie selbst ein Kunstwerk schaffen wollte – ein Gemälde, in dem auch Eindrücke aus ihrer langen Reise einfließen sollten.

So geschah es, dass sie sich gleich nach ihrer Ankunft in Cornwall, wo sie Haus an Haus mit Mariamne wohnte, an die Arbeit machte. Von ihrer Freundin, die begeistert von dem fertigen Bild war, ließ sie sich überreden, an einer Kunstausstellung in Deutschland teilzunehmen, bei der namhafte Kunstkritiker ihr Urteil abgeben sollten. Für die Bestplatzieren waren sogar ansehnliche Preise ausgeschrieben.

Anfangs war Isolde noch sehr zuversichtlich. Bei den ersten Bewertungskriterien bekam ihr Bild überaus positive Urteile: schöner Bildschnitt, perfekte Raumaufteilung, sehr gute Farbkompositionen und dergleichen. Als es aber zu der alles entscheidenden Bewertung kam, bei der es um Ausdruck, Sinn und Botschaft für den Betrachter kam, erhielt Isoldes Bild kaum Zuspruch. Besonders hervorgetan in seiner Kritik hatte sich ausgerechnet Blem-Blem, den Isolde von früher her kannte (sie waren in ihrer Jugendzeit einander sogar einmal sehr zugetan gewesen). Er versuchte sogar, ihr Werk ins Lächerliche zu ziehen, machte sich lustig darüber, dass Pferde Hörner und lila Mähnen hatten, Schmetterlinge wie Zebras gestreift waren und die Enden des Regenbogens anstatt der Erde zugewandt gen Himmel zeigten.

„Das und noch vieles mehr, hat er einfach in seinem beschränkten Horizont nicht verstanden“, erklärte Isolde Mansgum. „Aber ich habe versucht, sehr realistisch wiederzugeben, was wir auf unserer Reise zu den Exoplaneten von Alpha Centauri, Lalande und Sirius gesehen haben. Auf Proxima Centauri, der von zwei Sonnen bestrahlt wird, sind die Regenbögen eben anders als bei uns hier auf der Erde. Aber Erashleo hat anscheinend noch nie was davon gehört oder gesehen, es geht einfach nicht hinein in sein Hirn.“

„Na gut“, entgegnete Mandsgum: „In der Presse hat man davon ja auch noch nichts gelesen oder gehört.“

„Aber nur, weil selbst von denen noch nie jemand dort war und sie es deshalb für einen Fake gehalten haben“, antwortete Isolde. „Frag’ doch Mariamne, sie war dabei, sie kann es bezeugen.“

 

Nach ihrem Treffen mit Isolde konnte sich Mandsgum einen Reim daraus machen, warum Erashleo so aufgebracht über Isoldes Brief war, hatte sie ihn doch unter anderem auch als einen hirnlosen Ignoranten bezeichnet. Von Blem-Blem, mit ihren Kenntnissen in die Enge getrieben, erfuhr sie dann auch, wie es zu dem Vorfall in der Toilette gekommen war: Erashleo war wegen des Briefes von Isolde dermaßen außer sich geraten, dass er den Zettel zerriss und im Klo hinabspülen wollte, um damit wenigstens ihm selbst gegenüber seine Missachtung zur Meinung Isoldes zu bekunden. Er schmiss das zerrissene Papier in die Kloschüssel und betätigte – immer noch wutschäumend – die Klospülung, die wie in alten Großstadtwohnungen aus den 1950er Jahren üblich aus einem Spülkasten in ca. 1,80 Metern Höhe bestand, dessen Spülvorgang mittels einer herabhängenden Kette mit eisernem oder keramischem Griff ausgelöst werden musste. Er riss aber dermaßen fest an dieser Kette, dass sie abriss und der schwere Griff ins Klo fiel, was letztendlich zu dem Riss in der Schüssel führte.