Von Jacob Schnabel

„Haben Sie uns angerufen?“

Der Uniformierte an meiner Tür trägt eine Schutzmaske, seine Stimme klingt gedämpft, die Augen sehen müde und verquollen aus. Eilig presse ich mir ein Taschentuch vors Gesicht. Ich nicke.

„Sie kennen Frau Bäcker?“

Die Frage ist absurd. Seit zwei Jahren ist Marie Bäcker meine Nachbarin.

„Was ist passiert? Geht es ihr gut?“

Ich schäme mich, wie zittrig meine Stimme klingt. Durch die geöffnete Tür von Maries Wohnung höre ich ein Poltern, Glas zerbirst und irgendjemand flucht.

„Wann haben Sie Frau Bäcker das letzte Mal gesehen?“

Ich muss nachdenken. Im Vorzimmer, gleich neben der Tür hängt ein Kalender. Die Tage und Wochen tanzen vor meinen Augen und verschwimmen.

„Wir haben einander gestern gehört!“

„Sie haben miteinander telefoniert?“

Ich schüttle den Kopf. Eine Falte erscheint auf der Stirn des Polizisten. Ihm dauert das hier bereits zu lang. Ich spüre seine Ungeduld, Hitze schießt mir in die Wangen. Es gelingt mir nicht, einen Blick über seine Schulter hinweg in Maries Wohnung zu werfen.                
„Das Schächtelchen war heute nicht da!“, sage ich eilig.
„Bitte?“, sein Unmut ist ihm deutlich anzumerken und mich überkommt das Gefühl schon zu viel gesagt zu haben.

„Ich habe geklopft und sie hat nicht geöffnet“, stammle ich. Ich hoffe, das reicht ihm, denn was hätte ich auch sonst sagen sollen? Die Wahrheit?

 

Als Marie vor zwei Jahren einzog, war meine Frau schon sechs Monate tot. Nach dreiundvierzig Jahren Ehe war Martha als erste gegangen, hatte vergessen, mich mitzunehmen und kein Tag verging, an dem ich nicht nachdachte, wie ich es anstellen wollte, so schnell wie möglich wieder bei ihr zu sein. Es war ein langsames Untergehen, aber das war mir egal. Dann kam Marie und alles änderte sich.

In meinem Dahindämmern war mir nicht einmal aufgefallen, dass jemand Neues in die Wohnung gegenüber gezogen war, und als eines Abends die Glocke ging, dachte ich mir nichts weiter. Ich öffnete und da stand sie. Sie lächelte nicht, sie stellte sich nicht vor. Sie hielt mir nur ein großes Glas Salzgurken hin.

„Ich krieg die Scheißdinger nicht auf“, sagte sie tonlos. Da war kein Ärger in ihrer Stimme, keine Wut, kein Frust, sie stellte nur fest. Wortlos nahm ich ihr die Gurken ab,  versuchte mich an dem Schraubverschluss, aber der rührte sich keinen Millimeter.

„Bin gleich wieder da“, murrte ich, ging in die Küche und fingerte ein robustes Messer hervor, das ich unter den Verschluss des Gurkenglases zwang, um das Vakuum rauszulassen. Ein sanftes Zischen, dann ließ sich der Deckel ganz leicht drehen.

„Ich heiße Marie“, sie war mir lautlos gefolgt und stand jetzt hinter mir in der Küche. Vor Schreck ließ ich das Salzgurkenglas fallen.

„Himmelarsch!“, schrie ich und betrachtete die Sauerei auf dem Fliesenboden. Marie war barfuß.

„Steigen Sie bloß nicht in die Scherben“, ich wandte mich ab, wickelte reichlich Küchenrolle ab und kniete mich mit einem Ächzen hin. Marie hatte sich auf einen der Barhocker gesetzt, die ich mir vor über zwanzig Jahren eingebildet hatte. Hässliche Dinger, überzogen mit Kuhfellimitat.

„Ich bin so ein Trampel“, wieder klang es wie eine Feststellung. Auf Knien in der Salzlake herumrutschend sah ich zu ihr hoch. Tränen liefen über ihre Wangen, die Unterlippe vorgeschoben fixierte sie einen Punkt an der Decke. Eine blonde Haarsträhne hatte sich gelöst und fiel ihr in die Stirn. Sie war jung. Jung und sehr traurig.

„Es sind nur Gurken“, sagte ich.

„Ich hatte nichts anderes zur Hand“, schluchzte sie und blieb bis zum Morgen.

 

Maries Arzt hatte ihr Pillen verschrieben.

„Die einen für den guten Tag, die anderen für die gute Nacht“, erklärte sie. Was der Arzt ihr außerdem gesagt hatte: „Bitten Sie andere um Hilfe.“

 

So bekam ich meine Aufgabe. Jeden Abend um zehn klopfte ich bei Marie an. Ich brachte zwei Pillen mit. Das Schlafmittel nahm Marie sofort. Vor meinen Augen, darauf legte sie großen Wert. Die andere Pille war für den nächsten Morgen. Sie arbeite in einem Kiosk, erklärte sie, und ohne die Morgenpillen könne sie das nicht.

„Keine Zeitungen und keine Zigaretten ohne gute Laune“, pflegte sie zu sagen. Ich bekam einen Schlüssel zu Maries Appartement. Seit sie eingezogen war, hatte sie die Umzugskartons kaum angefasst, also schlug ich vor, den Rest zu übernehmen. Über ihre Vergangenheit hatte Marie nur wenig gesagt, aber von ihren Sachen erfuhr ich alles. Fotoalben, Tagebücher, Schallplatten waren gute Erzähler, einen Plattenspieler suchte ich vergebens. Marie störte nicht, wie ich sie und ihr Leben vor mir ausbreitete. Dass ich mich ab nun auch um ihren Haushalt kümmerte, schien sie weder zu freuen, noch zu ärgern.

 

Eines Abends, eben war sie nach Hause gekommen, überraschte sie mich.

„Sie wissen alles über meine Scheißdepressionen“, als würde sie zu sich selbst sprechen, „Erzählen Sie mir von Martha.“ Das war die zweite Nacht, die wir gemeinsam verbrachten. Ich war erstaunt, wie leicht es mir fiel, über meine tote Frau zu sprechen. Bei jedem Satz wartete ich auf das vertraute Stechen in der Herzgegend. Es kam nicht. Um fünf Uhr ging ich zu mir hinüber, legte mich ins Bett und schlief so gut, wie schon lange nicht mehr.

 

Zwei Jahre lang schoben Marie und ich einander durch unser Leben. Ich lieferte ihr pünktlich ihre Medikamente, und sie lieferte mir jeden Tag einen Grund, um aufzustehen.

 

Das Virus änderte alles. Forthin weigerte sich Marie, am Abend die Tür zu öffnen.

„Wir beide müssen auf Sie achtgeben. Stellen Sie mir die Pillen hin“, sagte sie. Fahrig durchsuchte ich Marthas Kommode, bis ich ein leeres Schächtelchen gefunden hatte, in dem ich Maries Medikamente auf ihre Türmatte legen konnte. Ich klopfte wieder an und Marie klopfte zurück. Am nächsten Morgen fand ich das Schächtelchen, wo ich es abgelegt hatte, diesmal leer.

„Es ist mir scheißegal, ob ich mir was einfange!“, brüllte ich nach einer Woche wütend. Marie klopfte nur zurück.

 

Eine weitere Woche ist vergangen und heute Morgen war da keine kleine Schachtel. Auf mein Klopfen rührte sich nichts. Ich vergaß, dass ich einen Schlüssel habe, und rief die Polizei an.

 

Der Polizist macht den beiden Sanitätern Platz, die Marie auf einer Trage an uns vorbei durch den Hausflur die Treppen hinabschaffen. Man hat sie zugedeckt, ich kann ihr Gesicht nicht sehen. Was ich sehe: Marie ist barfuß. Jetzt kommt der Notarzt aus ihrer Wohnung. Auch er mit Schutzmaske.

„Überdosis, wenn du mich fragst“, sagt er im Vorbeigehen.

Der Uniformierte verliert das Interesse an mir. Nur kurz nickt er mir noch einmal zu, wendet sich ab, folgt dem Arzt hinunter.

Ich schließe die Wohnungstür. In der Küche berühre ich das hässliche Kuhfellimitat der Barhocker. Mir fällt ein, wie sehr Martha lachen musste, immer wenn ich mich mühselig auf einen der Hocker hochzog. In dieser Sekunde spüre ich zuerst Sehnsucht, das Stechen in meinem Herzen ist zurückgekehrt. Dann kommt die Erleichterung. Ich habe noch Maries Pillen.