Michael Voß

Piep-piep!

Piep-piep!

Piep-piep!

Schlaftrunken tastet Harry nach dem Smartphone: „Abflussdienst Kaminski.“

„Neumann, Elbstraße 15! Ich brauche Sie hier, sofort!“

Harry schaltet die Nachttischlampe ein und greift zum Bleistift.

„Was ist? Hören Sie nicht?“, bellt es aus dem Handy.

„Doch, schon, Frau Neumann, ich trage gerade ihre Adresse ins Navi ein. Also, Elbstraße 15. Wo kann ich dort parken?“

„Ist das mein Problem?“

Lautlos gähnend schlurft Harry zum Küchenblock: „Indirekt schon. Wenn ich suchen und mein Werkzeug weit schleppen muss, dauert es halt länger.“

Pause.

„Verstehe. Sie können in der Einfahrt parken.“

„Bin unterwegs.“

Harry setzt Wasserkocher und Kaffeeautomat in Betrieb, checkt die Uhr: halb zwei morgens. Er tippt die Adresse in die Navi-App und schlüpft in seinen Blaumann. Mit dem kochenden Wasser wärmt er den Thermobecher vor, bevor er ihn mit einem frischen Café latte füllt. Zwanzig Minuten später parkt er seinen Transporter in der Einfahrt eines chicen Dreiparteienhauses. Den Werkzeugkoffer in der Hand, klingelt er bei Neumann. Summend öffnet sich die Türverriegelung. Harry steigt eine Treppe hoch.

Im Türrahmen steht eine schlechtgelaunte Mittzwanzigerin in Longshirt und Jogginghose: „Endlich! Ich habe nicht ewig Zeit!“

„Schon klar. Carpe diem“, gibt Harry trocken zurück.

„Kape was? Egal! Mein Klo ist verstopft und ich muss meinen Blog noch fertig machen und habe später ein online-meeting und, ach, machen sie einfach!“

„Wo ist das WC?“

Genervt reißt sie eine Tür auf.

„Alles klar.“ Harry macht sich an die Arbeit.

Der Gummipömpel schafft es nicht, ebenso wenig wie die Vakuumpumpe und die Handspirale.

„Also wenn ich so trödeln würde, hätte ich bald keine Follower mehr“, schnauzt die junge Frau.

„Follower? Machen sie da was im Internet?“, erkundigt Harry sich.

„Ich bin Influencerin!“, wirft sie sich in die Brust. „Aber von Einflussnahme haben sie ja keine Ahnung!“

„Wie man´s nimmt. Mein Einfluss erstreckt sich auf den Abfluss, dessen Ausfluss ins Stocken gekommen ist. Was meistens an der Scheiße liegt, die die Leute von sich geben. Wenn sie jetzt freundlichst zur Seite gehen würden, kann ich die Motorspirale aus dem Wagen holen.“

Dann ist der Abfluss wieder frei und die gereizte Frau hat ihre Sprache wiedergefunden: „Was macht das?“

Im Kopf überschlägt Harry seine Aufwände: Reinigung schwierig 70, Anfahrt kurz 20, Nachtzulage 100, Kundin mittelschwer unhöflich 90: „280.“

„Was? Für das bisschen Arbeit?“

Harry hält den Eimer mit den Dreckklumpen über die Kloschüssel: „Ich kann es auch hierlassen.“

Wütend holt sie drei Hunderter hervor, auf die Harry vier Fünfer herausgibt.

„Eine gute Nacht noch, Frau Neumann.“

„Fahren sie zum Teufel!“

„Ich werde ihm Ihren Gruß ausrichten.“

 

Das Telefon weckt ihn erneut um halb sieben. Harry fährt notfallmäßig zu Herrn Hagen, einem klapperigen alten Mann in einer ärmlichen Wohnung im fünften Stock.

„Schön, dass sie so schnell kommen und alles wieder richten konnten! Darf ich ihnen noch einen Kaffee anbieten, bevor sie weiterfahren?“

Harry nimmt Platz. Der Filterkaffee ist dünn, die mehligen Plätzchen vom Discounter über dem Mindesthaltbarkeitsdatum.

„Danke, Herr Hagen, sehr freundlich. Ihr Kaffee ist ausgezeichnet.“

Sein Gastgeber strahlt und zwinkert: „Sagen Sie, junger Mann, sind sie eigentlich verheiratet?“

Harry grinst: „Welche gescheite Frau will schon einen Lokustaucher ohne Diplom?“

Der Rentner schmunzelt, dann hört Harry dem Witwer zu, der von seiner Zeit als Nachtportier erzählen muss: „Aber ich halte sie auf. Was bekommen sie?“

Reinigung schwierig 70, Anfahrt lang 40, Werkzeug hochschleppen (Aufzug ist defekt) 10, Rabatt 100: „20 Euro.“

Der alte Mann holt zwei Zehner aus einer Zuckerdose und legt ein Zwei-Euro-Stück dazu: „Für die gute Arbeit!“

„Herzlichen Dank, Herr Hagen!“

 

Harry fährt zum Kiosk am Markt, wo er ein Frühstück bestellt: Zeitung, Mokka, Mettbrötchen.

Fünf Stunden später: zwei Waschbecken, eine Spüle, eine Waschmaschine, drei Klos. Kasse stimmt. Mittagspause: Manta-Platte beim Schnellen Didi, dann klingelt das Handy schon wieder.

Das Haus in der Vorstadtsiedlung ist gepflegt, der Garten ein Schmuckstück. In solche Siedlungen fährt Harry nur selten, hier wissen die Leute sich meist selbst zu helfen.

Die Klingel läutet melodisch. Eine besorgt wirkende Frau Ende Fünfzig macht auf. Harry zieht die Schuhe aus, wird ins Bad geführt.

Die Frau dämpft ihre Stimme: „Bitte lachen sie nicht. Es ist meiner Tochter ja so peinlich. Ausgerechnet ihr Diensthandy musste ihr ins Klo fallen. Wo sie doch Anwaltsgehilfin ist und da so wichtige Sachen drauf sind. Können sie …?“

„Mal gucken.“

Harry streift den Gummihandschuh über und tastet. Nichts. Koffer auf, Endoskop raus, nachgucken. Kein Handy zu sehen.

„Was machen wir denn jetzt bloß?“, fragt die Frau etwas ängstlich.

„Den letzten Versuch. Gibt es einen Inspektionsschacht auf ihrem Grundstück?“

Es gibt. Deckel hoch, Lampe an, runter. Im Schacht liegt nichts. Wieder raus, Sieb holen: „Gehen sie bitte ins Haus und betätigen sie die Spülung aller WC´s.“

Nichts. Harry füllt die Badewanne bis zur Kante und lässt dann das Wasser ab. Jetzt kommt das Handy im Sieb an. Harry wuchtet den Deckel wieder auf den Schacht, geht zum Wagen und macht das Smartphone sauber. Zwischendurch ruft der nächste Notfall an – Klo verstopft. Harry notiert die Adresse, dann stiefelt er ins Haus, wo jetzt eine junge Frau etwas nervös auf ihn wartet – offenbar die Tochter der Anruferin.

Er reicht ihr das Gerät, doch leicht errötend zieht sie die schon ausgestreckte Hand wieder zurück: „Ähm …“

„Schon okay, hab`s desinfiziert.“

Erleichtert nimmt sie das iPhone an sich: „Oh, danke. Ich weiß übrigens nicht, wie mir das …“

Harry wagt einen schnellen Blick, schätzt sie auf Größe 38: „Machen sie sich keinen Kopf. Passiert laufend. Vorzugsweise Frauen wie ihnen.“

„Was soll das heißen?“, fragt sie, deutlich verstimmt.

„Na, Frauen, die es sich leisten können, figurbetonte Hosen zu tragen, wo das 6 Zoll Handy hübsch weit aus der Gesäßtasche guckt. Auf dem Örtchen haben sie dann den Schlamassel.“

Wieder fährt die Röte durch ihr Gesicht: „Tut mir leid, ich dachte …“

Harry winkt ab: „Kein Problem. Brauchen sie ´ne Quittung?“

„Ähm …“

„Ich mach´ das schon, Lisa“, kommt ihre Mutter eilfertig hinzu. „Ohne Beleg bitte. Was macht es?“

Rot denken, grün wählen, schwarz arbeiten: 40 Euro, passt.

Die Mutter strahlt Harry an: „Vielen Dank!“

Harry sitzt schon wieder im Wagen, da stürmt die junge Frau aus dem Haus. Er kurbelt das Fenster runter.

Ihre Augen sind angstgeweitet: „Es funktioniert nicht mehr! Wissen Sie, wo ich es ohne lange Wartezeit checken lassen kann?“

Harry nickt: „Ernie.“

„Ernie?“

„Kumpel von mir. Macht sowas für´n schmalen Euro.“

In ihrer Stimme schwingt unterschwelliges Misstrauen mit: „Hm. Ist der auch Klempner?“

Er schmunzelt: „Der? Ernie hat zwei linke Hände und verdient seine Brötchen mit der Sicherheit von mobilen Endgeräten.“

„Haben sie eine Nummer für mich?“

Harry greift zum Block und schreibt.

„Sie haben eine Handynummer im Kopf?“

„Bin oldschool.“

„Sie können nicht viel älter sein als ich!“

„Macht doch nichts. Ich kann sie auch mitnehmen, mein nächster Job ist bei Ernie um die Ecke.“

„Oh, gern! Ich muss nur eben noch …“

Sie eilt zum Haus zurück. Die Sonne zaubert einen kupferfarbenen Schimmer auf ihr kastanienbraunes Haar. Harrys Blick folgt ihr bis zur Tür und bleibt dort kleben, auch als sie schon längst dahinter verschwunden ist.

Es dauert.

Harry ruft den Klo-Notfall an und sagt, dass er fast schon unterwegs ist.

Endlich. Etwas aufgeregt klettert sie auf den Beifahrersitz. Harry drückt den Anlasser und brummend erwacht der Diesel. Im Augenwinkel sieht er, wie sie sich nervös die Haare aus dem Gesicht streift. Harry tippt auf die Play-Taste des Audio-Systems.

Sie staunt: „Ein Handwerker, der Bach hört?“

„Klassik entstresst.“

Harry kuppelt ein und schnuppert: Den Duft hatte sie vorhin noch nicht aufgelegt. Chloe. Eine Romantikerin? Unter Juristen? Das Leben ist voller Überraschungen, denkt er und schielt zur Seite. Sein Blick kreuzt sich mit dem der Frau, die sofort wieder nach vorn sieht. Harry merkt, dass es ihn verlegen macht. Gern würde er ein Gespräch beginnen, doch bevor er einen unverfänglichen Anfang gefunden hat, sind sie schon angekommen.

„Wir sind da. Ernie wohnt unten rechts.“

Sie ist irritiert: „Ich dachte, Sie bringen mich zu einem Büro oder einem Laden?“

„Homeoffice. Ein Nerd halt. Ist alles ´n bisschen unaufgeräumt und schräg bei ihm. Aber er ist nett und hat´s drauf.“

Sie hält ihr iPhone fest umklammert: „Okay. Danke. Für die Hilfe. Und das Fahren. Ich …“

Harry reicht ihr seine Karte: „Gern. Wenn nochmal was ist, Anruf genügt.“

„Äh, ja. Bis dann.“

Bevor er ein Lächeln versemmelt oder anfängt zu stottern, nickt Harry lieber nur zum Abschied und gibt Gas.

 

Zwei Abende später klingelt das Handy: „Abflussdienst Kaminski.“

„Lisa Meier. Ich möchte mich bei Ihnen bedanken.“

„Äh, ja?“
„Sie haben mir eine Menge Ärger erspart. Das Handy ist zwar hinüber, aber Ihr Freund Ernie konnte die Daten retten.“

„Freut mich. Wirklich“, sagt Harry.

 

Pause.

 

Ein Fragezeichen schwebt in der Stille, dehnt sich aus.

 

Harrys Hände werden feucht.

 

Endlich findet er seine Sprache wieder: „Ähm, ja, toll, dass Sie sich gemeldet haben. Ist selten in meiner Branche.“

„Es freut mich, dass sie es zu schätzen wissen.“

„Hm, ja. Haben Sie eigentlich schon ein neues Handy?“ Harry beißt sich auf die Lippen. Wie kann er nur so dämlich fragen?

„Seit heute. Hätten sie etwa da auch einen Tipp gehabt?“

„Klar. Kunde von mir. Vertickt Versandrückläufer. Aber…“, Harry merkt, wie er sich verzettelt und verstummt.

Mutig gibt er sich einen Ruck. „Also, eigentlich wollte ich nur nicht, dass, hrm, unser Gespräch so schnell zu Ende ist.“

Stille.

Himmel, was ist jetzt nun?

Endlich!

Ihre Stimme hat eindeutig einen schelmischen Unterton: „Bestimmt kennst du einen netten Ort, an dem wir uns treffen können?“

Harrys Herz beginnt laut zu klopfen: „Klar doch. Lasko´s Taverne. Ich hol´ dich ab.“

 

V3