Von Eva Fischer

Der alte Mensch verliert allmählich seine Haare und seine Zähne. Das Gehen bereitet ihm Mühe. Er wird kleiner und macht wieder in die Windeln. Er vergisst nach und nach die Worte, die er Zeit seines Lebens gelernt hat.

Manche verlieren darüber den Verstand, andere werden kindisch, nur wenige werden weise, das heißt, es gelingt ihnen, ihre Sterblichkeit als Teil des Lebenskreislaufs zu akzeptieren. 

 

Unsere Wissenschaftler haben festgestellt, dass unseren Planeten das gleiche Schicksal erwartet wie uns Individuen. Das Wasser wird sich zurückholen, was ihm vor Urzeiten gehörte. Die Sonne wird allmählich verblassen. Der Anfang wird das Ende sein. Dunkelheit und Chaos werden herrschen.

Die Wissenschaftler haben schon das genaue Datum des Weltuntergangs errechnet. Wir haben noch neun Monate Zeit. Spätestens im Januar ist also Schluss. Auf den Tag genau wollen sie sich nicht festlegen, das können Hebammen schließlich auch nicht.

 

Was macht der Mensch mit so einer Ankündigung? Er hält sie erst mal für einen Aprilscherz oder Fake News. Filme und Bücher über den Weltuntergang existieren schließlich massenhaft, sowie dessen Ankündigungen. Daran kann man sich gewöhnen wie an Hundeköttel auf dem Bürgersteig. Die sollte man tunlichst umgehen.

 

Doch diesmal ist es anders. Die Vögel haben ihren Gesang eingestellt.  Die Sonne verfinstert sich zusehends. Sie geht jeden Tag 33 Minuten später auf und 34 Minuten früher unter, was für April in unseren Breiten nicht ganz normal ist, es sei denn, man lebt in Australien. 

Der Meeresspiegel steigt gnadenlos mehrere Meter täglich. 

 

Neun Monate sind ein langer Zeitraum. Die Wissenschaftler könnten eine Ersatzsonne entwickeln, die Politiker den Bau von riesigen Dämmen anordnen, damit die Meere nicht wie gefräßige Untiere über unser Land herfallen. 

Sie sind skeptisch? Zu Recht. Bis sich die Politiker auf Maßnahmen geeinigt haben, sitzen wir nicht mehr auf dem Trockenen. Extremsportler können natürlich etwas länger auf dem Mount Everest oder anderen Berggipfeln ausharren, allerdings ohne Sonne und Nahrung.

 

Pardon, ich habe mich noch nicht vorgestellt. Ich heiße Kassandra, nenne mich aber lieber Sandra, seitdem die Leute mich so komisch anschauen, wenn sie meinen Namen hören. Ich bin 60 Jahre alt und lebe in Deutschland gemeinsam mit meinem Bruder Jona, der nun glaubt, die Welt retten zu müssen.

Unsere Eltern sind tot. Sie kamen vor vierzig Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Ich habe ihren Tod zwar im Traum vorausgesehen, aber sie wollten ihrer hysterischen Tochter keinen Glauben schenken. Seitdem halte ich mich zurück, wenn ich das Unglück ein bisschen früher sehe als andere Menschen. Das Unglück ist wie Wasser. Es sucht sich immer seinen Weg. Denken Sie daran, dass es auch Caesar nichts genutzt hat, dass er gewarnt wurde.

Was die Wissenschaftler über den Weltuntergang herausgefunden haben, ist für mich also nicht wirklich neu.

 

Mein Bruder Jona vertritt die These, dass die Wale uns retten können. Sie sind an das Leben im Wasser gewöhnt. Im Gegensatz zu den U-Booten haben sie kein Problem mit der Stromversorgung. In ihren Mägen finden sich genug Restbestände, um uns Menschen zu ernähren. Wir wären quasi ihre Parasiten und die hat es schon immer gegeben. Ich weiß nicht, woher er diese verrückte Idee nimmt, denn der Mensch müsste sich vollständig zurückentwickeln. Sehen, sprechen, sich bewegen, denken wäre eher hinderlich. 

 

Momentan sind schon Abschiedspartys für Silvester geplant und teilweise sogar ausgebucht. Erst wollen sich die Menschen einen gehörigen Rausch antrinken, sich kollektiv in die Arme fallen, um dann mit einem Gift-Cocktail dem Tod durch Ertrinken zu entkommen und möglichst sanft ins Jenseits zu gleiten. Also ich kann mit dieser Titanic-Romantik nicht viel anfangen.

 

Andere Menschen wiederum stehen Schlange für Tickets ins All. Sie hoffen, sich auf einem anderen Planeten eine neue Existenz aufzubauen. Das klingt mir zu sehr nach Science Fiction, denn einer Realisierung solcher Ideen hinken unsere Wissenschaftler nach. Weder der Mond, noch der Mars haben sich bislang als wohnlich erwiesen.

 

Ich habe beschlossen, das, was um mich herum passiert, für die Nachwelt zu dokumentieren.   Das mag verrückt sein, denn Papier wird sich ganz schnell im Wasser auflösen, Computer werden sich zu dem vorhandenen Schrott der Weltmeere gesellen. Aber irgendeine Beschäftigung braucht der Mensch, solange er noch nicht im Bauch eines Wales dahinvegetiert.

 

Die spannende Frage ist doch, wie verhalten sich die Menschen in den einzelnen Phasen nach Kübler-Ross bis zum Weltuntergang?

Nicht-wahr-haben-wollen habe ich bereits erwähnt.

Einen Sündenbock suchen – die Politiker oder die Wissenschaftler oder Gott – fällt wohl unter Zorn.

Sich einen Platz in einem Raumschiff zu sichern, unter Verhandeln.

Depressionen breiten sich bereits flächendeckend aus. Keiner verlässt mehr das Haus, stiert vor sich hin, verweigert die Nahrung, vernachlässigt sein Äußeres, schreit oder heult, je nach Temperament.

 

Wie aber wird die Akzeptanz aussehen? 

Die Menschen werden gemeinsam musizieren oder tanzen oder Bilder malen oder einen  Garten anlegen oder sich Geschichten ausdenken 

oder ein Theaterstück schreiben. Vielleicht ein Drama? Vielleicht eine Komödie? Vielleicht eine Satire? Sich dazu tolle Kostüme schneidern, von morgens bis abends proben,

oder sie werden mit ihrem Kühlschrank sprechen oder neue Stellungen beim Sex ausprobieren.

Das Unglück wird ihre letzten kreativen Kräfte freisetzen und sie können noch eine Zeitlang glücklich sein, auch wenn all ihre Anstrengungen absurd sind, denn nichts wird bleiben.

 

Sie haben von Kassandra nicht wirklich erwartet, dass ich Sie in diesen Krisenzeiten aufbaue!

Wenn Sie also wollen, betrachten Sie diesen Text als Griff ins Klo.