Von Angelika Zeising
Es ist ein ruhiger Morgen in einem Kleinstadtvorort.
Ola deckt den Tisch für das Frühstück, wie an jedem Tag. Das Esszimmer mit dem Panoramafenster wird von der Sonne durchflutet und wie jedes Mal zu dieser Zeit im Sommer muss Ola den Rollladen ein Stück herablassen, um beim Kaffeetrinken nicht geblendet zu werden.
Zufrieden sieht sie sich ihr Werk an. Zwei einfache Gedecke, ein Blumenbund und die Lieblingsspeisen des alten Ehepaares stehen bereit. Blutwurst für ihn, Kirschgelee für sie, dazu schwarzer Kaffee. Fehlen nur noch die frischen Brötchen.
Voll froher Erwartung lehnt sich Ola aus dem Fenster.
Vor ihr liegen die schmale Straße und der mit Rosen bepflanzte Vorgarten eine Etage unter ihr. Gegenüber sieht sie über das kleine hexenhausartige Gebäude hinweg, das sich durch seine Eingeschossigkeit und den weitläufigen Garten von den Nachbargebäuden abgrenzt. Allesamt sind es zweigeschossige Einfamilienkolosse, die sich in den Hang graben.
Dahinter liegt die Hauptstraße. Es herrscht viel Verkehr auf ihr, denn sie ist die direkte Stadtzufuhr. Ihre Häuser sind verwahrlost. Niemand wohnt freiwillig oder gern dort. Der einzige Lichtblick ist der Grünstreifen, der sich in gerader Linie auf der anderen Seite befindet. Er führt zwischen den alten Gebäuden hindurch und man sieht bis zu dem Wald hinab, der sich am Ende befindet.
Auf die Fensterbank gestützt, verliert sich Ola in dem schönen Bild des Grüns. Kurz darauf lässt ein spitzes Reifenquietschen sie zusammenzucken. Sofort schießt ihr Blick zur Einfahrt neben dem Rosenmeer.
Das Auto steht bereits, ihr Mann Ego schlägt die Fahrertür zu und eilt zum Haus. Sogleich hört sie seine aufgebrachte Stimme.
„Schatz! Ich bin zurück. Du glaubst nicht, was ich gerade erfahren hab.“
Mit schnellen Schritten poltert er die Stufen hoch. Ola empfängt ihn und nimmt ihm die Tüte ab.
„Herrje, mach langsam. Was kann so aufreibend sein, dass du hier rein stürmst, wie ein Irrer?“ Kopfschüttelnd geht sie voran und drapiert die Brötchen.
„Warts nur ab, wenn du es hörst, wirst du dich selbst aufregen.“ Er folgt ihr, doch anstatt sich, wie gewohnt, auf seinen Platz am Kopfende der kleinen Tafel zu setzten, steuert er das Fenster an. Er steht mit verschränkten Armen davor und deutet hinaus.
„Sie werden bauen“, platzt es aus ihm heraus. Ola sieht ihn mit kraus gezogener Stirn an.
„Was? Wer? Und wohin?“
„Die Investoren. Hier!“, nun zeigt er auf das Hexenhaus.
„Red doch keinen Unsinn. Da ist doch gar kein Platz.“
„Sie reißen es ab und bauen eine Wohnmaschine. Stell dir das vor. Zwei Stockwerke und ein ausgebautes Dach!“
Olas Augen werden groß.
„Das können sie doch nicht einfach machen. Wer soll denn da überhaupt einziehen, in so ein großes Haus?“
„Acht Wohnungen werden es. Acht! Weißt du, was dann hier los ist?“
Ola presst die Lippen aufeinander, ihre Augen werden glasig. Ego redet sich in Rage.
„Wenn ich allein an die ganzen Autos denke. Wie soll das gehen, wenn die ständig Geburtstag feiern? Dann parken die uns alles zu. Und was wird aus unseren Rosen, wenn eine Schar Nachbarskinder unbeaufsichtigt Fußball spielt? Und es braucht auch nur einer dabei zu sein, der eine dieser Höllenmaschinen fährt. Dann haben wir keinen ruhigen Samstag mehr, wenn regelmäßig der Motor läuft und geschmiert wird.“ Er stapft haareraufend auf und ab.
„Nein, das darf nicht sein. Du musst deinen Freund bei der Stadt anrufen. Er kann sicher etwas machen“, bibbert Ola.
„Das ist grandios!“, ruft Ego aus. Mit zwei Schritten ist er bei seiner Frau, drückt ihr einen zittrigen Kuss auf den Scheitel und verschwindet im Büro.
„Die Stadt. Hallo, was kann…?“
„Hallo mein alter Freund. Ich bin’s. Ich brauche deine Hilfe“, kommt Ego gleich zur Sache.
„Das du mich beehrst. Da muss es ja um Leben und Tod gehen“, lacht der Mann am anderen Ende.
„Es ist noch viel schlimmer. Sie wollen bauen, direkt vor unserer Tür. Kannst du das glauben?“
„Also hat sich ein Investor gefunden, der das alte Haus zu Geld macht. Ja?“
„Genau. Was können wir dagegen tun?“
„Warte kurz“, der Hörer wird abgelegt. Ego wippt auf seinem Stuhl.
„Es sieht nicht gut aus mein Freund. Der Antrag ist erst vor kurzem eingegangen, aber er wird bereits bearbeitet“, meldet sich der Kollege wenig später zurück.
„Was? Wie kann das sein? So schnell? Da hat doch jemand seine Finger im Spiel!“
„Vermutlich. Um es zu beschleunigen. Aber sie scheinen auch die Auflagen einzuhalten. Werden nicht höher, wie die Nachbarn, halten die Baugrenze und erlaubten Flächen ein. Es tut mir leid, ich befürchte, der Antrag wird durchgehen.“
„Ernsthaft? Das ist das Einzige, was du mir sagen kannst? Es tut dir leid? Das sollte es auch. Ich weiß nicht, wie wir das überstehen sollen. Ola hat bereits jetzt die Tränen in den Augen stehen. Wenn der erste Bagger kommt, können wir uns einweisen. Bist du dir sicher, dass es keinen Ausweg gibt?“
Der Freund räuspert sich und ein Rascheln ertönt. Dann Stille gefolgt von einem Flüstern.
„Ok, hör mir gut zu, denn was ich jetzt sage, wiederhole ich nicht. Wenn dich jemand fragt, hast du es nicht von mir. Verstanden?“
Wieder Stille.
„Ok“, antwortet Ego hektisch.
„Gut. Erinnerst du dich an den alten Zappelphilipp? Wir haben uns doch immer gefragt, wo sie diesen unnützen Zeitgenossen hin versetzt haben. Er selbst nennt es die Baubehinderungsbehörde. Sie haben keine Durchwahl oder Mailadresse. Nur denen, die wissen, wo diese Behörde sitzt, verschafft sie einen wahren Nutzen.“
„Und du weißt es?“, hakt Ego nach.
„Ja. Es war purer Zufall, dass ich sie entdeckt hab. Eigentlich hatte ich einen Ort für ein ungestörtes Nickerchen gesucht. Aber dann bin ich nichts ahnend in das Büro der Baubehinderungsbehörde gestolpert.“
„Und wo finde ich diese Behörde?“, fragt Ego mit wild trommelnden Fingern.
„Du musst runter ins Archiv. Am Ende nimmst du das Nottreppenhaus und gehst noch einen Stock tiefer. Unter dem letzten Treppenlauf gibt es eine Tür.“
„Du veräppelst mich doch. Das ist nicht lustig! Die Lage ist wirklich ernst“, empört sich Ego.
„Nein! Bitte glaub mir. So unnütz der alte Phil früher war, so hilfreich kann er dir heute sein. Komm vorbei und überzeuge dich selbst.“
Wenig später parkt Ego auf dem Mitarbeiterparkplatz. Es ist der perfekte Zeitpunkt. Frühstückspause. Sein alter Chip funktioniert noch und so ist es ein leichtes für ihn, ohne aufzufallen, das Archiv anzusteuern. Sein Freund hat nicht gelogen. Ego findet die besagte Tür auf Anhieb. Sie hat keine Beschilderung und lässt eher eine Besenkammer vermuten. Er klopft beherzt an und tritt sogleich ein. Was ihn auf der anderen Seite erwartet, hat nichts mit einem einfachen Büro zu tun. Ordnerüberladene Regale bilden einen kleinen Raum, in dem vier Leute hinter Glasscheiben sitzen. An der Wand gegenüber gibt es eine Art Vermittlungsstelle, wie man sie aus dem 19. Jhd. kennt.
„Hey! Was wollen Sie hier?“, schallt plötzlich eine zornige Stimme durch den Raum. Ego erkennt den alten Zappelphilipp sofort. Er kommt armwedelnd auf ihn zu.
„Na gehen Sie schon! Sie haben hier keinen Zutritt.“
„Nein“, sagt Ego mit breiter Brust. „Du musst mir helfen, so wie ich dir damals geholfen habe, als du keinen Job gefunden hast. Erinnerst du dich nicht?“
Phils Augen weiten sich.
„Du? Woher…?“
„Das spielt keine Rolle. Sie bauen und man hat mir gesagt, du kannst es verhindern.“
Kopfschüttelnd bittet Phil, Ego Platz zu nehmen.
„Wenn ich herausfinde, wer schon wieder vergessen hat abzusperren, dann …“, er deutet mit spitzem Finger auf seine Kollegen.
„Na schön. Es gibt verschiedene Optionen“, sagt er nun zu Ego gewandt und schiebt eine Broschüre über den Tisch.
Telefonate
kein Erreichen/dauerhaft besetzt 10 €
Vertretung und falsche Auskunft 15 €
Vertretung der Vertretung ohne Auskunft 20 €
Eingang/Ausgang verzögern 10 €
Abwesenheitsnotiz 15 €
Löschen von Anhängen 20 €
Prüfinstanzen involvieren
Amt für Barrieren 100 €
Stellplatzkontrollinstanz aller Fachbereiche 100 €
(Fahrräder/PKW/Kinderwagen)
Ohne weiterzulesen, sieht Ego mit offenstehendem Mund auf.
„Wie ist so etwas möglich?“
„Sie haben uns hier abgestellt, weil wir angeblich nichts taugen. Wir hatten Langeweile und haben uns ein paar Streiche ausgedacht. Irgendwann kam einer von uns mit einem ähnlichen Problem, wie deinem. Und plötzlich wurde aus einem Spaß ein wirklich lukratives Geschäft.“
Erneut wandern Egos Augen über die Liste. Sie haben tatsächlich eine Chance. Sein Lächeln erstirbt jedoch, als er am Ende auf die Verschwiegenheitsklausel stößt.
Verschwiegenheit
Schweigegeld/Strafgebühr 5.000 €
„Was? Schweigegeld?“, nuschelt Ego.
„Glaubst du wirklich die ganz oben wissen, was wir hier treiben? Wenn sie wüssten, wie ergiebig das Ganze ist, würden sie uns längst ausbeuten. Die Gebühr ist zu unserem Schutz. Bedenke. Wenn wir auffliegen, können wir Leuten wie dir nicht mehr helfen. Das Schweigegeld kannst du als Kaution ansehen. Wir können nichts garantieren, aber wenn du schweigst, erhältst du sie nach 10 Jahren zurück. Die Strafgebühr wird nur im Ernstfall fällig, dann behalten wir jedoch auch das Schweigegeld mit ein.“
Einen kurzen Moment zögert Ego, doch schließlich schlägt er ein. Was sind schon ein paar Euro gegen die wohlige Ruhe im eigenen Zuhause?
47 Monate später…
Ego sitzt am Ende der Tafel und stiert stoisch auf seinen Teller. Das Aufbackbrötchen vom Vortag liegt trocken vor ihm. Ola reicht ihm die Butter. Er sieht, wie sich ihre Lippen bewegen.
„Was!?“, fragt er laut und hebt eine der Kopfhörermuscheln an. Sie tut es ihm gleich.
„Lass es dir schmecken!“, wiederholt sie schreiend.
Die Baubehinderungsbehörde hatte ganze Arbeit geleistet. Ego hatte ein kleines Vermögen für Baubehinderungsleistungen ausgegeben und die Wohnmaschine wurde zur Zufriedenheit von Ola und Ego nicht gebaut. Doch dann kamen neue Pläne für das Grundstück auf. Der Versuch, auch diese zu torpedieren, missglückte jedoch.
Phil flog mit seinen Machenschaften auf und wenige Monate später begann der Bau des neuen Kindergartens, der heute vier Gruppen mit insgesamt 40 Kindern betreut.
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