Von Miklos Muhi

Im Alter von 12 war Chemie mein Lieblingsfach. Ich hatte nur Einser und nahm regelmäßig an Wettbewerben teil. Theorie und schulische Experimente reichten mir jedoch nicht. Ich wollte mehr Praxis.

So war ich ständig auf der Suche nach Substanzen zum Experimentieren. Einem Nachbarn, der mit so etwas arbeitete, konnte ich eine Flasche verdünnte Salzsäure abluchsen. Meine Eltern hatten nichts dagegen. Sie hofften, dass ich damit still und leise experimentieren und meine Leidenschaft für Chemie ausleben würde.

Als erstes Experiment hatte ich Säure in einer leeren Kaffeedose aus Blech gekippt. Darin befanden sich Zinkstücke aus einer alten Batterie, die ich auseinandergenommen hatte. Die Salzsäure reagierte mit dem Blech der Dose und dem Zink. Aus dieser Reaktion entstand unter anderen Wasserstoff. Natürlich herrschte in der Blechdose kein Vakuum. Das entstehende Gas vermischte mit dem Sauerstoff aus der Luft. Diese Mischung nannte man nicht umsonst Knallgas.

Bereits nach wenigen Minuten hatte ich den Deckel gehoben und ein brennendes Streichholz zum so entstanden Spalt gehalten. Ein leises Pfff war zu hören und der leichte Unterdruck im Inneren verschloss die Dose wieder.

Nach 20 Minuten wollte ich es noch einmal versuchen. Da ich nicht gleichzeitig den Deckel der Dose offenhalten und ein Streichholz zünden konnte, brauchte ich Hilfe und mein Vater war gerade in der Nähe. Ihm zu erzählen, dass es jetzt knallen würde, wäre kontraproduktiv gewesen. Als Alternative hatte ich ihn gebeten, mir bei meinem Experiment zu helfen. Seine Aufgabe war, den Deckel offenzuhalten. Solange ich mit der Streichholzschachtel beschäftigt war, strömte Luft und damit Sauerstoff in die Dose hinein.

Als ich die Flamme zur Öffnung hielt, sah ich eine blaue Stichflamme und ich hörte den lang ersehnten Knall. Der Deckel wurde vom entstehenden Unterdruck fest verschlossen und die Dose beulte sich an einigen Stellen nach innen. Eine Explosion und sogar eine Art von Vakuum hatte ich zustande gebracht!

Aus Mangel an Begeisterung für die erzielten Ergebnisse hatte mein Vater mir auf der Stelle weitere explosive Experimente verboten. Als Alternative hatte ich mir eingeredet, dass das Verbot nicht ganz ernst gemeint war, da es nur im Affekt ausgesprochen wurde.

Es verging nicht einmal ein Monat nach dem Vorfall mit dem Knallgas, als ich mit einer Flasche Salpetersäure in meiner Jackentasche durch die Stadt radelte. Das Zeug hatte ich aus der Schule, in der mein Vater als Lehrer arbeitet, wo man mich kannte und im Chemielabor alleine ließ.

Etwas aus einer Schule zu klauen galt damals als Diebstahl von Volkseigentum und hätte ernsthafte Konsequenzen haben können. Als Alternative hatte ich mir eingeredet, dass niemand etwas merken würde.

Auf dem holprigen Weg nach Hause dachte ich an die angebrochene Flasche Glycerine in meiner Schublade. Die hatte ich in einer Apotheke gekauft, um daraus und aus Methylenblau eine Tinte herzustellen. Die Tinte, wofür man nur einige Tropfen brauchte, war längst in Gebrauch.

Salpetersäure und Glyzerin sollten sich zum Nitroglycerin verbinden. Das war Bestandteil eines Herzmedikaments, das die Gefäße erweiterte und die Enge in der Brust lindern konnte. Oma brauchte es hin und wieder. Mit solchen Enkelsöhnen war das wirklich kein Wunder.

Dem hochexplosiven Nitroglyzerin hatten wir auch das Dynamit und sämtliche Nobelpreise, die je verliehen wurden, zu verdanken.

Omas Tabletten explodierten jedoch nicht, denn sie beinhalteten nur geringe Mengen. Selbst wenn genug da gewesen wäre, hätten die Füllstoffe eine Explosion verhindert, als ich in einer Gasmaske als Schutz mit einem Hammer auf sie einschlug.

Mit dem unspektakulären Zerbröseln der Pillen war ich unzufrieden, so entschied ich mich, Nitroglycerin selbst herzustellen.

Zu Hause angekommen legte ich das verdächtig nasse Säurefläschchen auf den Werktisch im Schuppen, hängte meine Jacke in den Schrank und suchte einen Behälter, in dem die zwei Substanzen sich näherkommen konnten.

Das Chemielabor der Schule war mit allerlei Behältern aus Glas ausgerüstet, weil Glas chemisch gesehen inert war, also nicht an Reaktionen teilnahm. Man musste diese Behälter sauber halten und sich vor jedem Experiment überzeugen, dass sie sauber waren. Als Alternative nahm ich eine Kunststoffdose, in der noch Reste einer Handcreme steckten.

Zuerst hatte ich das Glycerin hineingekippt, dann die Salpetersäure.

Sofort fing die Mischung an zu brodeln, dicker lila Rauch stieg auf und es stank unbeschreiblich. Das passte nicht zu meinem theoretischen Wissen: Vom aufsteigenden Rauch in exotischen Farben war nirgendwo die Rede und die Mischung blieb nicht klar. Ich versteckte die Dose hinter der gerade unbewohnten Hundehütte.

Am nächsten Tag war die Reaktion vorbei. Die entstandene Masse hatte eine undefinierbare Farbe und sah so gar nicht nach Nitroglycerin aus.

Froh darüber, dass ich nicht aufgeflogen war, schmiss ich die Dose in die Mülltonne und organisierte den Inhalt um, damit man mein gescheitertes Experiment nicht sehen konnte.

Einige Wochen nach meinem missglückten und unbemerkten Versuch, Sprengstoff herzustellen (ebenfalls eine sehr strafbare Handlung damals und vermutlich auch heute), wurde die ganze Familie zu einer Geburtstagsfeier eingeladen. Am Tag der Feier war es kühl und regnerisch. Davor war es trocken, warm und sonnig: Jackenloses Wetter eben.

Kurz bevor wir losfahren mussten, holte ich meine Jacke aus dem Schrank. Wo früher die linke Tasche war, prangte ein unförmiges Loch. Die Ränder sahen wie verbrannt aus und hatten eine gelb-orange Färbung, die nicht zum Grün des Kleidungsstücks passte.

Nicht einmal der Verschluss der Säureflasche war ganz dicht.

Meine Mutter bestand darauf, dass ich jene Jacke trage. Ich wollte ihr das ausreden, unterlag aber in dieser Diskussion. Als Alternative zu einer ruhigen Fahrt zur Feier gab es unangenehme Fragen.

Hätte ich sie wahrheitsgemäß beantwortet, hätte es Konsequenzen gegeben, die ich nicht tragen wollte. Irgendetwas musste ich jedoch erzählen. Als Alternative hatte ich eine Geschichte über einen Laborunfall mit der Salzsäure, die ich vom Nachbarn hatte, aufgetischt.

Mit der praktischen Chemie war vorerst Schluss, aber ich merkte, dass ich aus dem Stegreif komplizierte Geschichte ausdenken konnte. Das war ein alternativer Ausdruck dafür, dass ich schamlos gelogen hatte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken – eine ausgezeichnete Voraussetzung für eine Karriere in der Politik. Ich verabscheute jedoch schon damals abgrundtief alles, was mit Politik zu tun hatte.

Ich hatte angefangen, meine Geschichten aufzuschreiben. So wurden manche alternativen Fakten zur Literatur.

 

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