Von Regina W. Egger

Als Candida noch ein Kind war, hatte sie sich immer eine Zwillingsschwester gewünscht, ein zweites Ich, das von ihr selbst nicht zu unterscheiden war. Und immer, wenn jemand etwas von ihr forderte, das sie nicht wollte, wünschte sie sich den Zwilling herbei, der für sie einspringen sollte. 

Wenn also die Mutter wieder einmal von einem ihrer Männer sitzen gelassen worden war und sich deshalb besonders anhänglich zeigte, dann setzte Candida in Gedanken diese Zwillingsschwester ein. Sie machte sich vor, die Schwester ließe die rührseligen Liebkosungen der Verlassenen über sich ergehen, ihre schluchzend hingeworfenen Sätze: „Du, mein Kind, bist das Einzige, das ich noch habe.“  Und die Zwillingsschwester würde es sich dann sogar gefallen lassen, dass die Mutter ihr, die längst schon selbst lesen konnte, Bilderbücher vortrug. Pflichtschuldig würde so der Zwilling Mutters Bedürfnis nach Nähe stillen.

Aber das mit der Zwillingsschwester verwarf Candida, als sie erwachsen wurde. Vielmehr wuchs in ihr der Wunsch nach einer Maschine, einem Roboter, der haargenau ihr Aussehen hatte und diese Roboterfrau nannte sie Candy. Candy, wenn es sie denn gäbe, würde all die unliebsamen Liebesdienste übernehmen, die Candidas Mitmenschen ständig von ihr verlangten. 

Zum Beispiel ihr Mann Pius. Er brachte sie regelmäßig in Gewissenskonflikte. Erst neulich als sie beide nach einem anstrengenden Arbeitstag auf dem Sofa vorm Fernseher saßen, da hätte Candida so gerne die „Vorstadtweiber“ angeschaut. Aber Pius wollte partout mit ihr schlafen. Und damit nicht genug, er hatte neuerdings besondere Wünsche, kaufte Candida hochhackige Schuhe, Klamotten aus Lack und Leder, die sie für ihn tragen sollte. Und dann veranstaltete er ein Theater, das er sich von irgendeinem Pornofilmchen abgeguckt hatte. Candida spielte wohl oder übel mit und versäumte dabei wieder einmal eine Folge ihrer geliebten Fernsehserie.  

Aber sie war zu wohlerzogen, um sich den Wünschen ihres Ehemannes, ihrer Mutter und ihrer Mitmenschen zu versagen.

Und doch wurmte es sie, dass man regelmäßig ihre Grenzen überschritt, ihren Körper manipulierte, sie in ein Korsett zwang. 

Deshalb begann Candida im Internet zu recherchieren, und tatsächlich stieß sie auf eine Seite, die versprach, ihr bei der Konstruktion ihrer Roboterfrau, ihrer zweiten Identität, zu helfen. Ja, es gab sogar eine detaillierte Anleitung, wie vorzugehen sei. Und ein Forum existierte auch, in dem man Posts über den erfolgreichen Einsatz von Zweitidentitäten finden konnte. Da schickten beispielsweise Leute ihre Roboter zu Impfungen, die ihnen der Staat aufzwang, und sie lachten sich dabei ins Fäustchen, weil sie selbst damit dem unliebsamen Stich entgingen.

Nach der Lektüre dieser Seiten war Candida fest entschlossen, an der Roboterfrau Candy zu bauen. Jeden Morgen nach dem Aufwachen fegte sie mit einer feinen Bürste das Leintuch ab und die Hautschüppchen, die sie nachts verloren hatte, sammelte sie. Auch die Haare pickte sie vom Kopfpolster auf. 

Immer am Wochenende arbeitete sie nun an ihrer Roboterfrau. Dann nämlich stahl sie sich in die Werkstätte des Großvaters und schnitzte an der Frau aus Holz, der sie mit den Hautschüppchen und den eigenen Haaren würde schließlich das Leben einhauchen. Sie verwendete dabei nur Naturmaterialien.

Der Großvater war übrigens längst tot und in seinem Haus wohnte jetzt die Mutter. Die hatte immer noch keinen Mann, der bei ihr blieb, und die Aussicht je einen solchen zu bekommen, sank von Tag zu Tag. Deshalb verlangte sie jetzt von ihrer Tochter, sie wenigstens am Wochenende zu besuchen und auch das Enkelkind mitzubringen. Das Enkelkind, fand Candida, war in diesen Fällen sehr praktisch, es war beinah so wie jene Zwillingsschwester, die sie sich immer gewünscht hatte. Denn wenn sie es bei der Mutter ließ, war diese beschäftigt und sie selbst konnte in die Werkstätte des Großvaters entschlüpfen und an ihrer Roboterfrau basteln. 

Candy nahm bereits Gestalt an, sie hatte schon Beine, schlank und weiß wie die eigenen, und auch einen Leib hatte sie, und Arme. Bloß der Kopf fehlte noch und die Finger.

Candida schnitt die Roboterfrau aus Lindenholz, sie benutzte dabei die scharfen Werkzeuge des Großvaters. Der hatte immer Wert daraufgelegt, dass die Schnitzmesser gut geschliffen waren, denn das erleichterte die Arbeit. Der Großvater war Techniker gewesen, ein Diplomingenieur, der im nahen E-Werk gearbeitet hatte. Er hatte die Turbinen zum Laufen gebracht, aus Wasser Strom erzeugt. 

„Die Menschen haben die Technik erfunden, weil sie zu faul zum Arbeiten waren! Und damit haben sie sich ein Stückchen mehr freie Zeit gesichert, die sie nun nach Herzenslust und eigenem Gutdünken genießen konnten“, hatte ihr der Großvater immer erzählt. 

In der Schnellbahn, auf dem Weg zur Arbeit, dachte Candida über die Worte des Großvaters nach. Er hatte also aus Faulheit gearbeitet? Und sich mit dieser Faulheit ein Stückchen Freiheit erkauft? Arbeitete vielleicht auch sie selbst aus Faulheit an ihrer Roboterfrau? War sie im Grunde genommen zu faul, sich auf die Mutter einzulassen, mit Pius Sexspielchen zu spielen und dem vierjährigen Sohn stets eine gute Mutter zu sein? 

Candida bemühte sich ja, allen Anforderungen stets nachzukommen, aber irgendwie war – sie musste es zugeben – doch innerlich ihr Wunsch da, dem Müßiggang zu frönen, sich ein Fitzelchen Freiheit zu erkämpfen und sich zurückzuziehen. Und zwar in ihre eigene Nussschale.
Ja, genau, sie stellte sich vor, in einer Walnussschale Zuflucht zu nehmen. Diesen Wunsch hegte sie schon ihr Leben lang.

Und das kam so: Kurz vor Weihnachten hatte Candida als Kind dem Großvater beim Nüsse-Aufklopfen geholfen. Er benutzte dazu einen kleinen Hammer und ein spitzes Messer. Er wusste ganz genau, wie er auf die Nuss schlagen musste und mit welch wohl dosierter Kraft, damit sie sich just an der Stelle öffnete, wo sie gleichsam wie mit einer Naht zusammengewachsen war. Er war eben ein Techniker. Mit dem kleinen Messer bog er dann die zwei Hälften auseinander und der Kern fiel unversehrt aus der Schale. Auch die zwei Schalenhälften blieben ganz.
So oft Candida auch als Kind versuchte die Nuss ebenso wie der Großvater aufzuschlagen, so oft misslang es ihr auch. Die Schale zersplitterte und auch der Kern zerbarst. Sie musste mühevoll die Nussstückchen von den Kernsplittern trennen, denn die Großmutter mochte es nicht, dass sich ein Stückchen Schale in ihre Schüssel voll Kerne verirrte. „Da beißt man sich dann am Ende noch einen Zahn aus.“
Aber vor kurzem probierte sie es wieder und es gelang. Sie nahm es als Zeichen. Die beiden unversehrten Schalenhälften bewahrte sie auf und benutzte sie als Sehnsuchtsort, in den sie sich in Gedanken zurückziehen und ihrer Faulheit frönen konnte. Dort konnte sie träumen. Von fremden Ländern. Vor allem von Südkalabrien. Immer wieder reiste Candida in ihrer Nussschale ins ferne Südkalabrien, dorthin, wo sogar die Hühner lachten. Denn der Großvater hatte immer gesagt, wenn etwas so undenkbar war, dass man es sich nicht vorstellen konnte: „Das ist ja völlig unmöglich. Das ist so lächerlich, da lachen ja die Hühner von ganz Südkalabrien!“

 

Neulich war Candida beim Frauenarzt gewesen. Der hatte ihre Brust abgetastet, dann hatte er sie zur Mammografie geschickt und anschließend noch zur Biopsie. Da hatten sie aus dem Drüsengewebe ein kleines Schnipsel herausgezwickt und das wurde untersucht. Und man möchte es kaum glauben, aber sie hatten festgestellt, dass es Krebs war. Candida war nahe daran zu rufen: „Das ist ja völlig unmöglich. Alles Quatsch! Ich habe mich doch immer gesund ernährt! Das ist so lächerlich, da lachen ja die Hühner von ganz Südkalabrien!“ 

Aber die Ärzte hätten wohl keinen Spaß verstanden, denn sie schauten ganz finster drein und klärten sie auf, dass man zuerst eine Chemo machen würde, damit der Tumor schrumpfe und dann würde sie operiert. Man werde versuchen, die OP brusterhaltend durchzuführen, aber natürlich wisse man nicht, ob schließlich nicht doch mehr Gewebe entfernt werden müsse. 

Seit Candida diese Diagnose erhalten hat, arbeitet sie noch fieberhafter an ihrer Roboterfrau, denn sie ist fest entschlossen, Candy die Chemo machen zu lassen und sie der Operation zu unterziehen. Ihr dürften dann die Haare ausfallen, die sie ihr zuvor mühevoll eingepflanzt hätte, und sie dürfte auch die wohlgeformte Lindenholzbrust verlieren. An ihr, an Candy, dürften die Ärzte herumschneiden, wenn sie, Candida, mit einem leise gedachten „nein, mit mir macht ihr das nicht“ der Roboterfrau den Befehl gab, an ihre Stelle zu treten.
Sie selbst aber, Candida, würde sich in der Zwischenzeit völlig unversehrt in ihre Nussschale zurückziehen und von Südkalabrien träumen. Sie würde dort faul in einer Hängematte liegen und die Hühner beobachten, wie sie sich im Sand badeten und vor Lachen kugelten.

 

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