Von Björn D. Neumann

 „Annegret, Gerda, Gudrun! Wo bleibt ihr denn?“ Elisabeth Kaiser trommelte ungeduldig mit den Fingerspitzen an der gefliesten Wand des Umkleideraums. Sie wusste, dass Maître Pierre keine Verspätung duldete. Sie würde nie wieder einen der heißbegehrten Tische des Spitzenkochs und Newcomers der Gastro-Szene erhalten. Im Eingangsbereich des neuen Restaurants  ‚Chez Platsch!‘ prangten die zwei Sterne des Guide Michelin und 4 Hauben des Gault-Millau auf polierten Messingtafeln. Es war fast unmöglich, hier eine Reservierung zu bekommen, aber was war für Elisabeth schon unmöglich? Schließlich hatte sie sich als junge Sekretärin einen der heißbegehrtesten Junggesellen und CEO eines Weltkonzerns geangelt. 30 Jahre, zwei Kinder und eine lukrative Scheidung später, genoss sie den Luxus. Die teuersten Gourmet-Tempel, erlesensten Hotels und angesagtesten Designer-Fummel waren ihr gerade gut genug. Die Mitte 50 sah man ihr ebenso wenig an, wie ihre Schwäche für jegliche Köstlichkeiten. Personal-Trainer und hervorragender Stoffwechsel sei Dank.

„Elisabeth, ich komme mir schon etwas merkwürdig vor, in diesem Aufzug essen zu gehen.“ Gerda war die erste der Freundinnen, die ihre Umkleidekabine verließ und sich kritisch im großen Spiegel musterte. 

„Das ist ja das vollkommen neue Konzept von Maître Pierre. Genuss mit allen Sinnen. Fernab jeglicher Konvention.“

„Ja, wenn man deine unverschämte Figur hat, kann man auch im Badeanzug speisen. Was soll eigentlich diese dämliche Badekappe?“

„Wahrscheinlich damit uns keiner erkennt.“ Jetzt war auch Annegret fertig und trat zu den zwei Frauen, die ihre engsten Freundinnen waren. Sie alle verband die Liebe zum Luxus und das Verprassen der Abfindungen, Schmerzensgelder, oder wie in Annegrets Fall, Erbe ihrer Männer und Ex-Männer. 

Gerda, die vierte im Bunde, ließ ihren Mann dafür bluten, dass sie stillschweigend die außerehelichen Eskapaden ertrug. Es war eine Win-Win-Übereinkunft. Er ließ sie in Ruhe. Sie sah über seine Affären hinweg und das Geld, welches in die Taschen der Scheidungsanwälte geflossen wäre, konnte genauso gut in Champagner investiert werden. „Und die Schwimmbrillen müssen auch unbedingt sein?“, fragte sie während sie ihren Versace-Badeanzug zurecht zog.

„Die Brillen sind blickdicht, wir sehen also nicht, was wir essen und können uns so ganz auf den Geschmack einlassen. So, meine Damen. Lasst uns speisen.“

***

Der Ober, bekleidet mit schwarzem Taucheranzug, Taucherbrille, Flossen und Schnorchel, führte die Damen an ein Becken. In der Mitte stand ein voll eingedeckter Tisch, dessen Platte knapp über die Wasseroberfläche ragte. Drum herum standen vier Stühle, so dass der Besucher bis zu den Achselhöhlen im Wasser saß. „Meine Damen, darf ich Sie nun bitten, Platz zu nehmen?“

Die Freundinnen ließen sich nacheinander in das angenehm warme Wasser gleiten und setzten sich kichernd wie kleine Schulmädchen an die Tafel.

„Wenn Sie jetzt so freundlich wären, die Brillen aufzusetzen, werde ich Ihnen den Wein des Abends einschenken. Es handelt sich um eine „Gänseburger Spätlese“ aus Rheinhessen von 2012.“

„Rot oder weiß?“, wollte Gerda wissen.

„Excusé, das darf ich Ihnen nicht verraten. Vertrauen Sie Ihren Sinnen.“ Nachdem er eingeschenkt hatte, ließ er einen Gong ertönen, als Zeichen, dass alle bedient wurden.

Elisabeth ertastete vorsichtig das Glas und hob es in die Höhe. „Auf einen schönen Abend, meine Lieben!“ Nach dem ersten Schluck seufzte sie: „Ah, vollmundig, aber dennoch von einer hinreißenden Leichtigkeit.“

„Das ist ein Roter – 100%“, glaubte Gudrun zu wissen.

„Nein, ein Weißwein. Ich bin sicher, dass wir den im Keller stehen haben“, entgegnete Gerda.

„Ich habe erst neulich einen ähnlichen in Monaco getrunken. Das war ein Blanc-de-Noir.“ Annegret spielte mit der Flüssigkeit hörbar in ihrem Mund.

„Als Vorspeise darf ich Ihnen ein „Schäumchen von Solan de Cabras“ servieren.“ Wieder erklang der Gong.

„Mmh, „Solan de Cabras“-  ist das nicht eine Austern-Art?“ Gudrun nahm vorsichtig einen Löffel und führte ihn sachte zum Mund. „Oh, eindeutig ein Austern-Espuma.“ 

„Du hast vollkommen recht. Diese Leichtigkeit. Einmalig. Diese Speise nimmt mich mit auf eine Reise.“ Jetzt geriet Elisabeth ins Schwärmen. „Ich sehe mich geistig in Cancale. In einem kleinen Bistro direkt an der Küste. Eine sanfte Brise streichelt meine Haut.“

„Hinreißend! Ich kann das Meer förmlich riechen. Mädels, wenn das so weiter geht? Hach.“  Gerda seufzte und schob sich den nächsten Löffel in den Mund. „Aber das kann man für 400 € pro Nase ja auch erwarten.“

***

„Als nächstes gibt es ein Süppchen à la Voss mit Caroo-Kaviar.“ Der nächste Gong.

„Oh, diese zarten Kügelchen. Wenn die im Mund zerplatzen. Das ist ja Gaumen-Fasching.“

„Besser als jeder Orgasmus. Jedenfalls als es jeder mit Hans-Diether war.“ Gudrun lachte lauthals auf.

„Naja, steif sollte er ja jetzt sein in der Kiste.“ Elisabeth prustete einen Teil der Suppe wieder auf den Teller. „Oh Mann, das muss der Wein sein. Ober! Nochmal Gänseheimer für alle!“

„Excusé, Gänseburger. Gänseburger Spätlese.“

„Meinetwegen, mach‘ voll die Gläser!“

„Sehr wohl, die Damen!“

„Auf unsere Männer, ob unter der Erde oder in fremden Federn. Hauptsache sie zahlen!“, prostete Elisabeth ihren Freundinnen zu.

„Auf unsere Männer!“, erklang es einstimmig zurück.

Drei Flaschen und zwei Gänge später war es Zeit für das Dessert. Der Ober, die Damen nannten ihn inzwischen bei seinem richtigen Namen, Tobias, watschelte in die Küche. „Maître Pierre, die Damen wünschen nun das Dessert.“ Tobias ließ sich erschöpft auf einen Schemel fallen. 

„Oui, viermal Granité de congélateur.“ Maître Pierre schritt entschlossen mit einem Eispickel zum Gefrierfach des Kühlschranks. Mit ein, zwei gezielten Stichen befreite er es von einer dicken Eisschicht. Zwei große Teile davon gab er in den Crusher, der sie unter lauten Geräuschen in feine, glitzernde Stückchen verwandelte. Diese Sorbet-artige Masse verteilte er gleichmäßig auf vier Dessertschälchen und gab Tobias das Zeichen zum Servieren. Dann machte er sich daran, weitere Gänge vorzubereiten. Er versah eine Flüssigkeit mit genau abgewogenem Soja-Lecithin und schlug die Mischung auf, bevor er sie in eine Sprühflasche einfüllte. Auf dem Herd dampfte ein Topf klaren Wassers. Er nahm eine Kelle, füllte sie auf einen Suppenteller. Aus einer Spritze ließ er kleine Perlen aus einer Mischung von Wasser und Agar-Agar-Pulver in eiskaltes Öl tropfen. Die gelierten Kügelchen gab er mit auf den Suppenteller. Es war die Krone der Molekular-Küche. Und es bestand alles nur aus einer Zutat. Klarem Wasser.

***

„Was für ein krönender Abschluss das war. So ein sündhaftes Dessert. Himmlisch. Das müssen wir unbedingt wiederholen.“

„Du hast recht, Elisabeth. Es war eine außergewöhnliche Erfahrung. Man hat das Gefühl, man kann alles besser schmecken, wenn man nichts sieht.“

„Und man fühlt sich überhaupt nicht so vollgefressen. Alles war so leicht. So beschwingt.“

„Es war eine Reise durch verschiedenste Geschmackswelten. Ich bin ganz begeistert, Elisabeth.“

„Dann wünsche ich euch noch einen schönen Abend. Ich bezahle noch schnell.“

„Dir auch einen schönen Abend, Elisabeth und danke für die Einladung.“

Mit der Kreditkarte in der Hand winkte die Gastgeberin ihren Freundinnen nach. 

***

Obwohl sie eigentlich eine Flasche Wein intus hatte, fühlte sich Elisabeth alles andere als betrunken, ja nicht einmal angeheitert.  So beschloss sie, trotz besseren Wissens, mit dem Auto zu fahren. Auf dem Weg zurück war schon von Weitem die Leuchtreklame von „Willis Frittenschmiede“ zu lesen. Trotz des mehrgängigen Menüs spürte sie einen leichten Appetit. Appetit? Das war ein ausgewachsener Hunger. Als sie den Porsche auf den Schotter des kleinen Parkplatzes lenkte, traf sie fast der Schlag. In einer Reihe standen dort der Mercedes von Annegret, der BMW von Gerda und der Audi von Gudrun. 

„Erwischt!“, rief sie, als sie ihre Freundinnen an einem der Stehtische sah, wie diese sich lachend mit Bierdosen zuprosteten. Leicht vorwurfsvoll zog sie eine Augenbraue hoch. 

„Oh, Elisabeth. Wir wussten nicht …“, stammelte Gudrun.

„Soso, ihr wusstet nicht. Willi, gib mir bitte eine Dose Bier und dann mach‘ mir eine Manta-Platte – ich hab‘ Kohldampf.“ Zischend öffnete sie die Getränkedose und nahm einen tiefen Schluck. Es gelang ihr nicht, den darauffolgenden Rülpser zu unterdrücken. „‘Tschuldigung, irgendwie habe ich einen Wasserbauch.“

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