Von Irmi Feldman

„Jetzt reicht’s!“, rief die Schaufensterpuppe, streckte ihre langen Arme und Beine, massierte ihren steifen Hals und sprang – leider noch etwas ungeschickt – vom Podest herunter. Sie war das einzige deutsche Produkt in der internationalen Vierergruppe, die seit Jahren das Schaufenster der Bademodenfirma Huber zierte. 

„Basta ya!“, machte es ihr das spanische manequí nach.

„Enough is enough!“, erklärte auch das American model.

„Basta cosi!“, warf das vierte aus Italien importierte manichino ein. 

 

Jahrelang hatten die vier geduldig und brav und mit zartem Lächeln ihr langweiliges Dasein gefristet. Aber jetzt war das Maß voll. 

Sie hatten genug davon, dass jeder sie so behandelte, als wären sie leblose Puppen. Noch nie hatte jemand sie gefragt, ob der Bikini oder der Badeanzug, den man ihnen an- und aus- und wieder anzog, auch ihrem Geschmack entsprach. Ob ihnen grün oder blau oder gelb oder weiss besser zu Gesicht stand? Ob Badekappen ihre Kopfhaut zum Jucken brachten? Ob die Bikiniträger ins Fleisch schnitten? Oder das Bikinihöschen hinten ständig hochrutschte? Niemand hatte je auch nur den geringsten Gedanken daran verschwendet, wie sich Mannequins fühlen, wenn sie halb nackt den Blicken der ganzen Stadt, ja der ganzen Welt ausgesetzt waren.

Jahrelang hatten sich die Schaufensterpuppen die Gespräche und Wortfetzen der Kunden über Wasser und Baden anhören müssen: Die einen jammernd, weil sie Badeanzüge kaufen mussten, obwohl sie ihren Körper lieber angezogen als halb nackt am Strand platziert hätten. Die anderen freudestrahlend, weil sie ihre Brüste und Bäuche gern der Öffentlichkeit darlegten. Jedem das Seine eben.  

Warum kam keiner auf die Idee, die Models zum Baden einzuladen?, fragten sie sich oft in den dunklen Stunden der Nacht. Es war ungerecht, dass sie tagein, tagaus Badebekleidung präsentieren mussten, ohne sie je im Wasser zu testen.   

Und so kam es, dass an diesem Montagmorgen die vier Grazien, denn anders konnte man sie unmöglich nennen, sich entschieden, einen kleinen Badeausflug zu unternehmen. Alle trugen einen farblich zu ihrer Badekappe abgestimmten Badeanzug. Übrigens, ihre Badebekleidung war das Einzige, was sie voneinander unterschied. Figur- und gesichtsmäßig waren sie alle gleich: schlanke, lange Gliedmassen, glatte Haut, ebenmäßige Gesichtszüge: perfekt, wie man das von Schaufensterpuppen erwartet. 

Auf noch unsicheren Beinen, aber unter weit aufgerissenen Augen der Verkäuferinnen und der eilig herbeigerufenen Geschäftsführerin, stolperten die Grazien durch die von der ersten Kundin aufgehaltene Eingangstür.  

Tief einatmend blieben sie vor dem Geschäft stehen, um sich zu orientieren. Schließlich war es das erste Mal, aber hoffentlich nicht das letzte wie sie insgeheim hofften, dass sie Freiheit schnupperten.  

„Wasser?“, fragten sie wie aus einem Munde Herrn Mosler, der, auf dem Weg zum Zahnarzt, einen Umweg über das Modehaus gemacht hatte, um sich vor der unangenehmen Wurzelbehandlung noch eine Augenweide zu genehmigen. Er konnte sein Glück kaum fassen, als die leichtbekleideten Modelle vor ihm auftauchten. So leibhaftig nah war er den Schaufensterpuppen noch nie gewesen. Wenn er sich getraut hätte, hätte er sie angefasst.  

„Wasser?“, unterbrachen die Grazien Herrn Moslers Gedankenfluss noch einmal. 

„Ähh! Zum Trinken?“, fragte Herr Mosler und konnte seinen Blick kaum von den sanften Kurven der Fragenden abwenden.  

„No, no! Nein, nein!“, entgegneten die Grazien. „Zum Baden! Wasser zum Baden!“

„Zum Baden?“, wiederholte Herr Mosler. „Jetzt? Es ist doch erst April, da ist es doch noch viel zu kalt zum Baden.“

„Jetzt baden!“ Die Grazien bestanden darauf. „Wo ist das Wasser zum Baden?“

„Der See liegt in dieser Richtung“, sagte Herr Mosler und zeigte vage in Richtung Westen. 


Die Grazien bedankten sich und machten sich auf den Weg in diese Richtung. 

Dieser Wortaustausch, der wohl keine 20 Sekunden gedauert hatte, schoss durch die Ortschaft wie ein Lauffeuer. Jeder erzählte es jedem. Und so kam es, dass sich in weniger als fünf Minuten die halbe Ortschaft hinter den Grazien versammelt hatte.  

Jeder, der sich irgendwie auf den Beinen – oder auch nicht – halten konnte, folgte den Grazien, die ihrerseits gemächlich flanierten, einerseits, weil sie sich erst ans Gehen gewöhnen mussten, andererseits aber um die Landschaft, die sie noch nie erlebt hatten, zu geniessen. Schaufensterpuppen werden nämlich in dunklen Lastwägen und nicht in gläsernen Fahrzeugen transportiert. 

Es versprach, ein schöner Tag zu werden, wettermässig, und auch sonst. 

Als die Grazien nicht mehr weiterwussten, denn der Weg zum See war alles andere als schnurgerade, sah der Bürgermeister es als seine Aufgabe an, ihnen den rechten Weg zu weisen. Und weil der Bürgermeister nun der Anführer war, nahm der herbeigeeilte Stadtrat an, dass es sich um ein offizielles Unterfangen handelte, das auch ihre Anwesenheit erforderte. Aber sie wären sowieso gekommen. Schaufensterpuppen zum Badeausflug zu begleiten, wenn es nun mal anstand, gehörte zu den angenehmeren Aufgaben eines Stadtrates.  

Und weil der Stadtrat nun dabei war, wurde auch gleich noch die Blaskapelle mobilisiert. Prozedur ist Prozedur und muss unter allen Umständen aufrechterhalten werden.  

Der Schuldirektor, der sich den Anblick auch nicht entgehen lassen wollte, erklärte die Prozession kurzerhand zum Schulausflug, so dass Kinder und Lehrer sich nun auch offiziell der Karawane anschliessen konnten, ohne des Schuleschwänzens beschuldigt zu werden. 

Der Pfarrer und der Pastor, begeistert wegen der grossen Menschenansammlung, überlegten ob sie vielleicht einen Gemeinschaftsgottesdienst am See veranstalten könnten. Fast so wie bei der wunderbaren Brotvermehrung, natürlich ohne Brot und ohne Fisch. Am Ende entschieden sie sich allerdings dagegen, nicht zuletzt auch wegen der spärlichen Bekleidung der Schaufensterpuppen.

Jeder war dankbar für die Abwechslung. 

Der Bürgermeister und etliche Mitglieder des Stadtrates fragten sich insgeheim, ob dieser Tag vielleicht als Feiertag offiziell anerkannt werden sollte. Natürlich musste so etwas vom Stadtrat abgestimmt werden, aber angesichts der Begeisterung der Bevölkerung, würde dieser Vorschlag höchstwahrscheinlich genehmigt werden. Wer würde schon gegen einen zusätzlichen Feiertag stimmen? 

Angeführt von Bürgermeister, Stadtrat und Blaskapelle, und gefolgt von mittlerweile der ganzen Ortschaft, erreichten die Grazien so gegen halb zwölf – und die Einzelheiten würden später von der Presse ausführlich geschildert werden – den See, der leider noch total im Schatten lag. 

Ohne mit der Wimper zu zucken, was für Schaufensterpuppen ein einfaches Unterfangen ist, aber unter angehaltenem Atem aller Anwesenden wateten die vier Grazien in das noch eiskalte Wasser. Die Freude und der Genuss war ihnen vom Gesicht abzulesen, den Grazien, nicht der Bevölkerung, die die Idee, freiwillig ins eiskalte Wasser zu steigen, horrend fand. 

„Ah!“, riefen die Grazien. „Wir baden im Wasser.“

Der Mütterverein, praktisch wie immer, weil Mütter das generell so an sich haben, hatte eilends ein Picknick organisiert und auch den Grazien ein Tablett auf einem Schwimmreifen ins Wasser geschoben. Baden macht hungrig, das wussten die Mütter aus Erfahrung. 

Die Presse, die natürlich immer und überall dabei ist, war es auch bei dieser Gelegenheit und so entstand das Foto, das später nicht nur in der Ortszeitschrift Furore machte, sondern auch national, ja sogar international weites Interesse erregte.  

Nach einer Stunde hatten die Grazien genug vom Baden und stiegen wieder aus dem Wasser. Ob es ihnen vielleicht doch ein bisschen zu kalt geworden war oder ob sie einfach genug von ihrem Ausflug hatten, wurde nie herausgefunden. Tatsache ist, dass die ganze Bevölkerung noch anwesend war, um sie zurück zum Bademodenhaus Huber zu begleiten. 

Dort angekommen, nahmen die Grazien, müde von der Anstrengung, aber glücklich über ihren Badeausflug wieder Platz und Position auf dem Podest ein. 

Das Geschäft bei Huber ging an diesem Tag ausgezeichnet, was nicht zuletzt der weisen Voraussicht der Geschäftsführerin zu verdanken war, die Regale so platzieren ließ, dass sie einen schmalen Gang durch das Geschäft bildeten, wo sich die Bevölkerung, vorbei an eilig ausgelegter Ware der vorletzten Saison, geduldig voranschob. Fast wie bei einem Staatsbegräbnis – ohne das Schoppen natürlich – zog die Bevölkerung an den Grazien vorbei, um noch einen letzten und auch näheren Blick auf sie zu werfen. Ja, so schnell gehts mit der Berühmtheit.  

Nach Ladenschluss, der zwei Stunden später wie gewohnt erfolgte, denn man wollte auch den allerletzten Nachzüglern den Blick auf Grazien und Waren nicht verwehren, kehrte endlich Ruhe ein. 

Alles war wie immer, wenn man mal von dem leichten Algengeruch, der über den Grazien schwebte, absah. Aber selbst der verflüchtigte sich nach ein paar Tagen. 

Das Leben im Ort kehrte in seine normalen Bahnen zurück, bis zu dem Tag, an dem aus heiterem Himmel zwei männliche in elegante Abendanzüge gekleidete Schaufensterpuppen von ihrem Podest im Modehaus Haslinger stiegen und sich auf den Weg zum nächsten Ball machten. 

Aber das ist eine andere Geschichte. 

 

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